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Alt 25.05.2011, 15:58   #10
Stimme der Zeit
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Hallo, Faldi, und Hallo, alle "Mit-Interessierten",

besser spät als nie ...
(Diesen Kommi hatte ich völlig vergessen )

Du stellst die Frage:

Zitat:
wessen Illusion wir dann eigentlich sind.
Da sich "meine Illusion" ziemlich "real anfühlt", müsste schon ein gewaltiges Bewusstsein dahinter stehen, um sich diese, im wahrsten Sinne des Wortes, einzubilden.
Also, ich stelle gleich am Anfang mal fest: Ich glaube nicht daran, dass das menschliche "Ich" nur illusorisch ist. Das nur, damit es betreffs des Folgenden keine Missverständnisse gibt, denn ich spiele zuerst den "Advocatus Diaboli".

Also: Diese Theorie geht davon aus, dass das, was wir uns unter dem Begriff "Ich" vorstellen, wäre nur ein geistiges "Rechenmodell". Dieses Modell entsteht im Laufe der (früh)kindlichen Entwicklung, erweitert und verfeinert sich dann im Laufe des Lebens ständig. So wird davon ausgegangen, dass es irgendwann in einer Phase der vormenschlichen Evolutionsgeschichte eingeführt wurde. Da es sich im Sinne eines echten Überlebensvorteils bewährte, wurde es beibehalten. Ein fiktives Szenario als Beispiel: Ein "Vormensch", der auf auf einem Baum saß, konnte von seinem Standort aus auf den benachbarten Baum blicken. Dort hingen sehr leckere Früchte. Aber: Um an sie heran zu kommen, musste er von seinem Ast auf einen Ast des anderes Baumes springen. Sein Vorteil, als er sein "Ich-Bewusstsein" entwickelte: Er konnte die Gegebenheiten durchdenken. Er war in der Lage a) festzustellen, dass er auf einem Ast saß; b) durch bewusstes Denken konnte er einschätzen, wie die Äste beschaffen sind (durch Vergleiche aus bereits gewonnenen Erfahrungen, aus der Erinnerung) und so erkennen, ob die Äste in der Lage wären, sein Gewicht auszuhalten; c) zu erkennen, dass sein Gewicht beim Auftreffen auf den anderen Ast höher ist als sein tatsächliches Körpergewicht und d) aus allem die Schlussfolgerung ziehen, ob er den Sprung wagen kann oder nicht. Das ist nicht alles, ein Bewusstsein ist in der Lage, sich daraus "Vorstellungsbilder" zu erschaffen, d. h. der Vormensch kann "vorausdenken", sich also bildlich vorstellen, was passieren wird - Extrapolation.

Eine Eigenschaft des menschlichen Bewusstseins, die dafür sorgt, ist die Fähigkeit des analytischen Denkens und der Abstraktion. Wenn ich das tue, dann kann das passieren, dann wird das passieren (er stellt sich die Szenarien vor und "spielt" sie geistig durch), und so kann unser Vormensch entscheiden, ob er springt, also die Chance auf Nahrung das Eingehen eines Risikos lohnt, und ob das Risiko "tragbar" ist. Ein "Ich" kann sämtliche Varianten "vorwärts und rückwärts" durchdenken - ohne den Sprung tatsächlich auszuführen, also nur in der Imagination. Worin liegt der ganz besondere Vorteil? Dadurch wird die Gefahr minimiert, es beginnen nicht Instinkt und Bedürfnis allein zu walten, sondern hier kommt der "Verstand" hinzu. Die Wahrscheinlichkeit des Überlebens steigt explizit an. Deshalb hat sich die Spezies Mensch durchgesetzt. Denn Tatsache ist: Kunst ist Abstraktion, Sprache ist Abstraktion, und die Schrift ist eine Abstraktion. Wir nehmen Symbole (Buchstaben, Schriftzeichen, Zahlen) und nutzen diese als "Stellvertreter" für die Dinge. Z.B. "B A U M" - ein Symbol B, ein Symbol A, ein Symbol U, ein Symbol M und das "Wort-Symbol" BAUM. Wir lernen, diese Symbole zu deuten und zu kombinieren, das erhöht unsere Fähigkeit zur Kommunikation (dem Austausch von relevanten Informationen) ganz enorm! Als aus dem Vormensch ein "Mensch" wurde, konnte dieser seiner Sippe mitteilen: "Der Ast hält. Kommt mit, ich habe einen Obstbaum voller Früchte gefunden!" So steigen nicht nur die eigenen Überlebensschancen, sondern die seiner Familie/Gruppe ebenso und dadurch auch die der ganzen Spezies. (Hier nur zur Verdeutlichung, denn das nahm seinen Anfang durch den "Auftritt" des "Ich-Bewusstseins")

Jeder, der den Bedeutungsinhalt der Symbole erlernt hat, kann geistig erkennen, aha, hier geht es um einen Baum - das Gehirn "dechiffriert" und setzt die Symbole wieder in Bilder (Töne, Gefühle) um, denn wir denken "bildhaft". So funktioniert auch die gesprochene Sprache mittels einer "Lautsymbolik" und auch die "Klopfsprache" für Menschen, die blind und taub sind mittels einer "Berührungssymbolik". Auch die Fähigkeit, in "Oberbegriffen" zu denken, ist eine Abstraktion. Wir können sagen: Das ist eine Fichte, das ist eine Buche, das ist eine Eiche - und wir können sagen, das sind alles Bäume. In diesem Sinne ist die Sprache eindeutig eine Form von Kunst - und die Schrift ebenfalls. Willkommen im Reich der Abstraktion und der Symbolik - einem Gedichteforum!

Jetzt kommt meine Rolle als "Advocatus Angeli", denn die Behauptung vom "Illusionären Ich" hat einen gewaltigen "Haken". Weshalb sollte eine Illusion einen echten Überlebensvorteil bieten und ein tatsächliches Ich nicht? Diese Behauptung erschließt sich mir nicht. Denn das wäre ja, als ob ich mir ein Butterbrot vorstelle (also die "Illusion eines Butterbrotes") und illusorisch hineinbeiße, um mir dann vorzustellen, ich hätte gegessen und wäre satt. Mein Tischnachbar dagegen mampft fröhlich ein Echtes. Wer würde da wohl auf die Dauer verhungern? Das führt den angeblichen "Vorteil" der Illusion gegenüber dem Realen ad absurdum. Eine Illusion soll also besser für das Überleben sein als die wirkliche Existenz - na, Mahlzeit!

Die Fähigkeit, uns "Illusionen zu machen" ermöglicht dem realen Sein, zu überleben, eine "Begabung", die wir Fantasie nennen ...

Und, Faldi, da hast du absolut recht: Die Bedeutung des Begriffs der Illusion bedingt, dass etwas Reales da sein muss, das sich eine illusionäre Vorstellung macht. Damit eine "Ich-Illusion" existieren kann, muss irgendetwas sich diese Illusion vorstellen. Eine Illusion kann sich keine Illusionen machen! Quod erat demonstrandum.

Sehr gerne mitgedacht!

Liebe Grüße

Stimme der Zeit
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Geändert von Stimme der Zeit (25.05.2011 um 16:01 Uhr) Grund: Tippfehlerteufel oder Tippfehlerengel?
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