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Alt 05.12.2014, 20:35   #88
Terrapin
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Dies ist wohl eines der schönsten deutschen Gedichte. Ein Meisterwerk, das der junge Kalckreuth schon in solch zartem Alter schrieb.
Man staune wie er diese sehr sehr fordernde Form beherrschte und trotz der vielen gleichen Reime nie die Aussage vernachlässigte. Grandios und unübertroffen.



Der Abendhorizont vergangner Stunden,
der zitternd mein ermüdet Auge bannt,
rankt seine weißen Blüten, zartgewunden,
aufhellend, um das traumbetaute Land.
Und liliengleich sprießt alles, was entschwand,
als ob ein fremder Hauch es aufwärts triebe -
und zitternd flimmern durch die Nebelwand
der Stern der Sehnsucht und der blassen Liebe.

Wie Weihrauchduft durch fern Gewölb empfunden
hat sich ein Schleier über ihn gespannt,
das fast dem weiten Äther er entschwunden,
in dem er leise knisternd aufgebrannt.
Es ist, als ob auf lieblichem Gewand
gestreifter Blumen Goldstaub haften bliebe.
So hingeweht perlt er am Himmelsrand,
der Stern der Sehnsucht und der blassen Liebe.

Ein Dunkel ohne Morgen deckt die Wunden,
die ich betastet mit entweihter Hand,
und deren Schmerz so köstlich ich erfunden,
so oft die Sterne scheidend sich gewandt.
Doch wie ein silbern, windentwehtes Band
hält mich der Strahl, ob alles auch zerstiebe,
und zaubert über Flut und weißen Strand
den Stern der Sehnsucht und der blassen Liebe.

Du, Liebste, hast allein mein Herz gekannt;
und wann der Zukunft Machtwort es zerriebe,
stets strahlt mir, ein entwichner Diamant,
der Stern der Sehnsucht und der blassen Liebe.

Wolf von Kalckreuth
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