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03.08.2016, 10:00 | #1 |
Holger
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Interview zwischen Timo Brandt und Holger Jürges
Interview zwischen Timo Brandt (Universität für Sprachkunst in Wien) und Holger Jürges
Brandt: Es gibt für mich einen sehr irritierenden Abschnitt in einem Essay von Paul Groussac über Octavio Paz. Da heißt es: „Der Dichter kommt nicht über die Fußnoten hinaus. Alles, was er je beschreiben wird, ist die nie bewiesene Funktion, nie belebte Beschaffenheit und nicht aufzubereitende Tiefe der Erscheinungen, die doch Erscheinungen bleiben. Wir machen das Wunder in ihnen steiler, wir schicken uns selbst in einen neuen Blick. Aber das Kuvert bleibt unverschlossen, wie Paz und jeder andere große Dichter begreifen muss.“ Was halten sie von diesem Gedanken? Jürges: Die Kunst des Dichtens kann ja immer nur den äußersten Rand des gerade noch Denkbaren streifen; dennoch wohnt ihr eine den Geist entgrenzende Macht inne, woraus uns zuweilen ein Glanz entgegentritt, von Schönheit und Liebe, in einer sehr direkten Nähe zu Mensch und Welt. – Jenes kennzeichnet das besagte Wunder einer grandiosen Anschauung von nichts was zu beschreiben – im besten Sinne dieses Wortes - wäre; das ist universell und trifft somit auf jeden Dichter zu: dieses Unverständliche spiegelt sich im zu Verstehenden wieder und lässt uns auf diese Weise emergierend zumindest die Tiefe der Erscheinungen erahnen. Bei unseren Überlegungen ist es vielleicht hilfreich, uns ein wenig vom Verstand weg, hin zum Herzen zu neigen: Blaise Pascal schrieb einmal: „Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît pas.“ was man mit den Worten „Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.“ übersetzen kann. – Und so sind wir beim „unverschlossenen Kuvert“ von Paul Groussac angelangt: Es steht uns immer offen, unsere menschliche Natur tiefer zu empfinden – es tun sich dabei unerschöpftliche Gründe auf. – Die vornehmste Aufgabe von Dichtung ist es, uns dabei den Lichtkegel aufs Wesentliche zu richten. Man kann es in einem Satz sagen: Das scheinbar Disparate zwischen Diffusion und Sichtbarem wird in einem guten Gedicht durchdrungen und führt so, in einem sublimen Wahrnehmungsprozess, zur Erkenntnis des pars pro toto. Brandt: Sie sprechen vom „Herz“ und stellen dieses schlichte lebenserhaltende Organ, zusammengeführt mit der Idee, dass es ein Gefäß für Seele und Liebe ist, dem Verstand gegenüber. Den Verstand verlassen, das Herz betreten – könnten sie den Übergang zwischen diesen beiden Polen irgendwie beschreiben, fixieren, anhand eines Beispiels fassbar machen? Jürges: Wir können dieses Empfinden, das dem Verstand exotisch erscheint, auch als Bauchgefühl oder Intuition bezeichnen; übrigens hat Platon damals jenes Bauchgefühl über die Ratio gestellt, in seinen Überlegungen über die menschliche Natur. – Vielleicht bringt es der Satz: „Das Herz ist im besten Falle einer Entscheidung der Ingenieur und der Verstand sein Hilfsarbeiter.“ auf den Punkt. Nun aber zum Kern deiner Frage: Eine ausgeprägte Achtsamkeit – in vollendeter Form nennen wir sie meditativ – ohne eine direkte Reflexion zum Außen, also das berühmte „in sich Hineinhorchen“, lässt uns indeterministische Zustände erfahren, deren Aufsteigen ins Bewusstsein keine Ursachen haben, die rational zu erklären wären. Wenn wir eine besondere geistliche Befindlichkeit, die nur darauf wartet sich der jeweiligen Seele zu schenken, anstreben – es gibt dafür berühmte Beispiele, wie etwa die „Die Große Kommunion“ (nach Rüdiger Safranski) von Rousseau – begreifen wir dies als einen Schlüssel zum Erfahren von Zuständen, die unser duales Empfinden – und somit die Grundlagen unserer Wahrnehmung – entscheidend erweitern, hin zu größeren Nähen unserer wahren Natur. – Auf diese Weise nähern wir uns auch den „Gründen des Herzens“, die Pascal beschreibt, um gleichzeitig fasziniert die Grundlagen für das Schaffen von Kunst wahrzunehmen: dort treiben wir an den Säumen einer ungeheuren Peripherie der Möglichkeiten. Brandt: Glauben sie, dass dieser spirituelle Zugang beim Schaffen und Beurteilen von Kunst unausweichlich ist oder ist er nur ein größerer Aspekt, eine von mehreren Erfahrungen, die wir beim Umgang mit Kunst machen können? Jürges: Das Streben des Künstlers muss doch sein, jenes, was man seine individuelle Natur nennen kann, bis ans Ende aller Räume auszuschöpfen. – Es gibt keine Maßstäbe dafür: Der unentrinnbare, die Seele bannende, Imperativ treibt den Schauenden zielgenau in die Preziosen der Unendlichkeit. – Wenn man ein solches Erfahren spirituell nennen möchte, dann ist das Schaffen von Kunst ohne diesen Aspekt undenkbar. Und was den allgemeine Stellenwert von Spiritualität in der Kunst angeht, kann man sich die Frage stellen, wie sich beispielsweise das Werk Goethes oder der Romantiker ohne den Einfluss der Gedanken von Jakob Böhme und Jean-Jacques Rousseau auf diese Personen entwickelt hätte. – Ich möchte zudem Jorge Luis Borges zitieren: [. . .] ". . . Im ersten Fall, bei San Juan de la Cruz, bedenken wir, daß er die höchste Erfahrung erreicht hat, zu der die Seele eines Menschen fähig ist – das Erleben von Ekstasen, die Verschmelzung einer menschlichen Seele mit der Seele der Göttlichkeit, mit der Seele der Gottheit, Gottes. – Als er diese unausprechliche Erfahrung gemacht hatte, mußte er sie irgendwie in Metaphern mitteilen. – Da er das „Hohelied“ zur Hand hatte, nahm er (wie viele Mystiker es taten) das Bild der sexuellen Liebe als ein Bild der mystischen Vereinigung zwischen dem Menschen und seinem Gott, und er schrieb das Gedicht. Brandt: Ist denn das Klassische das Maß aller Dinge? Schon Karl Kraus sagte um 1921: „Es gibt heute viel Explosives in der Kunst, aber wenig Haltbares“, womit er ja praktisch andeutet, dass zeitgenössische und moderne Kunst bemerkenswert sind, aber schnell verschleißen, ähnlich wie die von den Menschen neu erzeugten chemischen Elemente, die so instabil sind, dass sie nach kurzer Zeit wieder zerfallen. Aber gibt es ihrer Auffassung nach überhaupt „Verschleiß“ in der Kunst? Jürges: Das „Maß aller Dinge“? – So etwas ist zumindest wandelbar, auch wenn die Wahrheiten immer dieselben bleiben. – Paradigmenwechsel, wie sie in einer besonderen Weise die Erkenntnisse aus der Quantenphysik eingeleitet haben, lehren uns das Fragile der Zeit, ohne eine letzte Sicherheit im Irdischen. – Thomas Mann bemerkte dazu: „Die Quantenphysik ist eine Wissenschaft, in der Dinge vor sich gehen, phantastischer als alles, was Dichtung ersinnen könnte, und wichtiger, verändernder für den Menschen und sein Weltbild als alles, was Literatur zu leisten vermag.“ Aber zwingt das auch die Dichtkunst zu Anpassungsprozessen? Wenn seit Vergil die Dichter aus demselben Wahrheitsgrund schöpfen, dann war das dem Urgund Entstiegene schon immer immateriell und somit erstaunlich aktuell und ist in letzter Konsequenz zeitlos. – Wenn wir Kunstwerke als autonome Gebilde begreifen, gibt es keinen Verschleiß in der Kunst, höchstens einen Wandel, der die Farbpaletten neu mischt. Brandt: Sie sprechen unbefangen von Farbpaletten, von Wahrheit und Kunst, als seien diese Dinge selbstverständlich und selbsterklärend. Haben sie eigentlich schon einmal an der Kraft der Sprache gezweifelt? Daran, dass bestimmte Worte und Begriffe, egal wie inflationär sie bereits sind, dass ausdrücken, was du sagen und mitteilen willst? Braucht es nicht deshalb stets den Wandel in der Metapher und den Prämissen der Dichtung, damit sie sich der Inflation entziehen kann? Oder ist Dichtung, Poesie, schlicht nicht von der Inflation der Sprache betroffen, ihrer Ansicht nach? Jürges: Der Sinngehalt oder die Kraft der Sprache, die ja unser Menschsein bedingt, stellt im Gedicht eine gänzlich andere Bedeutungsebene dar als im Alltag. – Der poetische Moment ist das Bemühen, das ganze Sein zu umfangen. – Ich liebe Worte, die das Leuchten von Kinderaugen oder die bleiche Ferne des Mondes ausdrücken, die nach Meer schmecken und dem Staub ewiger Wüsten. – Worte, die Visionen ausrufen wie Dantes „Göttliche Komödie“, deren mächtiger Ton nicht einmal in der Zukunft verhallen wird. – Die besondere Kraft solcher Art von Sprache ist Evolution und Leitstern zugleich und ein Zeugnis der Treue des Menschen zum Menschen. – Es leuchtet schon etwas Geheimnisvolles darin, wenn der Dichter jenes ergreift, was den Sinnen gehört und mit dem verbündet, was reiner Geist ist. – Nie würde mir also in den Sinn kommen, an der Kraft der Sprache zu zweifeln, die glorreich transzendent wirken kann, wenn die lyrische Sprache sich auflöst in Bilder und auf diese Weise ganze Welten im Innersten erschafft. – Dennoch kann das Wort niemals in Gänze aufrichtig sein, gemessen an den letzten Wahrheiten dieser Welt, es kann aber ein großes Schauen bewirken, hin zum Glanz der Seele – zur Innigkeit mit allem was ist. Der Dichter ist ja Konzeptualist; dieses Denkgebilde findet in der Metapher eine ideale Verwirklichung seiner selbst, das heißt, dass sich die Bedeutungszusammenhänge entscheidend erweitern lassen und dem von Dir benannten Inflationären in der Zeit/Sprache durch eine sich wandelnde Anschaulichkeit besonders entgegenwirken können. Eigentlich ist der lyrische Diskurs stetig, ohne in Wiederholungen zu verfallen, was nicht heißen soll, das Vergangenes obsolet ist, denn wir hatten ja schon ausgeführt, dass Gedichte autonome Gebilde sind, die zeitlos in ihrem ewigem Wert schweben. – Und dieser angestrebte Wert in der Dichtung wird eben auch durch Veränderung und Wandlung erzielt und kennzeichnet damit den Charakter von Kunst überhaupt. Schiller hat einmal gesagt: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen.“ Brandt: Es gibt einen Text von Milan Kundera, in der er die wichtigsten 38 Wörter seines Romanschaffens auflistet und jedes von ihnen, mit dem Sinn- und Seinszusammenhang, den er darin begründet sieht, erläutert. Wenn sie die Gelegenheit hätten fünf Wörter, die für ihre Dichtung oder Gedankenwelt unschätzbar wichtig/bedeutsam sind, die wiederkehrende Impulse und Verwirklichungen liefern, auszuwählen und mit ihrem ureigenen Verständnis dieses Wortes zu beleuchten, welche wären es? Jürges: Urgrund, Liebe, Schönheit, Unsagbarkeit und Dasein. Brandt: In was für einem Verhältnis steht die Unsagbarkeit zu ihrem dichterischen Schaffen? Jürges: Das Ringen des Dichters darum, auch dem Unsagbaren Ausdruck zu verleihen, beginnt zum Beispiel mit der oben benannten Metapher als Möglichkeit und Mittel. – Dazu fähig zu sein, im Sinne einer Synästhesie Dinge vielschichtig wahrzunehmen, zu evozieren, kann entscheidend dazu beitragen, in einem geistigen Umwandlungsprozess die Möglichkeiten der Sprache zu erweitern. – Wenn Poesie auf diese Weise über das Unsagbare triumphiert – es gibt einen Ausdruck dafür: Das Inkommensurable – geschieht das Paradoxe, dass sich Dinge, welche sich dem Ausdruck entziehen, bildhaft im Geiste formieren. Ich sage bewusst „im Geiste“, weil solches nicht rational denkbar ist; somit gibt es dabei durchaus Überschneidungen mit der Mystik. – Auch heute wirken Dichter, wie zum Beispiel Durs Grünbein, deren Metaphysik an das zurückliegende Streben von Dichtern anknüpft. – Wittgenstein sagte einmal, dass man darüber „Schweigen muss, worüber man nicht sprechen kann“, dem möchte ich widersprechen, weil es in der Dichtung durchaus Möglichkeiten gibt, etwas Unsagbares auf eine geheimnisvolle Weise zum Entflammen zu bringen. – Dieses Feuer der Urbrunst, wie ich es einmal nennen möchte, heißt es im Geplärr unserer Zeit am Glühen zu halten. – Man spürt jenen Zauber auch bei einfachen Gedichten wie Eichendorffs „Mondnacht“, dessen Verse an etwas anklingen, das schlicht nicht zu sagen ist – dem tiefsten Glühen von Dichtung überhaupt: Der Blick über die Gipfel des Schluchtengebirges unseres Lebens hinaus. Dieses Bemühen, hineinzuhorchen in die wirkliche Natur der Dinge – das Unsagbare umzuwandeln in etwas zu Verspürendes – durchzieht all mein Schaffen als Dichter.
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„ . . . wenn uns das Lärmen der Tage erschöpft, tun sich leise träumend Land und Himmel auf, – Wiesen werden zu sanften Brüdern.“ |
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