Thema: Hermetisch
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Alt 02.06.2022, 12:52   #9
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heimkehrerin
 
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Huhu, servus...nach langer Zeit mal wieder da um ein wenig an der Küste des Eilands in Lyrik einzutauchen und da bin ich bei deinem Gedicht gestrandet - äh, gelandet -, lieber Erich, und habe mich gleich wohlgefühlt.

Du stellst - textlich gekonnt, wie immer - aif den ersten Blick zwei Arten der Liebe einander entgegen bzw. den unterschiedlichen Gebrauch des Wortes Liebe in den Mittelpunkt. Hier die Liebe zwischen zwei Menschen, die Verbundenheit auch auf der seelisch-geistigen Ebene meint und dort die Liebe, die den rein körperlichen, leidenschaftlichen Akt meint.

Verbundenheit ist aber auch dabei vorhanden und das eigentliche Thema des Gedichts - und das ist auf sehr erotische Art gelungen,, wie ich finde. Die Leidenschaft, die dabei im Vordergrund steht, wird ja bei zu (gezwungen?)"rücksichtsvollem" oder "bedachtem" Sex nicht selten das Opfer von zu viel Verkopftheit oder Kuschel-Stimmung. Nicht, dass die (gewollt) kuschelige Form des Aktes schlechter wäre oder weniger Qualitäten hätte - es ist eine andere Spielart von Sex und was sich alles als Rein- oder Mischformen zwischen Kuschel und Hart bewegt, ist (sofern einvernehmlich) zulässig, stimmig und so verschieden wie die Menschen menschlich sind. Letztlich geht es doch beim Akt immer um eine Begegnung - mit einem Gegenüber aber auch sich selbst.

So, wie ich den Text lese, spricht das LI hier laut über die eigene innere Beziehungslandschaft, wenn es um Liebe in Verbindung mit Lust und Erotik geht - auch um vielleicht sich selbst davon zu überzeugen, dass alles gut ist, wie es ist. Da ist von der rein animalischen Seite der Liebe die Rede und es heißt...

Zitat:
willst du diesen Urinstinkt vergessen,
verdränge dein Zutiefstes und verlier es.
Ob ein Gegenüber mit diesem "Zutiefsten" umgehen kann oder nicht, wird für das LI (so hofft es) erst gar nicht zum Problem oder Thema, wenn es "lieblos" in diese Begegnungen geht. Aus meiner Sicht ist es ein Geschenk, wenn mein Gegenüber das Vertrauen hat, sich mir auch von dieser Seite zu zeigen. Aber das sieht nicht jeder so - ich weiß. Dass das LI dennoch dieses Problem eines möglicherweise verletzten Gegenübers wahrnimmt, sagt mir die Zeile

Zitat:
und muss ich hinterher auch dafür bluten
.

Da lese ich dann doch den Funken einer - wenn auch vielleicht nur kurzen - Wahrnehmung eines Gegenübers in dessen Befindlichkeit. Auch, wenn es wohl in erster Linie die Folgen aus dessen Reaktionen sind, unter denen LI dann doch leidet.

Dem setzt LI trotzig entgegen, dass es

Zitat:
vermag nur wahr zu lieben,
was ich nicht haben will und nicht begehre,
denn einzig in der liebelosen Leere
der Lust ist mir Erfüllung je geblieben.
Besser kann man diese Form von innerem Zweispalt nicht in ein Gedicht fassen, wie ich finde.
Haben Wollen und Begehren (ich finde die bindestrichlose Schreibung übrigens super und sie war längst überfällig) bedeuten nämlich auch eine gefühlsmäßige Beteiligung - die widerum kann Angst machen. Angst vor Nähe, vor Verantwortung für noch jemanden außer einem selbst, vor Kontrollverlust (die eigenen Gefühle kriegt man schon irgendwie in den Griff, die des Gegenübers hat man nicht unter Kontrolle), vielleicht auch vor Veränderung allgemein - eine Beziehung bringt ja immerhin eine zweite Dynamik außer der eigenen mit ins Spiel. Und die Garantie, dass man sich in allem zu jeder Zeit einig wird, gibt es nicht.

Vielleicht funktioniert die "Lust in der liebelosen Leere" - was für eine geniale Umschreibung für Sich Fallen Lassen! - für manche ja nur so.
Vielleicht beschreibt das Gedicht aber auch - quasi en passant - eine Momentaufnahme, wie sie in vielen gelungenen Akten so gemacht werden könnte: den Moment, wo man sich nah dem Höhepunkt ganz im Akt und im Anderen fallenlässt und sich der eigenen Lust hingibt und alles rund um einen selbst ausgeblendet wird. Wo - hart ausgedrückt - der Andere für mehrere Augenblicke kein Thema ist, bestenfalls das Instrument zur Erfüllung der Lust, wenn auch auf einem gemeinsamen Weg dort hin und (im Idealfall) von dort auch wieder weg.

Die tragischere Lesart ist natürlich auch möglich - ein beziehungsunfähiges LI, das sich dazu trainiert (hat), Nähe nicht aufkommen zu lassen, um Lust empfinden und ausleben zu können.

Zitat:
Doch habe ich mich stets daheim gefunden
im puren, rein erotischen Gebrauchen,
im sinnlich nackten Ineinandertauchen,
von keinen Achtsamkeiten eingebunden.

Im Rausch, den nur die Sinne uns diktieren,
er reißt mich fort für selige Minuten,
lässt mich jedoch meiner ursprünglichen Interpretation folgen.
Das "nackte Ineinandertauchen" hat als eine mögliche Lesart auch etwas Zärtliches, Verletzliches an sich.
Das mit dem Hermetischen klappt wohl doch nicht so ganz wie LI das gerne wahrhaben möchte.

Schön, dass der Text das ermöglicht und nichts ausschließt oder konkreter auflöst! Food for Thought - das mag ich! Sehr sehr gerne gelesen, lieber Erich!


LG,
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"Du musst, wenn du unser Glück beschreiben willst,
ganz viele kleine Punkte machen wie Seurat.
Und dass es Glück war, wird man erst aus der Distanz sehen.”

― Peter Stamm, Agnes

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