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Alt 13.05.2015, 09:21   #1
Friedhelm Götz
Schüttelgreis
 
Registriert seit: 02.11.2011
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Standard An die Nacht - Kranz-Fragment nach einem Sonettenkranz von Josef Weinheber

O Nacht, du dunkle, einst so holde Zeit,
du Herrin, siehst mich freud- und leiderfahren,
du kennst mein Herz, soll ich es offenbaren,
wo längst schon Schnee auf meine Haare schneit?

Du gabst mir Trost in manchem Herzeleid
und warst Vertraute in den Kinderjahren,
und dennoch konntest du mir nicht ersparen,
was mir bestimmt war schon von Ewigkeit.

In deinen Armen war das Kind geborgen,
und hört ich Mutter mir ein Schlaflied singen,
dann trugen Engel mich auf sanften Schwingen

mit süßen Träumen in den neuen Morgen.
O könntest, Nacht, die Zeit du wiederbringen,
als still die Mühn des Tags zu Ende gingen.

2
Als still die Mühn des Tags zu Ende gingen,
ließt du, o Nacht, die Himmel sanft verdunkeln
und abertausend Sterne für mich funkeln,
mich zauberhafte Nächte so verbringen!

Wo hinter Traumgardinen ferne Welten
sich öffneten, sie träumend zu durchfliegen,
um wohlig mich in selgen Schlaf zu wiegen,
ein kleiner Prinz in himmlischen Gezelten.

O Nacht, wie schön war dieses Sterneblicken,
O, kämen doch die Zeiten nochmals wieder!
Die Sterne singen ewig ihre Lieder.

Ach, gönntest du mir weiter dies Entzücken,
denn hörte ich der Sterne Lieder klingen,
mich süße Träume ruhevoll umfingen.

3
Mich süße Träume ruhevoll umfingen
zum Flug durch Himmel in die ewge Weite,
gabst du mir, Nacht, dein sicheres Geleite
und du verliehst der jungen Seele Schwingen.

Es schien ein Saitenspiel in mir zu klingen,
je mehr ich mich den Himmelsklängen weihte,
trat demutsvoll mein eitles Ich beiseite,
denn es begann die Seele selbst zu singen.

O Nacht, du hast mich Erdenwicht geleitet,
mir Herz und Sinne durch das Licht geweitet,
dass mir in Welten tiefste Sicht gelungen,

als mir der fernen Sterne Licht gesungen.
O Nacht, warst Hort mir der Geborgenheit,
verweigerst nun des Schlafes Seligkeit.


4
Verweigerst nun des Schlafes Seligkeit:
Geborgenheit, die ich im Schlaf gefunden,
ist sie für immer mir dahin geschwunden?
O Nacht, einst holde, doch jetzt finstre Zeit.

Du schienst begnadet mit Vollkommenheit
und warst mir Trost in nächtlich schweren Stunden.
Nun aber schlägst du selber mir die Wunden
und hältst nur Bitternis für mich bereit.

Du willst dem Leib das frohe Herz entwinden?
Missfallen so dir Frohsinn und Vergnügen?
In Schwermut will das Herz sich noch nicht fügen.
Du wirst nur Liebe dort geschrieben finden.

O Nacht, du dunkle, einst so holde Zeit,
du stößt mich in die tiefste Dunkelheit.
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