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Alt 23.05.2011, 20:22   #39
Stimme der Zeit
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Hallo, Faldi, und Hallo, Eky!

Erich, du warst schneller, deshalb entschuldige, aber ich hatte den Beitrag bezüglich Faldis Kommentar schon fertig.

Also an Falderwald:

Sehr interessant, wie du hier den Entscheidungsprozess schilderst. Sieben Sekunden, zur Kenntnis genommen. Auch die Tatsache, dass laut deinen Überlegungen 90 % der Entscheidungen bewusst unter logischen Aspekten getroffen werden. Nun, das ist zwar auch so, denn du triffst immer eine Wahl - aber nicht mittels deines Bewusstseins, denn das ist nur ein kleiner Teil von dir. Jeder bewussten Entscheidung geht eine Unbewusste voraus, deren Projektion in das Bewusstsein erweckt den Eindruck, sie wäre bewusst. Das ist sie aber erst, seit sie im bewussten Denken angekommen ist, also erst seit diesem Moment des Eintreffens, in dem die bewusste Wahrnehmung eines Gedankens als solcher stattfindet.

Ich möchte auf den Begriff "Entscheidung" gerne näher eingehen, gewissermaßen widme ich ihr diesen Beitrag. Der Proband wusste im Voraus, dass er eine Entscheidung treffen würde. Diese Untersuchung ist meines Erachtens daher ohne echte Beweiskraft, denn: Wie soll überprüft bzw. verglichen werden, welchen Zeitraum eine Entscheidung benötigt, wenn der Proband nichts vorab davon weiß? In diesem Experiment wurde er zu einer Entscheidung (in Form einer Aufgabe) aufgefordert. Die "Rechnung" geht also nicht auf ...

Hier wird, meiner Meinung, von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Denn: Wenn man die falschen Zahlen (eine dem Probanden vorher bekannte, ganz bestimmte Aufgabe) hat, dann mag die Rechenformel an sich stimmen (hier: es gibt den Prozess der Entscheidung), aber es kommt ein falsches Ergebnis dabei heraus. Für mich ist das nicht schlüssig, es sagt mir nicht beweiskräftig, wie lange das Treffen einer Entscheidung tatsächlich braucht - ohne das Vorwissen, wenn sie also als extern unbeeinflusster Prozess stattfinden würde. Dabei ist die Crux, dass man ohne das Informieren des Probanden eben ein solches Experiment überhaupt nicht durchführen kann.

Tatsache ist (für mich), dass wir außer dem Bewusstsein auch noch etwas Anderes haben, nämlich einen extrem leistungsfähigen und blitzschnellen organischen "Supercomputer" in unserem Kopf. Einen Teil davon bezeichnen wir als die Steuerung der biologischen Prozesse, einen Teil als Instinkt, einen Teil als Emotion und einen Teil als "Denken auf der Sub-Ebene" - das Unterbewusstsein. Der allergrößte Teil unseres Denken findet nicht auf bewusster Ebene statt, sondern auf einer der "Ebenen darunter".

Ein Beispiel: Wie steigen wir eine Treppe hoch? Wir setzen einen Fuß vor den anderen. Denken wir dabei bewusst an jeden Schritt, daran, dass wir den Fuß heben und das auch noch in eine ganz bestimmte Höhe? (Die Höhe der Stufen ist hierzulande genormt, aus der Erinnerung heraus wissen wir, welche Abläufe nötig sind, daher steigen wir Treppen ganz automatisch. Betreten wir jedoch eine defekte Rolltreppe, dann bemerken wir den Unterschied, aber schon nach ein, zwei Stufen brauchen wir nicht mehr daran zu denken). Denken wir an die Bewegung jedes einzelnen Muskels, der dafür nötig ist, an die Steigerung der Durchblutung, an die Erhöhung der Puls- und Atemfrequenz, an die biochemischen Vorgänge, die dafür nötig sind, etc. ? Natürlich nicht, denn das würde ja auch bedeuten, dass alle auf der Sub-Ebene ablaufenden Steuerungsprozesse des Körpers bewusst bedacht werden müssten - ein Ding der Unmöglichkeit. Wir würden es nicht einmal schaffen, uns auch nur um die Atmung zu kümmern, in diesem Fall wäre nicht nur das bewusste Denken unmöglich, sondern das Leben an sich ebenfalls. Nein, das alles muss ohne bewusste Denkvorgänge funktionieren. Also haben wir mindestens 2 Denkebenen - ich persönlich neige zu der Behauptung, dass wir sogar auf mehreren Ebenen buchstäblich gleichzeitig denken - aber diese Ebenen dürfen nur indirekten, bzw. keinen unmittelbaren Zugang zueinander haben, sonst würde es nicht funktionieren. Ich sah vor zwei oder drei Jahren eine sehr interessante Dokumentation im Fernsehen, einen Test, bei dem es um den Begriff "Instinkt" ging, also um das sogenannte "Bauchgefühl". Offenbar errechnet unser Supercomputer unabhängig vom Bewusstsein innerhalb von Nanosekunden (vermutlich aber noch weitaus schneller) eine Wahrscheinlichkeit; dabei wird von einer 1:7-Regelung ausgegangen. Logisch, dass wir den Eindruck haben, unser Bauchgefühl, der sogenannte 6. Sinn, habe häufig recht, denn die "Trefferquote" ist hoch. Da unser (bewusstes!) Gedächtnis dazu neigt, Nicht-Zutreffendes zu überspringen bzw. als nicht relevant zu werten, ist die gefühlt-erinnerte Quote natürlich beträchtlich höher - was dazu führt, dass wir den subjektiv korrekten und objektiv irrigen Eindruck haben, unser Instinkt sei etwas, auf das wir uns verlassen können. Genau dieser geistige Mechanismus wiederum ist notwendig, damit wir auf unseren Instinkt im Falle des Falles auch hören - was unser Überleben wahrscheinlicher macht, hier bedingt das Eine das Andere. Das ist eine extrem schnelle Hochleistungsberechnung, die mit Wahrscheinlichkeiten operiert, selbst wenn man alle Computer der Welt "zusammenschalten" würde, könnte diese Leistung und Geschwindigkeit nicht erreicht werden. Und hier handelt es sich nur um ein menschliches Gehirn - Hut ab vor der Natur als "PC-Entwicklerin" ...

Parallel dazu steuert eine weitere Ebene alle biologisch-chemisch-elektrischen Abläufe im menschlichen Organismus, ebenfalls ohne unser bewusstes Denken. Und: Bis jetzt hat die Forschung, abgesehen von der Tatsache, dass unser neurales Netzwerk mittels bioelektrischer Impulse "funktioniert", nicht viel heraus gefunden, und selbst das ist nicht sicher - denn wir denken auf unseren "Sub-Ebenen" schneller, als Elektrizität (der Elektronenstrom) fließen kann. Dazu kommt noch die Komplexität biochemischer Prozesse, ich habe auch, gelinge gesagt, nicht die leiseste Ahnung, was da alles ununterbrochen wirklich vor sich geht. Alle diese Ebenen kommunizieren miteinander, aber auf eine für uns bewusst nicht begreifbare Art und Weise.

Jeder Entscheidung liegt eine extrem komplizierte Wahrscheinlichkeitsberechnung zu Grunde, das Ergebnis wird ins Bewusstsein gesendet - die wirkliche Entscheidung wird nicht bewusst getroffen. Was also ist mit unserem freien Willen? Ganz einfach, wir wählen ja, und das mit einer unglaublichen Effektivität - nur eben nicht in dem kleinen, bewussten Teil unseres Selbst, den wir "Bewusstsein" nennen, und der nur einen Bruchteil der Gesamtkapazität ausmacht. Wir nutzen viel, viel mehr, gar nicht wirklich einzuschätzen, was da auf diesen Ebenen abläuft. Aber : Diese Ebenen, sie sind auch "Wir" - man kann ein Selbst nicht in Stücke teilen wie einen Apfel. Das "ganze bzw. wahre Ich" ist all das, und vielleicht noch mehr, das bislang nur unbekannt und unerforscht ist.

(Ein interessantes, wenn auch empirisch nicht beweisbar, daher rein hypothetisches Zwischenspiel: Es gab sogar eine Überlegung, ob wir vielleicht mit Tachyonen (superluminare Teilchen) denken - also Teilchen, die schneller als das Licht sind, möglicherweise sogar eine "unendliche" Geschwindigkeit erreichen können. Aber das ist nur spekulativ, denn die Existenz von Tachyonen ist bislang nicht bewiesen worden, ihre Existenz kann aber vom experimentiellen Standpunkt aus nicht ausgeschlossen werden - auch im Bezug auf die String-Theorien existieren Modelle, in denen sie eine Rolle spielen.)

Zurück zum Thema Entscheidung.

Was also ging im Gehirn des Autofahrers vor sich, als sein Instinkt, sein 6. Sinn, ihm sagte er solle anhalten?

Sonnenstand, Bewegung, Geschwindigkeit, das Fahren, die körperlichen Eigenschaften des Fahrers (das "Selbst" erfasst sich auch innerlich/äußerlich selbst), die Fahrtstrecke, die Dauer, der Berg, die Struktur des Berghanges, das Wetter, die Eigenschaften des Autos, die Windgeschwindigkeit und ihre Einwirkung auf das Fahrmoment, die Beschaffenheit der Straße ... (diese Liste könnte ellenlang weitergeführt werden, und wäre dennoch kaum vollständig zu erfassen). Alle externen Daten aus der Wahrnehmung unserer Sinne und Empfindungen und deren zeitgleiche Identifizierung und Einordnung in bekannte Muster werden auf der Sub-Ebene erfasst und gespeichert.

Dann kommt noch etwas sehr Wichtiges dazu: Unser Gehirn vergleicht all diesen "Input" in unglaublicher Geschwindigkeit mit sämtlichen bereits bekannten Daten aus der Erinnerung. Also mit jeder Autofahrt, die dieser Mensch jemals gemacht hat, aller Eindrücke, die jeweils dabei erfasst wurden. Alle anderen gespeicherten Informationen, also alles, was über Bergrutsche, das Wetter der letzten Zeit an diesem Ort, an dem die Fahrt stattfindet, alle Informationen, die je aus Fernsehberichten, Zeitungsartikeln, Gesprächen oder sonstigen "Informationsträgern" entnommen wurden; einschließlich des Wetters und dessen Auswirkungen auf das Material, aus dem der Hang besteht, etc. (auch diese Aufzählung kann beinahe endlos fortgesetzt werden). Aus diesem riesigen Datenspeicher (man nennt ihn Erinnerung - aber bitte nicht mit dem kleinen Teil davon, den man bewusste Erinnerung nennt, verwechseln, damit ist die Gesamtheit aller Erinnerungen gemeint). Daraus wird ein Abgleich mit den momentanen "Daten" getroffen und daraus wird eine Wahrscheinlichkeitsberechnung erstellt. Das Ergebnis: Das "Unterbewusstsein" hat aus all diesen Faktoren berechnet, dass eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass ein Bergrutsch stattfinden wird, und nicht nur das - sondern auch den wahrscheinlichsten Zeitpunkt und den wahrscheinlichsten Ort!

Resultat: Eine Warnung des Unterbewusstseins wird ins Bewusstsein gesendet, in diesem Fall mit höchster Dringlichkeitsstufe - Lebensgefahr! Eine unmittelbare, existenzielle Bedrohung, auf die eine unmittelbare Reaktion erfolgt: Der Autofahrer hält an. Das Ergebnis dieser Berechnung ist für die geringe Kapazität des Bewusstseins nicht fassbar, es wäre ihm zu hoch, also erfolgt eine Warnung auf der Gefühlsebene, die immer in engem Kontakt zur bewussten Denkebene steht, es wird eine emotionale Empfindung projiziiert - das Gefühl des "6. Sinns". Das Bewusstsein ist so konstruiert, dass es eine Begründung und eine Nachvollziehbarkeit für Entscheidungen benötigt - für eine solche Übertragung wäre in einem derart akuten Notfall keine Zeit, das bräuchte viel zu lange. Also wird ein dringender, heftiger Impuls übermittelt - dieser braucht keine Erklärung, wir reagieren darauf, ohne nachzudenken oder zu hinterfragen, so sind wir programmiert. Das führt zu einer schnellen, direkten Reaktion, die dem Autofahrer das Leben rettet. Gerettet hat er "sich selbst". Dieser "Programmablauf" ist ein echter, grundlegender Überlebensmechnismus (und sehr effektiv!), denn hierbei ist die Geschwindigkeit alles - und unser Bewusstsein ist (leider) ziemlich "lahm" ...

Um überleben zu können, müssen wir in der Lage sein, in bedrohlichen Situationen extrem schnelle Entscheidungen zu treffen. Keine Zeit, um nachzudenken, es muss gehandelt werden - sofort! Das Potential und die Geschwindigkeit des bewussten Anteils unseres Selbst ist dafür zu gering. In diesem Fall wären wir als Spezies niemals überlebensfähig gewesen, es gäbe uns nicht bzw. nicht mehr.

Ich habe mich hier mit dem Aspekt "Entscheidung" befasst, weil das bereits für sich alleine genommen ein sehr weites Feld ist. Und auch ein überaus faszinierendes und spannendes. Wir Menschen sind, so denke ich, weitaus mehr als gemeinhin angenommen wird - meiner Meinung nach macht das "Bewusste Ich" nur einen Bruchteil des "Ganzen" aus. Also ist unser "wahres Selbst" viel größer und komplexer - es liegt nur (notwendigerweise!) außerhalb unserer bewussten Wahrnehmung. Dennoch nehmen wir es wahr, aber eben auf ganz anderen Ebenen ...

Mein persönliches Fazit aus diesen meinen Überlegungen und Postulationen: Wir sind mehr als nur die Summe unserer "Teile". Das "Selbst" ist mehr als nur das bewusst wahrgenommene Stückchen mit dem Namen "Ich".

Natürlich sind das hier zu einem guten Teil meine eigenen Gedanken, ich behaupte daher nicht, ich hätte unbedingt recht! Ich beschäftige mich nur leidenschaftlich gerne mit einer so interessanten Thematik, denn ich glaube, das Gehirn ist zum Denken da.

In diesem Sinne: Man liest sich, jederzeit und gerne!

Liebe Grüße

Stimme der Zeit
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