Thema: Fragen
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Alt 15.12.2011, 10:57   #4
Stimme der Zeit
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Hallo, liebe fee,

ich finde, dieser Text ist wirklich gut gemacht. Ein Dialog - der eigentlich keiner ist. Hier handelt es sich um einen Erwachsenen und ein Kind, das aus Neugier beginnt, Fragen zu stellen. Es kann sich um Mutter/Kind, Vater/Kind, oder um ein Großelternteil mit Enkel handeln - das bleibt hier "offen". Was bereits den ersten gelungenen Bestandteil darstellt.

Alles beginnt ganz "harmlos", das Kind bekommt einen "Feldstecher" in die Hand und die erwachsene Person weist es darauf hin, damit vorsichtig umzugehen. Es kommt aber gleichzeitig auch schon der "Vergangenheitsbezug" ins Spiel, durch den Hinweis, dass dieser dem Ururgroßvater gehörte - offenbar also ein "Familienerbstück". In Familien werden nicht nur Gegenstände vererbt, sondern häufig auch "Geschichten". Dem wird meist ein besonderer Wert beigemessen. (Wobei: Auch "Verhaltens- und Denkmuster" können sich durch die "Generationen ziehen".)

Das Kind stellt eine weitere, immer noch ganz harmlose Neugierfrage, wie alt der Feldstecher wohl ist.

Sehr interessant ist die weitere "Entwicklung" des Dialogs, in dem die Worte des Kindes sozusagen "unsichtbar" bleiben. Ausgesprochen wichtig ist die letzte Zeile:

Zitat:
"Ich weiß es nicht. Ich weiß nur: keiner soll etwas Schlimmes allein aushalten müssen."
Dadurch eröffnen sich ganz andere Sichtweisen, was den Inhalt betrifft - und zugleich erklärt sich auch der verborgene Sinn. Das LI spricht hier (unbewusst) von sich selbst.

Auf der einen Seite ist es so, dass das erzählende LI offenbar als Kind selbst Fragen hatte, aber da in der Familie über "traurige Dinge" nicht gesprochen wurde, wagte es nicht zu fragen - und erhielt daher auch keine Antworten.

Nun weist das LI besonders nachdrücklich darauf hin, dass es wichtig ist, Fragen zu stellen, ja, das Kind wird dazu aufgefordert. Und zwar - um "Kummer und Sorgen" zu teilen und sie so nicht "alleine tragen" zu müssen.

Jetzt kommt der "diffizile" Charakter des Ganzen ins Spiel. Das Kind hatte weder Kummer noch Sorgen - bevor es jetzt, gerade aufgrund des Erzählten, sehr wahrscheinlich welche - hat.

Auf der anderen Seite ist es das LI selbst, das sich hier ganz eindeutig "selbst den Kummer von der Seele redet" - und, ohne es zu merken, das Kind damit belastet. Während es gleichzeitig sagt: "Versprich mir, dass du fragst." Das LI litt als Kind, meint es also gut, verursacht aber dadurch dem hier anwesenden Kind wiederum Leid - und ich frage mich, ob nicht genau das die wirkliche "Familiengeschichte" ist, um die es hier geht.

Hier ist es ein erwachsener Mensch, der seine eigenen Probleme zu bewältigen sucht - und das Kind ist in genau der gleichen "hilf- und sprachlosen" Situation wie er selbst als Kind.

Ich kann mir richtig gut vorstellen, wie sich das durch die Generationen zieht. Und es lässt mich auch überlegen, wie dem entgegengewirkt werden könnte, denn hier in der "Geschichte" werde ich das vertrackte Gefühl nicht los, als ob "Beides" falsch wäre ...
Das Schweigen kann genauso belastend sein wie das Reden. Irgendwie gewinne ich den Eindruck, als ob das hier ein "nicht auflösbares Problem" darstellt.

Denn eigentlich gibt es ja nur: Schweigen oder Reden. Da gibt es keine Möglichkeit "dazwischen".

Wenn die Lösung des "Problems" also nicht im Problem gefunden werden kann, muss nach einer Lösung außerhalb des Problems gesucht werden. Wenn ich darüber nachdenke, bietet sich lediglich ein psychologisches Moment an: Die Gegenüberstellung vom Positiven - um dem Negativen die alleinige "Gewichtung" zu nehmen und so ein "emotionales Gleichgewicht" zu erzielen - nicht optimal, aber hier wohl die einzige alternative Möglichkeit.

Hier wird über die "negative" Vergangenheit, über Krieg, Angst, Kummer, Sorgen und ein Gefühl des "Alleingelassenseins" berichtet, aber es fehlen die "positiven" Seiten, die es in der "Familienvergangenheit" sicher auch gegeben hat. Es fehlt also das "Gleichgewicht". Das resultiert daraus, dass das erzählende LI selbst keines besitzt. Also wäre es, meiner Ansicht nach, erforderlich, dass dieses Problem erst mal als solches erkannt wird, denn, wie das Sprichwort sagt: Problem erkannt - Problem gebannt. Das ist häufig wirklich so.

Ein dickes Lob von mir, die Problematik ist hier sehr gut dargestellt!

Formal kann ich nicht viel beitragen, da ich in Sachen Prosa nicht sehr "bewandert" bin, aber ein paar kleine Stellen fielen mir auf:

Zitat:
"Nein, du hast ihn nicht mehr kennengelernt als Baby und kannst dich nur nicht - so, wie bei Großmutter - an ihn erinnern, weil du noch zu klein warst.
Wenn das heutige Kind ihn nicht mehr kennengelernt hat, kann es sich automatisch auch nicht mehr erinnern - verstehst du, was ich meine? Hier wäre es richtiger, wenn es ungefähr so formuliert würde:

"Nein, du kannst dich nur nicht - so, wie bei Großmutter - an ihn erinnern, weil du dafür zu klein warst. Du hast ihn zwar kennengelernt, aber da warst du noch ein Baby."

Zitat:
Er wurde zwar stolze zweinundneunzig Jahre alt, doch er starb dennoch gute zwanzig Jahre bevor du geboren wurdest."
Hier würde ich entweder das "doch" durch ein "aber" oder das "dennoch" durch das Synonym "trotzdem" ersetzen. Für mich klingt "doch er starb dennoch" nicht so gut. Das ist zwar grammatikalisch und auch vom Bedeutungsinhalt her nicht falsch, aber - nichts für ungut? - ich würde mich so nicht ausdrücken. Es "klingt" lyrisch - aber hier handelt es sich ja um eine "ganz normale Unterhaltung" mit einem Kind; diese Formulierung fällt ein wenig aus dem "Sprachmuster" heraus, das ansonsten gewollt "einfach" ist. (Ich würde das den "Gedichte-Effekt" nennen, von dem ich mir absolut nicht "freisprechen" kann. Hm - irgendwann fange ich sicher an, in Reimen zu denken. Wäre das schon bedenklich? )

Ich habe diesen "indirekten" Dialog (mir fällt gerade kein passender Begriff ein, wie ich das ansonsten benennen sollte) wirklich sehr gerne gelesen und ebenso gerne darüber nachgedacht.

Liebe Grüße

Stimme
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