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Alt 29.12.2011, 15:10   #14
Erich Kykal
TENEBRAE
 
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Hi, Fee!

Gleich mal eine kleine Lektion in gegenseitigem Verständnis:
Diese "Gerüste", wie du die Reimschemata und Stropheneinteilungen nennst, musste ich nie beherrschen lernen! Die waren einfach schon da - irgendwie. Ein innerer Rhythmus, das Begreifen von Sprache als eine sich wiegende Melodie...
Selbst die verschiedenen Reimschemata habe ich mir selbst "aufgeschafft", einfach indem ich eine Liste mit Möglichkeiten machte, sie durchprobierte und jene, die mir am besten gefielen oder lagen, immer weiterverwendete. Beim Dichten selbst ist es immer die erste Strophe, deren "Konstruktion" über das laufende Schema entscheidet. Ein Gedanke wird lyrisch umgesetzt, und je nach Bau der ersten Zeilen ergibt sich das Schema für die restlichen Strophen, das dann nur fortgeführt oder regelmäßig mit einem anderen Schema abgewechselt wird. Ich kenne die ganzen Fachbegriffe bis heute nicht...
Diese "Schematisierung" war also NIE ein zu Erlernendes für mich, das, mühsam erarbeitet, mir erst das Dichten ermöglicht. Es fügt sich alles quasi nebenbei. Bewußter ist da schon der Akt, am Klang meiner Zeilen zu feilen, die Satzmelodie obstruktionsfrei fließen zu lassen, ohne vom Inhalt abzuweichen, obwohl ich dazu tendiere, eher den Inhalt dem Fluß unterzuordnen als umgekehrt (den Inhalt von Gedichten halte ich für beliebiger und austauschbarer, als die meisten glauben wollen, aber dazu später und weiter unten mehr...). Und natürlich interessante, unverbrauchte Bilder mit Worten zu malen.
Die Feinheiten sind Erfahrungs- und Übungssache, aber das "Gerüstbauen" war bei schon im genetischen Bausatz mit dabei.

Vielleicht führt diese starke Sprachmusikalität auch mit dazu, dass ich zu reimloser Lyrik keinen Bezug finde - bestenfalls einen grob intellektuellen. Das Herz ist aber nie dabei. Das schwingt nicht, das klingt nicht, das singt nicht in mir...da weigert sich der Rest beinahe schon automatisch, sich weiter damit zu befassen. Für mich ist Lyrik immer auch Melodie und Gleichklang, und genau das fehlt mir bei diesen Werken der großen "Erneuerer" um jeden Preis. Da finde ich leider einfach nicht rein!

Auch gebe ich dieser Art, Gedichte zu schreiben, einen Gutteil Schuld daran, dass breite Anteile der Bevölkerung das Interesse an Lyrik verloren haben. Ich weiß, eine sehr subjektive Sicht, eher eine Theorie, die ich aber gut nachvollziehen kann.
Mir fehlt einfach "das Schöne" in dieser Dichtung, es ist zu kopflastig nach meinem Geschmack, und ohne den Sang und Klang von Reimen und Rhythmus klanglich einfach zu flach, um tief in mir zu schürfen. Ich postuliere also mal frech, dass es vielen ehemaligen Lesern ebenso erging, als diese moderne Kunst aufkam, und sie wandten sich von dieser Literatursparte ab. So ging die (ohnehin nie sehr große) Breitenwirkung verloren, und Zeitungen, Zeitschriften und Magazine brachten bestenfalls noch Politsatire in Gedichtform, meist auch noch laienhaft gemacht, jedenfalls keine "ernste" gereimte Lyrik mehr, und das "moderne Zeug" wollte ohnehin keiner, der die klassische Lyrik gewohnt war und noch im Ohr hatte. So denke ich mir das.

Denn eines wirst du nicht absprechen können: Für die Breitenwirkung von Lyrik sorgte immer das "gereimte Zeug", das die Schönheit der Sprache selbst feierte, und nicht der "Mitdenksport" moderner Lyrik, der nichts in einem zum Singen oder gar zum Weinen bringt (zuindest in "einem" wie mir...)! Wenn ich Rilke lese, passiert mir das regelmäßig: Ich heule - nicht der Inhalte wegen, sondern einfach, schlicht und ergreifend nur deshalb, weil sie SPRACHE selbst so wunder-, wunderschön ist!!! Kannst selbst du als Verfechterin des verse libre dir so etwas bei reimloser Lyrik ernstlich vorstellen? Wenn ja, dann leben wir tatsächlich auf verschiedenen Planeten!

Dies alles hat mich übrigens zu einer weiteren Theorie geführt, die mein Schaffen tiefgreifend beeinflusste: Bei (wirklich guter) Lyrik ist der Inhalt fast Nebensache und beliebig austauschbar. Man liest sie der schönen Sprache wegen - die Sprache selbst ist hier im Mittelpunkt.
Bei der mod. Lyrik ist es anders: Hier wird entweder experimental mit Sprache "gespielt" (zB Jandl), oder sie ist nur das schlichte Transportmittel für die ach so wichtig geglaubten Inhalte, die man als sozialkritischer oder ethisch motiverter Mensch zu vermitteln verpflichtet zu sein glaubt.
Betrachten wir aber die Geschichte der Lyrik, stellen wir fest: 100 Jahre später vollzieht kaum jemand noch nach, WAS einen Dichter dazu bewog, dies oder jenes aussagen zu wollen. Was man dann noch immer liest, muss das Schöne sein, das die Wandel der Zeiten überdauert. Oder kannst du mir auch nur ein ungereimtes Gedicht nennen, dass es je bis ins sog. Volksgedächtnis geschafft hat?
Nein, die sog. Klassiker sind jene, die deshalb noch heute gelesen werden, weil sie immer noch gut KLINGEN! Keinen interessieren dabei vordergründig die damaligen sozialen Verhältnisse, die den Dichter zu dem einen oder anderen Text bewogen haben mögen. Die Sprache zählt!
Nun denke 100 Jahre weiter. Wieviel Ungereimtes wird dann wohl noch erinnert, wenn die dem Text zugrundeliegenden Probleme und Motive längst obsolet sind, weil die Menschen lange schon ganz andere haben?
Nun, vielleicht unterschätze ich tatsächlich die Bedeutung des verse libre, weil ich sie mit meinen Sinnen und Werkzeugen ganz einfach nicht zu erkennen vermag. Vielleicht straft mich die Zeit und der Geschmack der Leser irgendwann Lügen. Bis dahin (und selbst dann noch) bleibe ich aber ganz der reimenden Fraktion verhaftet - ich KANN nicht anders!

JA - das ist ganz klar einseitig und scheuklappig bis zum Abwinken. Aber man muss ja keinen Spinat essen, wenn einem Spinat nicht schmeckt, egal, wie "gesund" er angeblich sein soll (was mittlerweile ja relativiert wurde...sieh mal einer an!).
Ich stehe zu meiner lyrischen Eindimensionalität, allerdings, ohne diese Form FÜR ANDERE herabwerten zu wollen. All das hier Beschriebene gilt ausschließlich FÜR MICH! Ich hoffe, du verstehst nun etwas besser, was mich vordem so erboste, dass ich mich zu jenem Beitrag hinreißen ließ. Es ist nicht leicht, ein einmal gefasstes inneres Vorurteil nicht so übermächtig werden zu lassen, dass es sogar das Toleranzprinzip erstickt! Ich bemühe mich.

LG, eKy
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen.
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Geändert von Erich Kykal (29.12.2011 um 15:20 Uhr)
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