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Alt 15.04.2010, 03:02   #8
Pedro
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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In den Kapiteln 11 und 12 treffe ich mich mit meinem Freund Edgardo, er ist Arzt, z.Zt. Leiter eines Krankenhauses. Ich erzähle ihm von Claudia, er meint meine Nachforschungen könnten gefährlich werden. Er will aber einen Termin bei dem Pathologen vereinbaren, der Claudia obduziert hat.

13

Der sitzt da noch immer so am Eingang des Elendsviertels. Seine roten, breiten Hosenträger sind etwas verblichen. Er ist 25 Jahre älter geworden.
Die Hosenträger waren schon damals sein ganzer Stolz , einem amerikanischen Touristen hatten sie sie weggenommen, der in dieses Viertel gegangen war, um Fotos zu machen.
Er hatte nicht nur seine Hosenträger dabei verloren, sondern auch seinen Fotoapparat, seine Lederjacke, seinen Hut, seine Sonnenbrille und auch seine Geldbörse hatte er abgeben müssen.
Ich hatte gehört, dass er sich danach auf einer Polizeistation bitter über die Zustände hier in Chile beklagt hatte. Er könne froh sein, dass ihm nur die paar Sachen abhanden gekommen seien, hatte ihm ein Polizist gesagt. In den USA gäbe es schließlich auch Stadtviertel, in die man besser nicht hineingehe.
Dieses Viertel „Aguita de la Perdiz“ betrete nicht einmal die Polizei. Hier wohnten fast nur Kriminelle, als Leute, die weder befehlen noch gehorchen könnten, hatte sie Präsident Pinochet bezeichnet.
Dieses Viertel würde bald verschwinden, man wolle Hochhäuser dahin bauen.
José heißt er, war damals 12 Jahre alt , geistig behindert, er isst überall mit, wo er gerade ist und schläft auch dort.
Alle fremden Neuankömmlinge begrüßt er teils freundlich, teils aggressiv, je nachdem wie er gerade drauf ist.
Er schaut mich an, sein Gesicht verzerrt sich vor Freude und schreit:
„Don Pedro ist wieder da, der Fußballer!“ Springt dann um mich herum und umarmt mich. Ich bin erstaunt, dass er mich erkannt hat.
Solchen Empfang hätte ich nie erwartet.
Dann kommt mir Jaime entgegen, 1,90 m groß, dürr, mit einer riesigen Hakennase im Gesicht. Er war damals 20 Jahre alt. Er umarmt mich, drückt mich an sich und klopft mir auf die Schultern. Er war damals die Stütze der Abwehr, hatte bei seiner Körpergröße jeden Ball erreicht.
„Don Pedro, wie ist es Ihnen in dieser langen Zeit ergangen, gesund sehen sie aus, etwas dicker, heute hätten sie Schwierigkeiten beim Fußballspiel.“
„Ja, älter ist man geworden, die Zeit ist schnell vergangen, ich bin jetzt pensioniert und wollte mal sehen, wen ich noch hier kenne und wer mich noch hier kennt.“
„Sie werden staunen, wer sich noch alles an sie erinnert, oft sprechen wir von diesem wunderbaren Fußballspiel, das wir durch Sie gewonnen haben. Zum ersten Mal konnten wir gegen die Eisenbahner gewinnen, auch zum letzten Mal. Die haben damals immer gesagt, dass es keine Kunst sei, mit einem Deutschen in der Mannschaft zu gewinnen. Die Deutschen könnten eben alle hervorragend Fußball spielen.“
Inzwischen sind noch mehr Leute angekommen, drängen sich um uns herum, schütteln mir die Hand. Ich kann mich nicht an ihre Gesichter erinnern.
Ich werde weiter durch die Straße geschoben, die einstöckigen Holzhäuser stehen noch immer so wie damals, eins an das andere gelehnt, sich gegenseitig abstützend, angemalt mit Farben, die gerade billig waren.
Wir kommen dann zum Laden von Don Rubén, damals war es ein kleiner Laden, in dem man Grundnahrungsmittel und alkoholische Getränke kaufen konnte. Heute ist es ein kleines Restaurant.
Auch Don Rubén erkennt mich sofort, umarmt mich, lädt mich ein. Wir sollten uns alle hier hinsetzen und einmal wieder über alte Zeiten reden, sagt er.
Älter ist er geworden, trägt immer noch seine Schirmmütze nach hinten geschoben. Sein Gesicht ist bronzefarben, sein Haar hat sich gelichtet, an den Schläfen pochen Adern, bis auf den Bauchansatz ist er hager geblieben.
Er bringt auch gleich eine große Karaffe Rotwein an den Tisch, Gläser werden gefüllt, wir trinken einander zu.
„Ja, das waren noch Zeiten damals, es ging uns zwar dreckiger als heute, aber da war Einigkeit und Kameradschaft. Viele von damals wohnen jetzt nicht mehr hier, etliche sind gestorben“, sagt er.
Ich muss von Deutschland erzählen, was ich da gemacht habe, über die Familie, aber immer wieder kommt dann das Gespräch auf das Fußballspiel.
„ Weißt du noch, wie ich dir einen Pass zugespielt habe, und du aus vollem Lauf den Ball in die linke obere Ecke des Tores geknallt hast? Das war ein Bombenschuss, gekonnt, nicht nur Glück, wie du immer gesagt hast“, sagt Jaime.
Ich hatte immer versucht, den Leute zu erklären, dass ich nicht besonders Fußball spiele, hatte zwar mal einige Spiele in der untersten Liga in Deutschland mitgemacht, kann mich aber nicht erinnern, dass unsere Mannschaft jemals ein Spiel gewonnen hätte.
Mit allen Mitteln hatte ich mich gewehrt, an dem Spiel teilzunehmen, wollte mich nicht lächerlich machen. Manuel, ein Sozialarbeiter, hatte mir gesagt, ich solle mitmachen, allein die Tatsache, einen Deutschen in der Mannschaft zu haben, würde alle zu Höchstleistungen anspornen und den Gegner total verunsichern.
Ein Chilene fürchte nichts mehr, als sich lächerlich zu machen. Die Gegner würden annehmen, dass ich als Deutscher ein hervorragender Fußballspieler sei, würden mich nicht direkt angehen, aus Angst sich lächerlich zu machen, erklärte er mir.
Nach reichlich genossenem Alkohol hatte ich mich dann bereit erklärt, mitzumachen.
„Und das zweite Tor erst, eine Flanke mit dem Kopf angenommen und in die Ecke geköpft“, rief Don Rubén. Und das war auch kein Zufall, wie du immer gesagt hast!“
„Und dann das Fest am Strand, mit viel Wein und dem Hammel, den wir gewonnen hatten“, sagt Don Martín, der gerade dazu gekommen ist.
Don Martín war damals die Person im Viertel gewesen, die alles geordnet hatte, so eine Art Friedensrichter oder Mafiaboss. Er hat immer einen Anzug an, trägt ein weißes Hemd mit Krawatte. Er erinnerte mich an den Paten. Mit ihm hatten wir, chilenische Rechtsanwälte, Sozialarbeiter und ich, auch verhindert, dass das Viertel in Bauland für Anleger umgewandelt wurde.
Das wichtigste Ergebnis eigentlich für die Menschen hier, sie sahen aber das Fußballspiel als viel wichtiger an.

„ Erinnert ihr euch noch, dass dann Don Pedro, wir hatten schon viel getrunken, sagte, dass er schon Rodeos gewonnen habe, und wir ihm natürlich das Pferd bei der Rückkehr vom Strand überlassen haben“, ruft El Pato dazwischen, und ein riesiges Gelächter bricht aus, den Leuten laufen die Tränen über das Gesicht.
„Und dann“, El Pato kann kaum weitersprechen, „dann blieb das Pferd mit Don Pedro in einer großen Wasserlache stehen, und wir mussten ihn da herausholen.“
Und andere erzählen von damals, von Ereignissen, an die ich mich nicht erinnern kann.
Die Geschichten werden immer wieder erzählt, ändern sich dabei, die vergangene Zeit lässt sich nicht wiederholen. Das Gleiche passiert wohl mit Geschriebenem, es wird immer wieder neu gelesen, neu interpretiert, verändert sich dabei, aber keiner schreibt die Geschichte neu.

Es wird langsam Zeit, dass ich hier wegkomme, für einen Moment habe ich Claudia vergessen, habe fast geglaubt, dass ich ein Fußballass war, bin gerührt über die Aufnahme hier.
Ich gehe Don Rubén hinterher, als er wieder Wein holen will, sage ihm, dass ich seine Hilfe in einer besonderen Angelegenheit brauche. Wenn möglich würde ich mich gerne mit ihm und El Pato übermorgen, am Samstag, in Concepción im Stadtpark treffen, gegen 12.00 Uhr. Wir könnten zusammen bei der Feuerwehr zu Mittag essen. Er wird mit El Pato reden.
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