Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 25.12.2011, 22:27   #2
Stimme der Zeit
Erfahrener Eiland-Dichter
 
Benutzerbild von Stimme der Zeit
 
Registriert seit: 15.03.2011
Ort: Stuttgart
Beiträge: 1.836
Standard

Hallo, Faldi,

mich freut es wirklich, sehr sogar, wieder ein Gedicht von dir zu lesen - ich stürze mich also gleich darauf.

(Ja, gleich gemerkt, ich komme später darauf zurück.)

Zitat:
Man schaffe eine heilige Legende,
dazu ein unbeweisbares Phantom,
zerbreche jeder Wahrheit Widerstände,
dann zeigt sich unabdingbar das Symptom
gefalteter, erkrankter Büßerhände
am Peters- wie an jedem andren Dom.
Man sah Millionen dieser stark Verwirrten,
wie sie im Büßerwahn herum dort irrten.
Ja, Legenden, Mythen und Märchen. Nicht vergessen: Nicht unter einer Leiter hindurchgehen, darauf achten, dass keine schwarze Katze von links kommt und den Weg kreuzt, und auf keinen Fall Salz verschütten oder einen Spiegel zerbrechen! Wer es lieber positiver mag, kann nach Island fahren, wo Straßen um Elfenhügel herumgebaut werden (geht man selbst darum herum, taucht eine Elfenkönigin auf, die, falls sie gerade zufällig gute Laune hat, einen Wunsch erfüllt) oder eine Münze in einen Wunschbrunnen werfen. Ach ja, an Silvester bitte daran denken, einen angebissenen Apfel unters Kopfkissen zu legen - falls hier noch weibliche Singles auf der Suche sein sollten, der "Zukünftige" erscheint dann im Traum. Wenn nicht, wurde sicher zu viel oder zu wenig abgebissen.

Ach, Faldi - Jacke wie Hose. Aberglaube ist Aberglaube und scheint einfach unheilbar zu sein. Ich sehe mir das nicht an, und würde es mir auch dann nicht ansehen, wenn ich einen Fernseher hätte. Ihr Schäflein, versammelt euch. Nicht zu fassen: Es ist die größte Schafherde der Welt - 1,1 Milliarden Katholiken, nur als Beispiel. Überall die Hirten, beim Hüten ihrer Schafe; stimmt, nicht nur am Petersdom im Vatikan. Weihnachten sind die Kirchen voll. Bigotterie, verpackt in flauschiger Weihnachtswolle.

Zitat:
Der Oberpopanz spricht den Weihnachtssegen,
die Ehrfurchtsvollen fallen auf die Knie,
die Pfaffen, die verlogenen Kollegen,
verharren andachtsvoll in Apathie,
der Philosoph jedoch erstarrt hingegen
vor so viel Geist kurz vor der Agonie
und denkt, ihm wird es den Verstand nicht rauben
beim Totentanz um einen Aberglauben.
Nun ja, es ist nachgewiesen, was "religiöse Ekstase" tatsächlich für eine Empfindung ist. Das fühlt sich einfach zu gut an, und deshalb möchten die Gläubigen das gerne immer wieder haben. Ich weiß nicht - einfacher ginge es auch.
Und mach dir keine Sorgen, weshalb sollte der "Geist" noch Appetit auf Philosophen haben? Er ist doch sicher schon satt, bei so viel Verstand, den er bereits geraubt hat. Da passt sicher kein Krümelchen mehr rein. Jedenfalls an Weihnachten.

Zitat:
Sie laden ein zur Jenseitsgötterrunde,
in einem lächerlichen Ritual
zu Kerzenschein gedämpfter Geisterstunde
erfahren Sünder von der Höllenqual,
doch schließlich sei man ja mit Gott im Bunde
und so erscheint die Welt mit einem Mal
durch eine rosa Metaphysikbrille,
denn alles, alles ist ja Gottes Wille.
Also dieses Jahr war's ja etwas früher, aus Rücksichtnahme auf die betagte Leitfigur. Wieso muss ich da eigentlich immer an ein goldenes Kalb denken? Hm.
Immer wieder lustig: Alles ist Gottes Wille. Aber Gottes Wege sind unergründlich. Wenn Gott also nicht verstanden werden kann, dann kann ein Mensch auch dessen Willen nicht verstehen. Davon ist aber dauernd die Rede. Das verstehe ich nicht, aber es erheitert mich, genauso wie das Kamel, das durch ein Nadelöhr soll oder das Rätsel im AT: Kain verließ das Land, und zog in ein anderes, nach Nod. Dort wurde "seine Frau" schwanger - wo kam die denn her? Wenn er eine Schwester mitnahm - also bitte, Inzest? Wen heirateten eigentlich die Kinder von Adam und Eva, wenn es sonst "niemanden" gab als die Geschwister? Hm.
Da hilft die rosa Brile auch. Dann sieht man das einfach gar nicht, so schön rosa gefärbt, wie alles ist.

Zitat:
Das ist so einfach, ja du kannst es sehen,
voll ungeklärter Wunder ist die Welt,
selbst einen Toten lässt man auferstehen,
von einer Jungfrau einst bereit gestellt,
du brauchst dir die Erlösung nur erflehen,
zur Not hilft auch ein kleines Spendengeld,
dann wird, egal was du auch tust im Leben,
mit Urbi et mit Orbi alle Schuld vergeben.
Also die antiken Götter konnten das auch. Sie hatten nur nicht so viel Lust dazu. Und es gab ein paar Unterschiede in den "Methoden", denn je nachdem "funktionierte" das anders. Hellenismus, Platonismus, Gnostizismus, Zarathustrismus (was für ein Wort!), in der jüdischen Religion ...
Christentum und Islam sind nur die "Neuesten". Wobei Martin Luther (hatte er eigentlich ein Haustier?) von der "leiblichen" Wiederauferstehung der Tiere überzeugt war. Also ich würde sagen, dann muss das auch für Insekten, Fische, Pflanzen, Bakterien etc. gelten. Mal ehrlich - wenn also alle Lebewesen, die jemals gestorben sind, "im Fleische" wiederauferstehen - moi! Die haben ja gar keinen Platz, das wäre die ultimative Überfüllung! Und ich will keinen Tyrannosaurus Rex im Garten!

Und was die "Jungfrau" betrifft, da ist mittlerweile doch gut bekannt, dass sowohl dieser Mythos als auch die vielen "Heiligen" nur von der Kirche "geschaffen" wurden, um den "heidnischen Äquivalenten" das "Wasser abzugraben" und erfolgreicher "bekehren" zu können. Hat alles Entsprechungen in früheren polytheistischen Religionen. Maria als Beispiel: Der "Ursprung" liegt in der heidnischen (<- so vorgefunden), vorchristlichen Verehrung der Himmelsköniginnen (du meine Güte, wie einfallslos, sogar die Bezeichnung wurde kopiert) Griechenlands, Roms und des Mittelmeerraums: Diese waren "austauschbar" (aha, dann war das mit Maria ja auch einfach zu bewerkstelligen); es gab Göttinnen namens Artemis, Astarte, Celeste, Ceres, Cybele, Demeter, Diana, Ischtar, Isis und Selene.

Urbi et orbi - der Stadt und dem Erdkreis. Ja, für bibelfeste Christen ist die eine Scheibe. Es gibt sogar Bilder, auf denen sie nicht einmal rund ist, es gibt sie auf Wunsch auch als "Kiste", sieht jedenfalls so aus:

ht tp://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f6/Cosmas_Indicopleustes_-_Topographia_Christiana_1.jpg (Leerzeichen entfernen - oder, schau mal nach, Faldi, ich würde das Bild gerne hierher verlinken.)

Das passt. Immer schön das Geld in die Kiste werfen, dann bekommt man den Schlüssel und darf die Kiste nach dem "Ableben" öffnen. Ist aber so unfair wie der Wertpapierhandel an der Börse, denn: Man weiß einfach nicht vorher, was "drin" ist! Das ist wie beim Lotto: Der Gewinn der Lottogesellschaft überwiegt, denn es wird immer viel mehr Geld eingenommen als durch Gewinne ausgeteilt. Trotzdem kaufen die Leute ständig weiter Lose, in der Hoffnung auf die "mysteriösen sechs Richtigen mit Zusatzzahl". Bei Kirchen funktioniert das noch viel besser, sogar ständig mit "Trostpreisen" (keine "Gewinnauszahlung" an "Lebende") denn es kam noch nie einer zurück, der gesagt hätte: "Hey, ich habe die ewige Glückseligkeit gewonnen!" Mit Ködern fängt man Fische, dementsprechend fromme Lottospieler mit Gewinnversprechungen! Ich rätsle immer wieder, wie das funktioniert. Nicht mal der "Köder" ist real ...

Zitat:
Die Religionen schaffen hohe Mauern,
weil jede mit der eignen Botschaft wirbt,
von der ein jeder, das ist zu betrauern,
den Geist der jungen Menschen schon verdirbt,
denn nichts davon wird jemals überdauern,
weil alles Leben schließlich einmal stirbt.
Der Glaube stirbt mit ihm, so ist die Lage.
In diesem Sinne: Schöne Weihnachtstage.
Das haben monotheistische Religionen und deren Institutionen nun mal an sich: Ich habe recht und alle anderen unrecht. Das ist gleichzeitig auch die Schizophrenie, die in diesen steckt: Alle Menschen sind Brüder! Außer denen, die nicht die gleiche Religion haben, natürlich! Wer sich nicht bekehren lässt, wurde (und wird) gerne aus dem Weg geräumt, durchaus mit Gewalt - Gewalt im Namen Gottes widerspricht selbstverständlich auch überhaupt nicht dem Predigen von Liebe, neee. Das gilt ja nicht für "die".

Die Lage mag verzweifelt sein, aber ich sehe sie nicht als hoffnungslos an. Es gab noch nie eine Religion, die dauerhaft "überlebt" hätte. Und die Wissenschaft trägt das ihre dazu bei, um das zu ändern. Um "alte Zöpfe" aus den Gedanken zu bekommen, das erfordert Zeit. Ja, ich bin auch der Meinung, dass Religionsunterricht, gleich welcher Art, in Schulen nichts zu suchen hat. Aber: Ich hatte auch Religionsunterricht, meine Großeltern und meine Urgroßmutter waren religiös - ich habe jedoch aus eigenem Antrieb schon als Jugendliche damit "aufgehört". Mögen Wissenschaftler, Denker und Philosophen auch im "Vergleich" mit der "Überzahl der Religionsanhänger" eine Minderheit sein - ganz langsam werden sie mehr. Die Kirchen verlieren an "Boden", auch das ist eine Wahrheit. Hoffnungslos wäre es, wenn es irgendwann überhaupt keine "Denker" mehr gäbe. Und das wird nicht geschehen. Denker gibt es, seit die Menschen mit dem Denken begonnen haben - Religionen kommen und gehen, aber die "Denker" haben bisher immer, trotz allem, weiter existiert.

In diesem Sinne: Schöne freie Tage!

Formal hast du dein "Lieblingsversmaß" verwendet, den jambischen Fünfheber. Sehr schöne Stanzen, wirklich. Reimschema einwandfrei, auch das Verspaar am Ende unterstreicht (erläutert, steigert) jeweils den vorherigen Inhalt. Genau so, wie eine Stanze sein soll. Die Endreime sind schön, sie sind teilweise ganz unverbraucht und auf der anderen Seite sehr gekonnt, auch aufgrund der Tatsache, dass hier viele mehrsilbige Worte verwendet werden, wie z. b. "Jenseitsgötterrunde" und "Geisterstunde" - als ein Beispiel. Das gilt auch für die Kadenzen, die den "Rhythmus" gleichmäßig alternierend unterstützen. Und, bevor jemand etwas sagt, mich stört es nicht, ich verwende ebenfalls Reime wie "Legende"-"Widerstände" oder "Apathie"-"Agonie". Es kommt für mich auf den "Klang" an, ein wirklich "unreiner" Reim "klingt" nicht synchron. Hier "klingt" es gut.

Die Vokale in den Endreimen finde ich gut gewählt, abwechslungsreich, aber nicht zu sehr, "e" sorgt mit seiner Häufigkeit für ein "Klangmuster", und in den ironischsten/bedeutungsvollsten Versen greifst du zu dem hellen "i" und zum Diphtong "au". Gefällt mir sehr gut, auch dass in Strophe 4 (mit einer "Halb-Ausnahme": die Welt) sogar jeweils zwei Mal "e" verwendet wird, denn das harmoniert mit dem Inhalt.

Ich habe lediglich zu ein paar Stellen etwas anzumerken. (Millionen = Milljonen, das ist schon in Ordnung. Goethe reimte schließlich sogar im "regionalen Dialekt", z. B. "neige" auf "schmerzensreiche". Das nur so, am Rande, es gehört nicht dazu.)

Zitat:
wie sie im Büßerwahn herum dort irrten.
*Kopfkratz* Ich bin mir im Klaren, dass ich dir das nicht sagen muss, und auch darüber, dass du "Büßerwahn" im Vers haben möchtest. Hm. Aber bei dir eine Inversion - Zähneknirsch. Das liegt an der Qualität deiner Gedichte, dass sie mich hier stört. Ich werde darüber noch gründlich nachdenken, denn mir gelingt es auch nicht, die Inversion zu beseitigen, ohne den Büßerwahn (passt zum Thema ) "opfern" zu müssen. Sollte mir etwas einfallen, sage ich es dir gerne, momentan habe ich aber keine "gute Idee".

"Metaphysikbrille" ist eine Wortschöpfung, die schon ein bisschen "hakt". Das liegt an der "Zusammenführung" von "Metaphysik" - XxxX und "brille" Xx. Eigentlich also XxxXXx. Hier "biegst" du ein bisschen, aber ich bin ja nicht päpstlicher als der Papst. Ich kann das Wort jambisch lesen, es klingt eben nur nicht "ganz richtig", bedingt durch "Physik" in der Mitte, das ich "gegenbetonen" muss. Es ist aber ein prima Wort, lass es stehen.

Zitat:
mit Urbi et mit Orbi alle Schuld vergeben.
Ich verstehe, dass es nicht anders geht, denn entweder entsteht eine Inversion oder ein daktylischer Versfuß oder es sind eben zwei Silben mehr. Es fällt aber nicht allzusehr auf. Und "Urbi et Orbi" gehört wirklich absolut in das Gedicht hinein!

Hier noch etwas:

Zitat:
Die Religionen schaffen hohe Mauern,
weil jede mit der eignen Botschaft wirbt,
von der ein jeder, das ist zu betrauern,
Die Religionen, die Mauern, die Botschaft - eigentlich müsste hier "eine jede" stehen, egal, worauf sich die Aussage bezieht (meines Erachtens nach bezieht es sich allerdings auf "die Botschaft"). Passt aber nicht ins Metrum. "Jedwede" geht auch nicht. Natürlich könnte ein Füllwort wie "nun" oder "stets" verwendet werden, ist aber nicht unbedingt eine "elegante" Lösung. Du bringst mich heute ganz schön ins Grübeln. Ich tendiere zu "stets", was mir hier die bessere Alternative als "nun" zu sein scheint, daher schlag ich "von der stets jede ..." vor - in Ermangelung einer besseren Idee. Was mir sonst noch einfiel, passt ebenfalls aufgrund der Betonung nicht.

Ich denke, dir wird sicher etwas einfallen, sollte dir mein Vorschlag nicht zusagen. Hauptsächlich wollte ich die Stelle(n) ja nur anmerken.

Es ist ein sehr gutes, gelungenes Gedicht. Ein "echter Faldi", ich habe es sehr gerne gelesen und sehr gerne kommentiert - auch ganz unabhängig von meiner Zustimmung zum Inhalt!

Liebe Grüße

Stimme
__________________
.

Im Forum findet sich in unserer "Eiland-Bibliothek" jetzt ein "Virtueller Schiller-Salon" mit einer Einladung zur "Offenen Tafel".

Dieser Salon entstammt einer Idee von unserem Forenmitglied Thomas, der sich über jeden Beitrag sehr freuen würde.



Geändert von Stimme der Zeit (26.12.2011 um 00:02 Uhr) Grund: Kleine Korrektur.
Stimme der Zeit ist offline   Mit Zitat antworten