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Alt 20.04.2010, 17:12   #13
Pedro
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Ich betrete das Büro von Dr. Sierra, er erwartet mich schon und bittet mich, Platz zu nehmen. Er kommt gleich zur Sache.
„Vielen der zum Leichenfund gerufenen Ärzte fehlen die notwendigen rechtsmedizinischen Kenntnisse zur Beurteilung der vielfältigen Leichenerscheinungen;“ sagt er.
„Sie werden häufig als Notdienst tuende Ärzte zu einem Leblosen gerufen, den sie vorher noch nie gesehen haben, von dem sie weder die Lebensumstände noch die Art möglicherweise vorangegangener Erkrankungen wissen, und dann sollen sie, oft unter ungünstigen Umständen, den Tod, dessen Ursachen, das Fehlen möglichen Fremdverschuldens und anderes zweifelfrei feststellen. Dabei mangelt es ihnen oft schon an dem Wissen um die sicheren und unsicheren Todeszeichen.
Bei den Tötungsdelikten ist die Dunkelziffer sehr hoch.
Ich habe in Deutschland studiert. Da wurde zwischen 1993 und 1995 eine Studie an 23 der damals insgesamt 38 rechtsmedizinischen Institute durchgeführt, bei denen bei der Obduktion andere Todesursachen entdeckt wurden als bei der ersten Leichenschau.
Wenn ein Mensch stirbt oder eine unbekannte Leiche gefunden wird, verlangt das Gesetz, dass ein Arzt hinzugerufen wird, der den Eintritt des Todes nicht nur per se feststellt, sondern diesen auch auf einer Todesbescheinigung dokumentiert. Dieser Vorgang wird als ärztliche Leichenschau bescheinigt. Die Leiche ist bei jedem Fall im unbekleideten Zustand zu besichtigen.
Es stellte sich bei der Studie eine enorme Fehlerquote heraus.
Rund 13000 Verstorbene wurden damals obduziert. In 2183 Fällen stellten die Rechtsmediziner eine andere Todesursache als ursprünglich von ihren Berufskollegen vermerkt fest.

Im Fall Claudia Palma lief das anders. Dr. Enrique Mesa wurde zur Fundstelle der Leiche gerufen. Er ist ein ehemaliger Mitarbeiter von uns hier und hat Erfahrungen auf diesem Gebiet. Er veranlasste, dass die Tote in unser Institut nach Concepción gebracht wurde.
Dr. Sierra legt mir ein Protokoll vor.

Äußere Besichtigung:
Leiche einer 24-jährigen Frau, 1,70 m groß, regelmäßiger Körperbau, guter Ernährungszustand.
Totenstarre gelöst, Totenflecke rotviolett, überwiegend an der Körperrückseite, nicht wegdrückbar.
Bekleidung: Blaue Bluse, alle Knöpfe abgerissen, teilweise zerrissen. Kurze weiße Shorts, oberster Knopf abgerissen . Keine Schuhe und Strümpfe.

Innere Besichtigung:
Bruch der knöchernen Schädelbasis in der mittleren Schädelgrube, über das linke Felsenbein verlaufend, mit Eröffnung des linken Mittelohrraumes. Eine weitere Fraktur (spaltenförmiger Bruch) im Bereich der Siebbeinplatte rechts der Nasenscheidewand.

Vorläufiges Gutachten:
1. Sektionsergebnis:
Rundlich – bläuliche Hautverfärbung mit beginnender gelblich – grünlicher Verfärbung des Randsaumes der linken Wange, vom Mundwinkel bis zum Unterkiefer reichend. Rundliche Hautverfärbung unterhalb der Kinnspitze. Rundliche Hautverfärbung und Unterblutung in mittlerer Höhe des Nasenrückens.
Schädelbasisbruch durch die vordere Schädelgrube im Bereich der Siebbeinplatte rechts der Mitte. Schädelbasisbruch der mittleren Schädelgrube links seitlich mit Eröffnung des linken Mittelohrraumes. Hirnrunden- und -markblutungen der linken Großhirnhälfte im Bereich des Schädellappens seitlich und basal. Kirschgroße Blutung und Erweichung im rechten Großhirnhinterlappen.

2. Todesursache:
Hirnprellung, Schädelbasisbrüche

3. Todesart:
Nicht natürlicher Tod

4. Toxikologisch – chemische Untersuchungen:
Zur Zeit des Ablebens lag keine alkoholische Beeinflussung vor.

5. Diskussion:
Zeichen erheblicher stumpfer Gewalteinwirkung auf den Schädel mit Brüchen der vorderen und mittleren Schädelgrube und ausgedehnte Hirnverletzungen.
Die schweren Kopfverletzungen können von einem Sturz nicht herrühren.

Ich lese das Protokoll zweimal durch und frage Dr. Sierra:
„Sie glauben also, dass Claudia Palma vor ihrem Fall vom Felsen bereits tot war?“
„Das nehme ich mit Sicherheit an. Aber die Staatsanwaltschaft kam zu einem anderen Ergebnis. Der genaue Zeitpunkt der Verletzungen sei nicht feststellbar. Als Ursache für den Bruch käme ein Sturz ebenso in Betracht wie Schläge.
Da Täter nicht ermittelt werden konnten, wurde das Verfahren eingestellt!“
„Vielen Dank, dass Sie sich so viel Zeit für mich genommen haben.“
Nachdenklich verlasse ich das Büro von Dr. Sierra.
Auf er Straße sehe ich den Mann aus dem Elendsviertel wieder. Mir wird klar, dass er mich laufend beobachtet.
An dem Bericht von El Pato scheint einiges nicht zu stimmen. Vielleicht hat ihn Victor angelogen?

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Ich glaube, ich muss was unternehmen, die Sache wird zu gefährlich für mich. Leicht kann man bei dem Verkehr vor einen Bus fallen und überfahren werden. Ich muss mit Ernesto sprechen, der schuldet mir einiges.
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