Thema: Einsicht II
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Alt 08.10.2012, 14:30   #10
Falderwald
Lyrische Emotion
 
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Hallo Antigone,

Fragen zu stellen und anschließend mit "lassen wir das" selbst zu beantworten, kann keinen Aufschluss über bestimmte Sachverhalte geben und bleiben eher unbefriedigend, so daß ich mich noch einmal zu Wort melden möchte.

Zitat:
Zitat von Antigone
offensichtlich kanntest du die DDR besser als ich, dass du so eingehend darüber schreiben kannst?
Wenn du dort geboren und aufgewachsen bist, kann die Antwort nur lauten: Natürlich nicht.

Aber das habe ich auch mit keinem Wort behauptet:

Zitat:
Zitat von Falderwald
Du meinst tatsächlich den Staat, der seine Grenzen mit einer Mauer, Stacheldraht, Tretminen und scharf schießenden Grenzsoldaten schützen musste, damit ihm die Menschen, die in seinem System im Mittelpunkt standen, nicht einfach davon laufen würden?
Es gab also keine 1400 km lange Demarkationslinie zwischen der DDR und der Deutschen Bundesrepublik, die mit Mauern, Stacheldrahtzäunen, Minenfeldern und bewaffneten Grenzsoldaten gesichert waren?

Zitat:
Zitat von Wikipedia
Entlang der Grenze zu Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hessen und Bayern bestand seit der Anordnung von 1954 auf dem Gebiet der DDR offiziell ein „Sperrgebiet“. Dieses setzte sich zusammen aus einer „5 km-Sperrzone“, einem 500 Meter breiten „Schutzstreifen“ und dem „10 m-Kontrollstreifen unmittelbar am Grenzzaun. Der zehn Meter breite (gepflügte) Kontrollstreifen wurde auch „Todesstreifen“ genannt. Dieser Bereich war zeitweise vermint oder mit Selbstschussanlagen ausgerüstet. Der mit Stacheldraht gesicherte „Schutzstreifen“ wurde systematisch von allen möglichen Sichthindernissen geräumt, hierzu wurden auch Planierungen vorgenommen. Flusspassagen und -übergänge wurden durch tiefreichende Sperrgitter gesichert. Dahinter folgte bis zur eigentlichen Grenzlinie ein von der jeweiligen Geländetopographie abhängiges „Niemandsland“, das von Republikflüchtlingen oft als westdeutsches Gebiet fehlgedeutet wurde. Auch Bundesbürger lösten hier Grenzvorfälle aus, wenn sie leichtfertig in dieses Gebiet vordrangen.
Zitat:
Zitat von Wikipedia
Der eigentliche Grenzzaun war zunächst ein einfacher hüfthoher Stacheldrahtzaun, nach 1961 ein schwer überwindbarer doppelter Stacheldrahtzaun (als Begrenzung von Minenfeldern) beziehungsweise ein Streckmetallgitterzaun mit Selbstschussanlagen; mitunter bestand er auch aus einer Mauer mit oben aufliegendem runden Abschluss (wie in Berlin). Seit 1957 hieß die Demarkationslinie in der DDR offiziell „Staatsgrenze West“, im dortigen Volksmund „Grenze nach Westdeutschland“.
Die Bürger der DDR hatten also freien Zugang zur Ostsee zwischen Priwall und Boltenhagen?

Und den § 213 des Strafgesetzbuches der DDR, der den sogenannten "ungesetzlichen Grenzübertritt" regelte und mit zwei bis fünf Jahren, später sogar bis zu acht Jahren, Haft sanktionierte, den gab es wahrscheinlich auch nicht.

Zitat:
Zitat von Falderwald
Du benennst also den Staat, wo jeder nicht konforme Mensch damit rechnen musste, als politischer Gegner verfolgt und seiner Freiheit beraubt zu werden?
Das Ministerium für Staatssicherheit "Stasi" hat es also auch nie gegeben und die §§ 215, 219 und 245 des DDR StGB sind niemals für politische Verurteilungen benutzt worden?

Zitat:
Zitat von Wikipedia
Das MfS war innenpolitisch vor allem ein Unterdrückungs- und Überwachungsinstrument der SED („Schild und Schwert der Partei“) gegenüber der DDR-Bevölkerung, das dem Machterhalt diente. Dabei setzte es als Mittel Überwachung, Einschüchterung, Terror und die so genannte Zersetzung gegen Oppositionelle und Regimekritiker („feindlich-negative Personen“) ein.
Zitat:
Zitat von Falderwald
Du nimmst wirklich als Beispiel jenen Staat, der über 40 Jahre von der Sowjetunion abhängig war und lediglich subventioniert wurde und der zusammenbrach, als der große Bruder finanziell in die Knie ging, weil er das nicht mehr stemmen konnte?
Dazu nur ein paar wesentliche Fakten:

Die DDR war wirtschaftlich ,politisch und militärisch von der Sowjetunion abhängig.
  • wirtschaftliche Abhängigkeit wegen z.B. Gas, Erdöl, Eisenerz...(wurde geliefert)
  • wegen der Rohstofflieferungen somit auch politisch abhängig und die Parteivorsitzenden der SED wurden vom ZK der KPDSU bestimmt.
  • 250 000 Sowjetsoldaten waren in der DDR stationiert. Die Nationale Volksarmee unterstand der Roten Armee.

Ich möchte an dieser Stelle jetzt gerne einbringen, daß ich mich ausschließlich auf nicht widerlegbaren geschichtliche Fakten beziehe, die mir lediglich eine von außen betrachtende subjektive Vorstellung von den Dingen ermöglichen.

Des Weiteren bin ich mir sehr wohl bewusst, daß mir dies alleine keine Vorstellung der dortigen Gesellschaftsform erlaubt.

Die Idealvorstellung der DDR-Regierung von ihrer staatlichen Gesellschaft wurde jedoch in alle Richtungen öffentlich immer wieder proklamiert:

Zitat:
Zitat von Walter Ulbricht
  1. Du sollst Dich stets für die internationale Solidarität der Arbeiterklasse und aller Werktätigen sowie für die unverbrüchliche Verbundenheit aller sozialistischen Länder einsetzen.
  2. Du sollst Dein Vaterland lieben und stets bereit sein, Deine ganze Kraft und Fähigkeit für die Verteidigung der Arbeiter-und-Bauern-Macht einzusetzen.
  3. Du sollst helfen, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen.
  4. Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem besseren Leben für alle Werktätigen.
  5. Du sollst beim Aufbau des Sozialismus im Geiste der gegenseitigen Hilfe und der kameradschaftlichen Zusammenarbeit handeln, das Kollektiv achten und seine Kritik beherzigen.
  6. Du sollst das Volkseigentum schützen und mehren.
  7. Du sollst stets nach Verbesserung Deiner Leistung streben, sparsam sein und die sozialistische Arbeitsdisziplin festigen.
  8. Du sollst Deine Kinder im Geiste des Friedens und des Sozialismus zu allseitig gebildeten, charakterfesten und körperlich gestählten Menschen erziehen.
  9. Du sollst sauber und anständig leben und Deine Familie achten.
  10. Du sollst Solidarität mit den um nationale Befreiung kämpfenden und den ihre nationale Unabhängigkeit verteidigenden Völkern üben.
Hier sollte also einerseits die (damals) nationalsozialistische Ideologie und die Religion durch eine neue, nämlich die sozialistische Ideologie ersetzt werden.

Natürlich haben das nicht alle Bürger so gelebt. Aber viele von ihnen haben auch nie Veranlassung gehabt, gegen die Landes- und Systemgrenzen anzurennen und so ein ganz normales Leben führen können.

Jetzt kommt es nur darauf an, was man unter einem normalen Leben verstehen kann.

Wenn ich in einer Versorgungsdiktatur aufwachse, kann ich mich mit dieser arrangieren, mich vielleicht dort sogar engagieren, aber es prägt die öffentliche Gesellschaft und das Bild, das jene nach außen wirft.

Ich nehme stark an, eine solche Diskussion, wie wir sie hier jetzt öffentlich führen, hätte für mich u. U. in der DDR durchaus negative Konsequenzen mit sich bringen können

Die Situation der Menschen in der DDR und in der Deutschen Bundesrepublik war damals vollkommen anders gelagert, denn die innerdeutsche Grenze war ja nicht nur die Grenze zweier Staaten, sondern zudem zweier völlig verschiedener Gesellschafts-, sowie Wirtschaftssysteme und zu allem Überfluss noch die Frontlinie zwischen den zwei Militärblöcken "Warschauer Pakt" und "Nato".

Jeder musste also auf seiner Seite so gut wie möglich zurecht kommen und viele haben auf beiden Seiten sehr darunter gelitten.

Ich möchte also ganz versöhnlich klarstellen, daß ich niemandem einen persönlichen Vorwurf machen möchte, weil ich nicht sagen könnte, wie ich mich in vergleichbaren Situationen verhalten hätte.

Aber wenn ich die Wahl habe, dann würde ich das jetzige System, trotz aller Fehler und offensichtlicher Schwächen, auf jeden Fall vorziehen.
Das ist meine subjektive Einstellung und Meinung.

Zitat:
Zitat von Antigone
Wie kommst du darauf, eine Gesellschaftsformation als künstliches Konstrukt zu bezeichnen, das frage ich mich allen Ernstes.
Zitat:
Zitat von Wikipedia
Unter den Begriffen Gesellschaftsformation, Gesellschaftsform oder Gesellschaftssystem versteht man in der Soziologie, Politik- und Geschichtswissenschaft die historisch bedingte Struktur und soziale Organisationsform von Gesellschaften. Der vor allem von Karl Marx geprägte Begriff der Gesellschaftsformation umfasst dabei die Gesamtheit aller sozialen Verhältnisse, die eine bestimmte Gesellschaftsform von einer anderen Gesellschaftsform unterscheiden. Beispiele für Gesellschaftsformationen sind die antike Sklavenhaltergesellschaft, die mittelalterlich-feudale Gesellschaft, der moderne Kapitalismus, der Faschismus oder der Kommunismus.
Nun, ich sehe da nicht viel Natürliches drin, es sind alles Ideologien und die sind nun mal von Menschen künstlich gemacht.
Auf jeden Fall werden diese Ideologien in Form von Moralvorstellungen und Werten öffentlich proklamiert und von den Machthabern den übrigen Menschen (z.B. in der Horde, dem Stamm oder dem Staat) teils durch (willkürliche) Gesetzgebung auferlegt.

Eine Gesellschaft braucht eine Gesellschaftsordnung und diese ist nicht Teil der Natur der Dinge und kann nicht aus den Naturgesetzen abgeleitet werden.
Wir können vielleicht annehmen, daß die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Ordnung in der biologischen Verfassung des Menschen angelegt ist, aber dann bewegen wir uns schon wieder auf sehr dünnem Eis, weil wir so tendenziell in die Nähe nationalsozialistischer Ideen rücken, die Gesellschaftsformationen einerseits in natürlich gewachsene Gemeinschaften und andererseits in künstlich gebildete Gesellschaften unterschieden (siehe Volksforschung, Rassenkunde und die Volkskunde).

Fakt ist, unsere Wirklichkeit ist gesellschaftlich bestimmt.
Aber diese Bestimmung muss auch verkörpert werden, d.h., daß immer konkrete Personen und Gruppen die Bestimmer dieser Wirklichkeit sind. Um den Zustand der gesellschaftlich konstruierten Sinnwelt zu verstehen, muss man die gesellschaftliche Organisation aber durchschauen können, die es solchen Bestimmern ermöglicht, daß sie bestimmen.

So verschiebt sich die Frage nach den historischen Wirklichkeitskonzeptionen zwangsläufig vom abstrakten "Was" zum soziologisch konkreten "Wer". Hinter dem "Wer" verbergen sich immer die selbsternannten Experten, welche die gesamte Jurisdiktion über den gesamten Wissensvorrat beanspruchen. Das sind die sogenannten "Welt-Spezialisten". Jene Inhaber der entscheidenden Machtpositionen sind bereit, ihre Macht für die traditionellen Wirklichkeitsbestimmungen einzusetzen und sie der Bevölkerung autoritativ aufzuzwingen. Mögliche Konkurrenz für diese Sinnwelt wird liquidiert, sobald sie auftaucht, nämlich entweder physisch zerstört oder aber eben integriert und geschluckt.

Wer sich eingehend mit Anthropologie, Soziologie, Psychologie und Philosophie beschäftigt hat, kann also nur zu dem ernsthaften Schluss kommen, daß Gesellschaftsformationen ausschließlich künstliche, von Menschen erschaffene Konstrukte sind.

Das, was du nämlich meinst, ist die Gemeinschaft, aber die Gesellschaft fängt erst dort an, wo die Gemeinschaft aufhört...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald
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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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