Thema: Jörgi
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Alt 10.04.2009, 14:18   #6
Medusa
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Lieber Feirefiz,

auch wenn "Jörgi" (diese Verniedlichung erinnert Anreden wie "Ach, Omi, willst Du? Hast Du? Kannst Du? Dieser Umgang scheint in Altenheimen bzw. Krankenhäusern Gang und Gäbe zu sein und von Verantwortlichen geduldet) seine Umwelt vielleicht (?) nicht versteht, so hält er uns einen Spiegel vor.

Sehr eindringlich schilderst Du den Abstand, den der Erzähler zum Patienten einhalten muss, um nicht selbst zum Opfer zu werden. Dass er, völlig gefühllos, den "Liebling" fest bindet, um ihn "ruhig zu stellen" und das stundenlange Schreien erträgt.

Das Lesen war für mich keine reine Freude, aber das war sicher auch nicht Deine Absicht.

Ich habe ein paar kleine Tippfehler entdeckt:

Jörgi
Jörg Telchow, den alle nur „Jörgi“ nennen, ist achtunddreißig Jahre alt, und er isst nicht sauber. Darum trägt er ein Lätzchen. Jörgi kann nur von Löffeln essen, seine Brote werden ihm zugeschnitten. Verletzungs- und auch Erstickungsgefahr sind zu groß. Jörgi ist oft maßlos beim Essen.
Jörgi hat eine Vorliebe für starken Kaffee mit und manchmal auch ohne Milch. Weil er aber oft bis in die späten Nachtstunden aktiv ist, wird der Kaffee für ihn rationiert. Jörgi ist sehr geschickt darin, sich außer der Reihe Kaffee zu besorgen.
Jörgi schaut dir nie in die Augen, immer an dir vorbei. Es ist nicht möglich, Blickkontakt mit ihm aufzubauen. Trotzdem erkennt er mich immer, wenn ich komme.
Jörgi kann nicht sprechen. Manchmal rätseln wir, was seine Laute wohl zu bedeuten haben. Ein monotones Lallen findet sich darunter, ein sympathisches Kichern, oder auch ein undefinierbares Brummen, ein versonnenes Schnalzen.
Jörgi kann singen. Am liebsten Weihnachtslieder und Beatles. Natürlich ohne text (Text), aber durchaus richtig intoniert, summt er dann lächelnd morgen ("Morgen .....) Kinder wird’s was geben("). Auch an Musikinstrumenten zeigt er großes Interesse. Du musst ihm dann immer etwas vorspielen.
Jörgi liebt es geduscht zu werden. Wenn ich ihm das Shampoo aus den Haaren spüle, legt er sich die rechte Hand vor die Augen.
Sein rechter Arm scheint vor Kraft aus den Nähten zu platzen. Beinahe gestählt, denkt man. Daran eine Hand, groß wie ein Rad. Mit dieser Hand greift er nach dem Löffel, nach seinem Kaffeebecher, nach der Gitarre (Komma) um sie dir hinzuhalten, nach seinem Kopf, um die Augen vor brennender Seife zu schützen. Mit dieser Hand packt er dich beim Arm und führt dich überall hin.
Jörgis Wünsche liegen in dieser riesenhaften Hand. Jörgis Träume hängen an diesem starken Arm.
Jörgis linker Arm, (und?) Jörgis linke Handhängt (hängen?) nach einer Infektion in seiner Jugend schlaff am Körper herunter. Am faltigen Arm die schmale Hand, die nicht mehr zum Greifen taugt. Als Opfer von Jörgis wütenden Beißattacken gegen sich selbst fördert diese Hand immer wieder Rötungen und nach den Rötungen Blut und nach dem Bluten Schorf zutage.
Jörgi geht gerne spazieren, auch wenn er wegen seines Spitzfußes nur humpeln kann. Zu jeder Jahreszeit tollt er dann herum, begrüßt Frühling, Sommer, Herbst, Winter, Frühling, Sommer (ein paar Pünktchen vielleicht?), lacht, singt, tanzt, dreht sich, lacht, springt, lacht…
Jörgi kann stundenlang auf dem Sessel im Gruppenraum sitzen und mit dem Oberkörper vor und zurück wippen. Dann steht er plötzlich auf und beginnt damit, sich so stark um die eigene Achse zu drehen, dass sein linker Arm, der Fliehkraft folgend, in Kreisen um seinen Körper herumgezerrt wird. Guck mal, Jörgi tanzt wieder, sagen wir dann lächelnd zueinander.a (?)
Manchmal, wenn du sitzt, kommt Jörgi von hinten auf dich zu, legt seine Lippen an deinen Kopf und stöhnt ein warmes, weiches Stöhnen. Das ist ein bisschen eklig, weil Jörgi sabbert. Aber Angst zu haben brauchst du keine, das heißt, dass er dich gern hat.
Von Zeit zu Zeit liegt Jörgi im Flur am Boden und onaniert, wirft dabei den Kopf, immer schneller werdend, von links nach rechts und von rechts nach links. Keine Ahnung, wer ihm das beigebracht hat, aber jetzt ist es wohl zu spät, um es ihm wieder abzugewöhnen.
Jörgi bittet manchmal wortlos darum, angebunden zu werden. Dann humpelt er in die Isolationskammer, wo das Fixierbett steht, legt sich darauf und windet sich die speckigen Ledergurte mit der rechten Hand um den linken Arm. Meistens erfüllen wir ihm dann seinen Wunsch nach Halt.
Jörgi hat häufig Schmerzen in den wenigen Zähnen, die ihm geblieben sind, aber er kann nicht sagen wo. Meist äußert er (es?) sich über Angespanntsein, wildes Herumhüpfen und –schreien. Dann erhält er 1 (eine?) Paracetamol 1000 (-tablette ?), Zahnarztbesuche (gelingen? klappen? oder Ähnliches) nur unter Vollnarkose. Jörgi knirscht viel mit den Zähnen.
Jörgi leidet an einer schweren Intelligenzminderung nach frühkindlicher Hirnschädigung, (und?) unter starken Stimmungsschwankungen, zeigt autistische Verhaltensweisen. Morgens, mittags und abends bekommt er jeweils 5ml Atosil und 2 Clozapin (-tabletten?) verabreicht, damit sein Bewegungsdrang auf einem erträglichen Level bleibt, dazu 1 Akiniton (dragee?) gegen den Speichelfluss.
Wenn Jörgi ein
arousal (Arousal) hat, besteht akute Gefahr für Leib und Leben, auch und vor allem für das der Mitbewohner. Zu zweit, immer zu zweit, gehen wir auf ihn zu, ich fange seine Faust ab, nagel ihn mit den Knien am Boden fest und drücke ihm 1 Rohypnol (eine ... -tablette?) zwischen die Kiefer. Dann zerren wir ihn in die Isolationskammer. Jörgi wehrt sich, aber Jörgi hat keine Chance gegen mich. Jörgi muss ans Bett fixiert werden, weil er sonst, alleingelassen, selbstverletzendes Verhalten zeigen würde. Als (wenn?) wir ihn angebunden haben, entfernen wir uns langsam aus dem Raum, schlaf schön, Jörgi, schließen hinter uns die Tür, lassen aber das Licht an, sonst kann man (können wir?) durch den Spion nichts sehen: Jörgi liegt da, Hände und Füße an der Bettkante fixiert, wirft seinen Kopf, immer schneller werdend, von links nach rechts und von rechts nach links und schreit.
Etwa eine Stunde später ist Jörgi eingeschlafen, die rohypnolblaue Zunge hängt ihm halb aus dem Mund, wir defixieren ihn und tragen ihn in sein Zimmer und auf sein Bett. Ich decke ihn zu, streichele ihm flüchtig über die Wange und schließe leise die Tür, als (bevor?) ich das Zimmer verlasse.
Jörgi ist eigentlich der Liebling aller Pfleger im Heim.
Aber wenn er zuschlägt, müssen wir handeln


Schrecklich! In welch einer Gesellschaft leben wir nur?

Viele liebe Grüße,
Medusa.

Geändert von Medusa (10.04.2009 um 14:20 Uhr)
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