Thema: Styliten
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Alt 11.07.2018, 09:48   #5
Erich Kykal
TENEBRAE
 
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Hi Chavi!

Vielen Dank für das Echo!

Wir sind immer Spiegel unserer Kultur, und jede Kultur definiert sich in ethischen, moralischen oder religös indoktrinativen Grundsätzen, sog. Dogmen, die eine bestimmte Auffassung von Gesellschaft und Zusammenleben definieren.

Ein Beispiel: Ein Forscher des 19. Jhdts (Name tut nichts zur Sache) erboste sich in seinem Bericht über das "tierische" Verhalten eines Eingeborenenstammes, im Beisein ihrer Kinder Sex zu haben: Sie völlzögen den ehelichen Beischlaf, während ihre Kinder daneben lägen, noch nicht einmal schlafend. Diesen "offenkundige Mangel an guten Sitten" nahm er als Beweis für ihre geistige Primitivität und empfahl die raschest mögliche Entsendung von Missionaren.

Er dachte natürlich nicht daran, dass es in Europa noch vor ein paar tausend Jahren nicht anders gewesen war: Eigene Räume für Kinder oder Gesinde waren Luxus für Herrscher und die wenigen Reichen! Für alle anderen galt: Mit Familie und Vieh in einem Raum zu schlafen, schon um Heizmaterial zu sparen!
Die einfachen Hütten der Ureuropäer hatten keine Unterteilungen. Die Wikinger lebten in Langhäusern, mehrere Familien zusammen. An Königshöfen war es bis ins Frühmittelalter sogar selbstverständlich, dass der König sein "Geschäft" öffentlich, im Beisein des Hofstaates, verrichtete. Selbst der Sonnenkönig Ludwig der Vierzehnte tat dies noch, um "verdienten Höflingen" die Ehre zukommen zulassen, ihm beim Scheißen zusehen zu dürfen!
Und NATÜRLICH hatten die Lebenspartner ganz NATÜRLICH Sex im Beisein ihrer Kinder, die auch gar nichts daran fanden - für sie war es nur der Beweis, dass ihre Eltern sich noch lieb hatten. Es störte sie weder beim Einschlafen noch hinsichtlich "sittlicher" Belange. Was selbstverständlich ist, weil man damit aufwächst, ist eben kein Pfuibäh.

Aber ich schweife ab.

Worauf ich hinaus will: wir definieren uns über das, womit wir aufwachsen. Mit einer objektivierbaren Realität hat das oft genug nichts zu tun (siehe zB. religiöse Regeln und Rituale aller Art, sinnlose Verrichtungen, die nur sozialen Kitt darstellen, Selbstdefinition unterstützen usw ...), wir bauen unsere "Welten" mehr nach innen als in die Wirklichkeit hinein.
Wir jagen lebenslänglich das weiße Kaninchen unserer Vostellungswelten - wie anders wäre ein so selbstverleugnender, ja krankhaft weltverleugnender Lebensstil wie der eines Eremiten oder gar Styliten sonst überhaupt denkbar oder für denjenigen erträglich?

Nicht die tatsächliche Faktenlage des Universums definiert uns - nein, es sind unsere Innenwelten. Das wirklich Existente wird, wenn passend, nahtlos eingefügt, wenn nicht passend, eben passend gemacht durch Verleugnung, Fehlinformation, Umdeutung, Zwangsdoktrin usw ... Das findet in einzelnen Köpfen statt wie auch in ganzen Gesellschaften. Beispiel: Wenn man einst behauptete, die Erde wäre NICHT das Zenrum des Universums, widersprach man der "göttlichen" Ordnung und riskierte eine Lebendfeuerbestattung!
Selbst als der Beweis längst erbracht war, dass die Erde nicht das gottgewollte Zentrum aller Dinge war, widerstrebten viele noch jahrzehntelang (oder länger) dieser Vorstellung und taten alles, um ihre "Wirklichkeit" durch Rufmord an den geistigen Widersachern wieder herzustellen.
Oder die Erklärung der bibeltreuen amerikanischen Erzchristen unserer Tage (für die Welt ja nicht älter sein kann als so um die 6000 Jahre - laut Bibel!) für versteinerte Dinosaurierknochen: Gott habe den Stein so geformt, um "die Gläubigen so zu prüfen"! Niedlich.

In diesem Zusammenhang fällt mir immer wieder diese Stelle aus Goethe's Faust ein, wo der von Faust beschworene Geist der Natur diesem eröffnet, dass er ihn niemals würde erfassen können, ihm niemals gleich sein könne. Faust ruft verzweifelt: "Nicht gleichen? Ich, Ebenbild Gottes, und nicht einmal dir!?" - und der Geist antwortet: "Du gleichst dem Geist, den du begreifst - nicht mir."
Selten steckte je so viel Weisheit in so wenigen Worten ...

So leben wir eben - als einzelne Menschen oder ganze Kulturen - auf unseren sebstgemauerten Säulen und starren freiwillig blind in die ferne Welt - nur dem inneren Weltbild verschworen, einer selbsterdachten Vaterfigur willig dienen wollend oder nur dem, von dessen Richtigkeit wir überzeugt sein möchten, selbst- und realitätsverleugnend, weil gelten muss, was gelten soll. Selbstauferlegte unvernünftige Beschränkungen scheinen wir zu brauchen, um funktionieren zu können. So sind die Menschen, und mein Gedicht sollte diesen Wesenszug vermittels des Stylitenbildes erfassen.

LG, eKy
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen.
Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen!
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Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt.
Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit.

Geändert von Erich Kykal (12.07.2018 um 10:12 Uhr)
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