Guten Morgen, Thomas,
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Gedicht und Kommentar, mit dem du Dana antwortest, sind sehr mutig und offen. Ich kann eigentlich nichts hinzufügen, außer meinem Ausdruck der Anerkennung.
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ich danke dir meinerseits für deine Anerkennung, da ich mir bewusst bin, dass ich, eben bedingt durch diese "Erfahrung", in vielen Dingen "offener" bin als die meisten anderen Menschen. Nach diesem "Erlebnis" sehe ich vieles aus einer "anderen Perspektive" heraus, für mich hat sich die Relation vieler "Dinge" zueinander grundlegend geändert. Vieles, was andere als "wichtig" erachten, betrachte ich als "unwichtig" und umgekehrt. Dabei bin ich mir ebenfalls bewusst, dass manche meiner persönlichen Ansichten dadurch auf andere unter Umständen beinahe "befremdlich" oder irritierend wirken können (nicht immer, aber manchmal durchaus). Kurz: Mein (inneres) "Bewertungssystem" hat sich verändert. Daher ist für mich manche "Offenheit" selbstverständlich, und so im Grunde genommen nur sehr bedingt "Mut". Das nur zur Erklärung.
Bedauerlich ist das eklatante Missverständnis seitens des Großteils der Menschheit; die allgemeine Annahme dessen, was denn eine Depression
ist. Ich erwarte nicht, dass mein kleiner Beitrag mehr als ein "Hinweis" sein kann, denn von Nichtbetroffenen kann das nicht wirklich "verstanden" werden, sondern bestenfalls auf Basis einer abstrakten Vorstellung heraus "betrachtet" werden.
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Dennoch eine Anmerkung und drei Fragen.
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Gerne.
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Anmerkung: Der Inhalt dieses Gedichtes erfordert die reimlose Form. Es ist ein gutes Beispiel für ein Thema, wo die Reimlosigkeit angebracht ist. Reime würden hier dem Inhalt wiedersprechen. Das Metrum hältst du ein, d.h. du verwendest keine freien Rhythmen.
Frage1: Warum keine freie Rhythmen? Ich könnte mir vorstellen, dass zumindest gegen Ende des Gedichts auch das Metrum 'einschläft'.
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Diese Frage ist für mich am einfachsten zu beantworten. Da diese Antwort mit deiner Anmerkung in engem Zusammenhang steht, gehe ich (gewissermaßen) "zusammen" darauf ein. Ein "freier" Rhythmus bedeutet ja im Grunde "keinen" Rhythmus. Es entsteht ein Eindruck der "Unregelmäßigkeit", und dadurch unwillkürlich auch der einer "Bewegung". Um aber Monotonie und Empfindungslosigkeit darzustellen, benötigte ich einen Rhythmus, und zwar einen möglichst "gleichförmigen", denn das "Abwärts" während einer Depression ist etwas, das "geschieht" und eigentlich keine "Bewegung" im eigentlichen Sinne darstellt. Wobei "Abwärts" ohnehin ein falscher "Begriff" ist, ebenso wie "Rhythmus". Das Problem ist, dass es dafür keine passenden Begriffe gibt. Würde ich solche "erfinden", hätte das auch keinerlei Nutzen, denn außer bei selbst Betroffenen wären sie zwangsläufig "nichtssagend". Daher auch mein "Verzicht" auf Reime, denn, wie du richtig anmerkst, Reime sind zu "lebendig" für eine Thematik, die auf etwas hinzielt, das ich, ebenfalls in Ermangelung eines besseren Begriffs, als "Leblosigkeit" bezeichnen möchte.
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Frage2: Warum verwendest du 'geistiges Eis' nicht im Gedicht? Ich finde Bild und Ausdruck ausgezeichnet!
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Das ist eine gute Frage. Und simpel zu beantworten: Ich arbeitete lange und sorgfältig an diesem Gedicht, aber diese Formulierung fiel mir, als ich es verfasste, schlicht nicht ein. Es war Danas Kommentar, der mich auf die "Idee" dieser Darstellung brachte. Daher also offen eingestanden: Mir gefällt das "Bild" ebenfalls, aber ich kam "zu spät" auf den Gedanken!
Zitat:
Frage3: Wenn schließlich in einem ganz wunschlosen Zustand der 'Wunsch, das Denken möge aufhören' entsteht, dann stelle ich mir das als eine sehr paradoxe Situation vor. Vielleicht ist meine Vorstellung falsch, wenn nicht: Warum ist dann die letzte Zeile ein einfaches Statement, ganz ohne möge, könnte, sollte?
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Der Begriff "Wunsch" wurde von mir ebenfalls "in Ermangelung eines richtigen/besseren verwendet. Zum Einen: Der depressive Zustand an sich ist absolut paradox, glaube mir. Vielleicht sehe ich deshalb Paradoxien mittlerweile auch ein wenig anders an, als ansonsten "üblich". Emotionen sind ein essentieller Bestandteil des menschlichen Wesens, wir empfinden immer etwas, so selbstverständlich, dass wir es überhaupt nicht bemerken. Zur Veranschaulichung: Wenn jemand sagt, er treffe "ganz bewusst" eine "absolut logische" Entscheidung, dann ist das nur teilweise "korrekt". Auch dafür sind Emotionen notwendig, das ist eine Tatsache. Allerdings befinden diese sich "im Hintergrund", so subtil, dass ein "normaler" Mensch sie überhaupt nicht bemerkt. Die "Vernunft" ist die "Basis" der Entscheidung, aber sie benötigt eine Emotion, mittels derer sie "getroffen" wird. (Das ist
wirklich schwer zu vermitteln bzw. zu erklären.)
Warum? Nun, es gibt zwei wichtige Faktoren, die für gewöhnlich nicht "beachtet" werden. Punkt 1: Es muss der
Wunsch vorhanden sein, eine Entscheidung treffen zu
wollen. Man "möchte" eine treffen, und "möchten" ist eine Empfindung. Das Fehlen der notwendigen Botenstoffe im Gehirn und der dadurch fehlende "Wahrnehmungszugang" zu den eigenen Emotionen macht einen depressiv erkrankten Menschen deshalb handlungsunfähig, weil es ihn "entscheidungsunfähig" macht. Selbst das morgendliche Aufstehen bedingt eine "Entscheidung dafür oder dagegen", wenn man es sich genau überlegt. Um es philosophisch auszudrücken: Es fehlt der
Wille - oder, genauer gesagt, er ist da, man "weiß" es, aber er ist unerreichbar. Wie also "lebt" ein Mensch, ohne "Willen"? Ein Depressiver lebt nicht, er
existiert. Das Denken kann nicht "bewusst gelenkt" werden, sondern beginnt sich mehr und mehr "im Kreis" zu drehen, da ein Gedanke durch keine bewusste Entscheidung heraus "abgebrochen" oder in eine andere Richtung gelenkt werden kann, denn dafür bräuchte es einen
Willen. Das ist das Paradoxon, in dem man "gefangen" ist - eine "Gefangenschaft" in sich selbst, es zu "wissen", und absolut nichts dagegen tun zu können, da man "handlungsunfähig" ist. /:
Zitat:
Vielleicht ist meine Vorstellung falsch, wenn nicht: Warum ist dann die letzte Zeile ein einfaches Statement, ganz ohne möge, könnte, sollte?
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Im letzten "Stadium" einer solchen Depression gibt es kein "möge", kein "sollte" und deshalb auch kein "könnte". Es ist auch kein "Aufgeben", keine "Verzweiflung" und kein "Wunsch", der einen Depressiven an den Tod denken lässt, sondern etwas, das ich ein "Versinken in völliger Sinnlosigkeit" nennen möchte. Ein "Dasein" als bloße "Existenz" erscheint in diesem Zustand "absolut sinnlos", denn es ist "kein Leben", bzw. wird nicht als solches wahrgenommen. Hinzu kommt: Auch der "instinktive Überlebenswille", der uns (und allen Lebewesen) zu eigen ist, fällt als Letztes
ebenfalls weg, das darf als Tatsache nicht vergessen werden! Weshalb leben, wenn das Leben kein Leben ist und wenn der
Lebenswille schlicht nicht mehr "vorhanden" ist?
Es ist nicht so, als ob "Schmerz oder Leid" überwältigen würden (sie sind nicht
vorhanden), sondern das, was uns "am Leben sein lässt", der
Wille, zu leben, fehlt einfach. Das hat sogar mit "Aufgabe" oder "Resignation" nichts zu tun.
Deshalb ein einfaches Statement, weil der Depressive gar keine bewusste Entscheidung trifft, sterben zu
wollen. Er
lässt es "geschehen", weil nichts
"vorhanden" ist, das ihn "abhalten" könnte ...
Es wird kein "aktiver" Suizid begangen, lieber Thomas. Diese Menschen bleiben einfach im Bett liegen und warten auf den Tod. Selbst die elementaren Bedürfnisse des Körpers können diese völlige "Apathie" nicht mehr "durchdringen".
Das Problem mit einer Depression ist, dass dieser "Nadir" nur von Menschen erreicht werden kann, deren "Willenskraft" eigentlich sehr stark ist - erneut ein "Paradoxon". Denn sie können
jahrelang dagegen "ankämpfen", den Krankheitsverlauf "verlangsamen", die "Außenwelt" lange über ihren wahren Zustand hinwegtäuschen, bevor dann der "Point of no return" erreicht wird. Die meisten Erkrankten kapitulieren bereits lange vorher, in einem Stadium, in dem sie noch zu der Handlung einer "aktiven Beendigung" fähig sind, also noch einige "Empfindungen" vorhanden sind.
Depressive Menschen "frieren" ständig, selbst bei hohen Außentemperaturen. Die "innere Leere" ist kalt, was sich sogar körperlich "spiegelt". Das allerdings fällt im "letzten Stadium" ebenfalls "weg", also auch die körperlichen Empfindungen werden auf einer extrem "distanzierten Ebene" nur mehr "am Rande" wahrgenommen. Sie werden wahrgenommen, da der Körper ein "Gefäß" ist, das von der Natur her "automatisch", rein "vegetativ" Maßnahmen zum "physischen Überleben" ergreift. Die körperlichen Empfindungen gehen "zu aller Letzt" und nicht "völlig" verloren.
Ein Depressiver befindet sich in einem für Nicht-Betroffene unvorstellbaren Zustand
absoluter Isolation, das geht weit über den Begriff Einsamkeit hinaus. Nicht nur, dass er
extern von nichts mehr berührt wird, er
"berührt sich selbst nicht mehr". Auch das ist schwer zu erklären. Daraus entstand auch meine (persönliche) Definition der Begriffe "Ich" und "Selbst". Ein "nacktes" Bewusstsein, das vollkommen "isoliert" vom sonstigen "Selbst" ist, es kann nichts berühren und wird von nichts berührt. Daher verstehe ich unter "Ich" und "Selbst" etwas anderes als "gewöhnlich" darunter verstanden wird. Ein Mensch ist ein "Selbst", das "Ich" allein ist - so gut wie "nichts". Das "Bewusstsein" ist nur etwas, das ich einen "Aspekt des wirklichen Selbsts" nennen möchte. Es kann für sich alleine nicht "sein", denn "Existenz" ist kein "Leben", nicht wirklich. Der Mensch ist die Summe all seiner Teile, und das Bewusstsein, das "Ich" genannt wird, ist eben nur ein einziger Teil des Ganzen. Für sich alleine nicht lebenfähig. Daher habe ich kein Verständnis für Menschen, die "Emotionslosigkeit" als etwas "Erstrebenswertes" erachten - sie haben ja
keine Ahnung, wovon sie da reden! Von der
Negation ihres Selbst ...
Ein weiterer Fakt: Depressive sind in keinerlei Hinsicht "unzurechnungsfähig" oder "geistig verwirrt", obwohl man häufig auch diesem "Vorurteil" begegnet, da es in "Unkenntnis der Sachlage" mit anderen psychischen Erkrankungen "gleichgesetzt" wird. Ein Depressiver hört keine "Stimmen in seinem Kopf" und er glaubt auch nicht von sich, der "Erzengel Gabriel" zu sein ...
Zitat:
Das Gedicht halte ich für gut gelungen. Es vermittelt den Zugang zu einer mir unbekannten Denk- und Gefühlswelt.
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Genau
das wollte ich erreichen. Vielleicht begegnen durch mein Gedicht nur eine "Handvoll" Menschen depressiv erkrankten Menschen mit einer veränderten Sichtweise, aber das ist mir genug.
Danke für dein Interesse, für deine Gedanken darüber und deine Fragen, die ich sehr gerne beantwortet habe.
Liebe Grüße
Stimme