Thema: Gnomenherz
Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 26.03.2012, 21:46   #1
Eskarina
Neuer Eiland-Dichter
 
Registriert seit: 26.03.2012
Beiträge: 6
Standard Gnomenherz

Prolog



Der Wind erwacht. Es ist ein junger, ungestümer Wind, der noch nicht so recht weiß, was er mit dem Tag anfangen soll. Er neckt die Spitzen der alten Tannen, biegt sie hin und her und rüttelt an den locker sitzenden Zapfen, so dass sie krachend zu Boden fallen. Er tobt durch die Schöpfe der mächtigen Eichen, wirbelt späten Tau aus den Blättern und plustert den roten Wams eines verschlafenen Eichhörnchens auf.
Er ist der Wind der Ebenen und Berghänge, der Hauch in den stillen Wäldern von Aurinsforst. Der Atem der klaren Flüsse und Seen. Regenbringer, Flüsterwort, Blätterspieler. Er hat viele Namen in den Sprachen der Völker des alten Landes.
Sachte streicht der Wind, der seinen Ursprung an den schroffen Küsten hat, über die nun vom Herbst getönten Ebenen, jagt und fängt sich an den steinigen Berghängen und verliert sich vorerst seufzend in den laubbedeckten Lichtungen des Waldes.


Dies ist das zu Hause der Baumgnömchen, der Hüter der Stämme und Sträucher, Bewahrer des Wissens der Bäume und größten Feinschmecker diesseits der goldenen Berge.
Wie bitte? Ihr wisst nicht, was ein Baumgnömchen ist? Wirklich?
Nun, dann wird es allerhöchste Zeit, diesen Herrschaften einen Besuch abzustatten.
Stellt euch eine alte, abgestorbene Baumwurzel vor: Dunkelbraun, knorrig und mit Moos und Flechten, vielleicht ein paar frechen Champignons bewachsen. Starr und alt und kalt und… plötzlich: Stellt euch vor wie Leben in das scheinbar tote Wurzelholz fährt, wie sich Arme und Beine aus dem Gewirr der Gewächse herausklauben, wie eine dicke Mooskapuze verrutscht und einen wirren, haarigen Schopf freigibt. Stellt euch vor, wie knubbelige Hände durch einen grünen Bart streichen, wie große, rehbraune Augen in die Sonne blinzeln. Ein erdfarbener Umhang wird umständlich (wegen des dicken Bauches) zurück geworfen, die Borkensandalen geräuschvoll mit den Hacken zusammengeschlagen. Eine Verbeugung, ein Kichern, ein verschmitztes Lächeln und ZACK: wie der Blitz ist die seltsame Erscheinung auch schon im dichten Unterholz verschwunden.
Das, meine Damen und Herren, war ein Baumgnömchen, beziehungsweise, es war das, was die meisten Fremdem von einem Baumgnömchen zu sehen bekommen. Menschen einmal ausgeschlossen, denn kein Baumgnömchen wäre heutzutage so dumm, sich einem „Tumben“ freiwillig zu zeigen. Davon einmal abgesehen: Welcher Mensch würde schon an das glauben wollen, was sich da gerade vor seinen Augen abgespielt hat?

Ja, dass ist das große Problem mit den Menschen. Sie schwören Stein und Bein, nur das zu glauben, was sie sehen. Und wenn sie „glauben“ und „sehen“ sagen, dann meinen sie das, was sie für wahr halten. Und wenn sie „wahr“ sagen, dann meinen sie das, was sie erklären können. Und das, meine lieben Leser, ist der Grund, warum die meisten Menschen geradezu mit Blindheit geschlagen sind.
Aber nicht so ihr, stimmt’s? Ihr habt euch entschieden, anders zu sein, noch bevor ihr dieses Buch aufgeschlagen habt. Ihr habt keine Angst vor dem, was nicht in den Tabellen und Berechnungen der Gelehrten zu finden ist. Nein. Nein?
Oh, das solltet ihr aber! Die Angst und die Furcht sind die stillen Begleiter des Abenteurers, müsst ihr wissen. Sie sind sein Schutz und gleichzeitig sein Kompass, denn sie zeigen an, wo die letzen Geheimnisse und Wunder dieser Welt zu finden sind. Deswegen scheut euch nicht vor dem Kräuseln eurer Nackenhaare und den Schatten, die um den hellen Lichtkegel der Leselampe herum schleichen. Keine Sorge, nein, keine Sorge.
All dies weißt euch den Weg in ein großes, buntes, dunkles, schreckliches Abenteuer.
Und das, meine lieben Leser - ich habe es schon am nervösen Zucken eurer Nasenspitzen erkannt - ist es, was ihr wirklich wollt.

Folgt mir also in den tiefen Aurinsforst, in die Welt der Gnome, Geister und Schatten.
Und fürchtet euch ruhig ein bisschen, denn Furcht ist, wie es ein Baumgnömchen wohl ausdrücken würde, das Salz auf dem Schmalzbrot einer guten Geschichte.
Wir treten nun ein in eine Welt, die nichts mit dem gemeinsam hat, was man in Schulbüchern oder anderen schlauen Schinken lesen kann.
Der Wind raschelt leise im Laub einer stillen Lichtung. Mittlerweile ist es Abend geworden und die Nachvögel begrüßen die heraufziehende Dunkelheit mit einem geheimnisvollen Lied.
Hier fängt die Geschichte an.

1. Kapitel - Später Besuch zur Mümmelstunde

Es duftete köstlich. Fufru beugte sich tief über die Schüssel und sog genüsslich den verheißungsvollen Dampf durch die Nüstern, der in wabernden, violetten Schwaden aufstieg.
Traumwurzel-Pudding mit Knusperkäfern, seine größte Leib- und Magenspeise.
Mit Bedacht tauchte er den Löffel in die seidig weiche Masse und hob vorsichtig ein paar der karamellfarbenen Knusperkäfer unter.
Unter den Baumgnömchen, die für ihren feinen Geschmackssinn ebenso bekannt waren, wie für ihren unverhältnismäßigen Appetit, galt Fufru als ein wahrer Gourmet und Feinschmecker.
Jetzt rasch noch ein paar Späne vom Knochenwurz-Pilz über den Pudding gehobelt, dann stand dem Festschmaus nichts mehr im Wege.
Gerade als Fufru den ersten Happen in seinem Mund verschwinden ließ, pochte es an der Türe.
„Verblitzt und verplotzt! Wer stört so spät zur Mümmelstunde?“ ärgerte sich das Gnömchen mit vollem Mund. Lukullische Genüsse nahmen in der Welt der kleinen Wurzelbewohner einen solch großen Stellenwert ein, dass sie die verschiedenen Tages- und Nachtzeiten nach den jeweiligen Mahlzeiten, Zwischen- und Zwischen-Zwischen-Mahlzeiten benannten.
Die Mümmelstunde war die Zeit nach dem eigentlichen Abendbrot und vor dem Zubettgehen. Diese besondere Zeit des Tages war auch der Entspannung, dem Rückzug und Schmökern in alten Büchern gewidmet, nicht selten verbunden mit dem Genuss des einen oder anderen Moospfeifchens. Man störte einander nicht zur Mümmelstunde.
Behäbig rutschte Fufru von seinem Hocker und schlurfte mit nur mäßigem Elan zur Eingangstür. Er erhob die Eichelschale vom Astloch, das ihm als Spion diente und lugte hinaus in die dunkle Nacht.
„Ja bitte, ja bitte?“ krähte er etwas unwirsch „Was ist dein Begehr, später Besucher?“.
Nichts war zu sehen, nichts rührte sich draußen in der Dunkelheit.
„Hmpf“ machte Fufru und lies die Eichelklappe zurück schnappen. „Hmpf.“
Unschlüssig kratze er sich hinter einem seiner großen Ohren und schüttelte verdrießlich den Wuschelkopf. Dann zuckte er mit den Schultern und watschelte zurück zum großen Küchentisch. Gerade als er sich wieder auf den gemütlichen Hocker gefläzt und den zweiten Löffel der nunmehr etwas erkalteten Speise zum Mund geführt hatte, pochte es erneut an der Tür. Diesmal jedoch war das Pochen viel lauter und fordernder, als wenn jemand mit einem harten Gegenstand gegen die Tür hämmerte. Etwas aus der Fassung gebracht lies das Gnömchen den Löffel in den Pudding fallen, so dass dieser über den Tisch, seinen Wams und die Hose kleckerte.
„Verblitzt und verplotzt! Jetzt ist es aber genug!“ ärgerlich schnaubend sprang der sonst eher gemütlich veranlagte Fufru erneut von seinem Hocker, eilte durch die Diele und riss mit großen Schwung die schwere Eingangstür auf.
Eisig drang der kalte Winterwind in die kleine Höhle, brachte die auf den Regalen liegenden Papiere, Karten und Manuskripte durcheinander und stob dann in den Kamin. Aschestaub und Blätter wirbelten durch die Luft und vermischten sich mit den hereinschneienden Schneeflocken.

Der Gnom tat einen unsicheren Schritt vor die Tür und blinzelte in die kalte Nachtluft. Niemand war zu sehen. Weiße Wölkchen bildeten sich vor Mund und Nase und Eiseskälte kroch ihm in die Zehenspitzen. Verwirrt trat Fufru rückwärts in die Wohnung, schloss die Türe und drehte sich um. Was er dann erblickte, ließ ihn erstarren.

Geändert von Eskarina (27.03.2012 um 11:27 Uhr)
Eskarina ist offline   Mit Zitat antworten