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Alt 30.03.2017, 17:16   #9
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heimkehrerin
 
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Ich sehe das etwas differenzierter - vermutlich, weil ich Kunsterziehung studiert habe und seit ich mich auch noch mit Lyrik beschäftige, viele Parallelen zwischen Wort- und Bildkunst sehe. Sowohl in deren Wirkungsweisen als auch den Mitteln und Techniken zu deren Erzeugung.

Ich denke nicht, dass ein Gedicht nur dann "gut" ist, wenn es "sangbar" ist. Und meiner Meinung nach darf sich auch "Poesie mit rhetorischem Anstrich" (oder auch das Umgekehrte) zur Lyrik zählen.
Konzeptkunst ist auch nicht per se "schlecht", weil sie sich dem Betrachter ohne Zusatzinformation nicht komplett oder leicht erschließt. Und wer sagt, dass immer alles "geglättet" und "gefällig" daherkommen muss um zu "berühren". Ja, die Berührung fühlt sich dann definitiv anders an als bei einem lieblichen, runden (vorzugsweise gegenständlichen) Gemälde mit leicht zugänglichem Inhalt (dasselbe gilt für Gedichte, die quasi "geschriebene Gemälde" sind) - aber auch wenn sie mehr im Intellektuellen ankert als im Sentimentalen, ist sie deshalb nicht weniger wertvoll als Berührung.

So wie eben manche eher Kopfmenschen sind und andere ihrem Bauchgefühl den Vorrang geben. Beides ist gleichermaßen richtig und wichtig.
Warum sollte es also deshalb nicht auch Lyrik für beide Rezensenten-Gemüter geben? In der bildenden Kunst klappt das ja auch. Und auch dort halte ich von Vergleichen und versuchten Wertungen wenig.

Schlecht Gemachtes, Kitsch und oberflächliches Gehabe anstatt Gehalt findet man in allen Sparten gleichermaßen. Ebenso wie Gelungenes (und das halte auch ich für eher rar und bin da ebenfalls der Meinung: wenn es vom Künstler nicht gefühlt wurde und dem Ablauf des "Kopf-Herz-Hand" folgt, kann es nicht authentisch sein und daher auch nicht berühren. Und das setze ich gleichermaßen für alle Kunstrichtungen an).

Jegliches Kunstwerk, das hier und jetzt gestaltet wird (ob schriftlich oder bildlich), ist immer ein Spiegel seiner Zeit - oder sollte es sein.
Heute noch einen "waschechten Goethe" rauszuhauen, verleugnet völlig die Zeit, in der wir leben und wird daher immer eigenartig berühren. Egal, wie technisch perfekt es gemacht ist. Die röhrenden Hirsche, in akademischem Stil gemalt, mit Öl und (künstlicher) Krakelüre entlarvt man ja auch eindeutig als irgendwie "unecht", oder? Anders verhält es sich bei den modernen Klassikern - diese heute noch in Anleihen in zeitgenössischen Werken zu finden, zeigt, dass die kulturellen Wurzeln, aus denen jede Stilepoche entwächst, noch weiterwirken. Wer weiß, wie Lyrik im 22. Jahrhundert aussehen wird...
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