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27.06.2014, 23:06 | #1 |
Lyrische Emotion
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Der alte Gartengeist
Der alte Gartengeist Wenn hinter Ates Schloss im Totengarten sich etwas regt zur Vollmondmitternacht und schemenhaft in freudigem Erwarten zu gaukelhafter Existenz erwacht, wenn Nebelschwaden jede Sicht verschleiern, um eines Spukes Zwangsgeburt zu feiern, wenn alle Wirklichkeit im Licht vereist, dann kommt der Geist, der alte Blendergeist. Die Kette klirrt. Die morschen Knochen knacken. Ein Stöhnen hallt. Es schlottert das Gebein. Die Haare sträuben sich bis hin zum Nacken und eine Wahnvorstellung stellt sich ein. Wenn hinter den diffusen Illusionen ein Greis auf jener Bühne Tango tanzt, noch während er mit ranzigen Zitronen jongliert, die man für ihn dort angepflanzt ganz heimlich hatte, wenn in seinen Dialogen die Wahrheit klingt, als sei sie arg verbogen, wenn dieser sich gar als Gerechter preist, dann ist's der Geist, der alte Lügengeist. Die Kette reißt. Die morschen Knochen klappern. Ein Stöhnen seufzt. Es glimmert das Gebein. Und monoton vernetzt sein stetes Plappern sich immer tiefer in den Trug hinein. Wenn schließlich wieder leiernd eine Predigt gehalten wird vor großem Publikum, in welcher man sich jeder Schuld entledigt, wenn man ganz ahnungslos sich gibt und dumm den Dingen gegenüber, die geschehen, wenn alle, die es sehen, doch nicht sehen, dass man sie mit Vergnügen nur bescheißt, dann lacht der Geist, der alte Gartengeist. Die Kette glüht. Die morschen Knochen rappeln. Ein Tönen stöhnt. Es blubbert im Gebein. Er lässt im Lügennetz die Leute zappeln und glaubt der Geist von Sanssouci zu sein. Falderwald . .. .
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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine) Für alle meine Texte gilt: © Falderwald --> --> --> --> --> Wichtig: Tipps zur Software |
28.06.2014, 19:02 | #2 |
TENEBRAE
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Hi, Faldi!
Wortgewaltig und bildgewaltig gleichermaßen! Ich erlaube mir zu vermuten, dieses Werk könnte eine "dezente" Anspielung auf etwas oder jemanden sein, der/das andere verblendet oder verblendet ist. Auch die Wahl des "Gartens" weist dezent in diese Richtung, allerdings könnte ich alte Sozialruine niemals erkennen, ob dies alles wirklich so ist wie vermutet, dazu verfolge ich die Geschehnisse in den Foren einfach zu wenig, weil mich Zwischenmenschliches nur sehr bedingt anregt und interessiert. Ich weiß also weder, ob meine Vermutung richtig ist, noch worauf du damit unter Umständen anspielst. Dennoch habe ich dies sehr gerne gelesen, einfach schon alleine wegen des guten lyrischen Stils und der Intensität der beschworenen Stimmung! LG, eKy
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen. Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen! Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind. Dummheit und Demut befreunden sich selten. Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt. Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit. |
28.06.2014, 19:26 | #3 |
Lyrische Emotion
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Servus Erich,
vermuten darf jeder, was er will, dies steht ihm selbstverständlich frei. "Ate" verkörpert in der griechischen Mythologie tatsächlich die Verblendung, das hast du gut erkannt. Sie stürzt Menschen und Götter in ihr Verderben, indem sie ihre Opfer betört und verblendet und dadurch zu unüberlegten, leidenschaftlichen Handlungen verführt, was schlussfolgern lässt, dass sie in verschiedenen Gestalten aufzutreten vermag. Hier erscheint sie als greiser Geist mit klappernden Knochen in Ates dusterem Schlossgarten und treibt dort ihr Unwesen, indem sie eine Vorstellung des Wahns inszeniert, um ihr Publikum zu verblenden. Allen Menschen, die mit einem realistischen Wahrnehmungssystem ausgestattet sind, merken sofort, dass hier was im Busche ist und lassen sich nicht so leicht täuschen. Nur die Gutgläubigen fallen auf eine solche Farce herein. Und auch wenn sie später vielleicht merken, welchen Illusionen sie aufgesessen sind, können sie nicht mehr zurück, weil sie sonst ihr Gesicht verlieren und halten weiter an diesem Spuk fest. Und so lebt die Legende weiter und der olle Lügengeist aus Ates Garten macht ihnen vor, sie befänden sich in dem wundervollen Schlosspark von Sanssouci. Illusion perfekt und durch Lügen gesichert, denn die Wahrheit sieht ja nun ganz anders aus. Das müsste selbst eine "alte Sozialruine" wie dich überzeugen können, nicht wahr? Vielen Dank für deinen Kommentar... Liebe Grüße Bis bald Falderwald
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28.06.2014, 19:53 | #4 |
Senf-Ei
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Beiträge: 861
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Hi Faldi,
hier präsentierst Du uns mal kein Sonett, sondern eine sozialkritische Ballade in einer raffiniert aufbereiteten, sehr ansprechenden Strophenform nach dem Reimschema a b a b c c d d e f e f. Wenn Ate, die Göttin der Verblendung, die Menschen beschleicht und ihnen Trugbilder in die Köpfe pflanzt, muss das Szenario einem Beobachter mit gesundem Menschenverstand wie eine Horrorgeschichte erscheinen. Die Gebeine sind ein treffendes Bild für das Nichtexistente (Erfundene) das für die Verblendeten (in der Bedeutungsebene würde man sagen: Indoktrinierten) tatsächlich real und lebendig zu werden scheint. Der Zuschauer, der nicht in das Lügensystem (hier als Totengarten dargestellt) eingebunden ist, denkt die ganze Zeit: Das kann doch nicht wahr sein, dass diese Menschen das alles wirklich glauben, und steht dem Geschehen fassungslos gegenüber. Da kann einen schon die Angst packen! Das hast Du in Deinem Gedicht sehr anschaulich und technisch einwandfrei rübergebracht. Huh, jetzt brauch ich erstmal was Warmes, damit die Gänsehaut wieder verschwindet. Liebe Grüße Claudi |
28.06.2014, 21:24 | #5 |
Lyrische Emotion
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Moin Claudi,
*Decke rüberwerf und heißen Tee anbiet* Eine solche Vollmondgartenmitternacht kann einen schon frösteln lassen, vor allem, wenn Ate in Gestalt eines solchen Geistes auftritt. Das ist eine Horrorgeschichte, die es in sich hat, denn es geht hier um die Ideologie der Verlogenheit, die Kehrseite der moralischen Grundsätze, die manch einer so gerne argumentatierend in den Vordergrund stellt. Der eine tut dies aus Unwissenheit und Gutgläubigkeit, ein anderer benutzt dies schamlos, um seine eigenen Verfehlungen / Fehler damit zu überdecken. Manche Leute bezahlen gepfefferte Eintrittspreise, um einen Illusionskünstler wie David Copperfield live zu erleben. Dort wird ihnen Magie geboten und man möchte gerne daran glauben, obwohl man weiß, dass hier mit allen Tricks gearbeitet wird. Das ist natürlich eine tolle Show, die man gerne sieht. Andere hingegen bekommen eine solche Aufführung unfreiwillig geboten und wissen gar nicht, dass es so ist bzw. möchten gerne glauben, dass es nicht so ist. Wer aber nun die technischen Möglichkeiten besitzt, eine solche Illusion zu erzeugen, der wird dies bestimmt genau so gerne umsetzen, wie David Copperfield. Und deren Tricks und Fähigkeiten muss man als Laie natürlich erst einmal durchschauen. Aber ich stimme dir zu, wenn sich eine Gruppendynamik aus Trotz entwickelt, dann kann einem schon Angst und Bange werden, weil man wieder einmal bestätigt sieht, was eine gut gemachte Verblendung anzurichten vermag, wenn man keine Möglichkeit besitzt, hinter die Kulissen zu schauen und nur das serviert bekommt, was auch bekömmlich ist. Würden jetzt alle Karten aufgedeckt, wäre das darstellende Spiel zu Ende, denn wenn alle Trümpfe auf einer Hand versammelt sind, kann man nur aufgeben, weil man nun sieht, dieses Spiel wurde künstlich um des Spieles Willen aufrecht erhalten. Welchen Sinn macht das dann also noch? Und trotzdem wird dieses Spiel fortgeführt, so lange es geht, damit Ate zu ihrem Recht kommt. Doch auf die Dauer wird es unheimlich schwer, sich als Geist von Sanssouci zu etablieren, vor allem weil dieser eine Marionette ist, deren beweglichen Glieder für einige sichtbar schon an einem seidenen Faden hängen. Irgendwann fallen diese morschen Knochen ganz von selbst auseinander. Wetten, dass...? Vielen Dank für deinen freundlichen Kommentar und deine Gedanken zum Thema... Liebe Grüße Bis bald Falderwald
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29.06.2014, 17:17 | #6 |
Gast
Beiträge: n/a
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Hallo Falderwald :)
Ich bin schwer beeindruckt, wie wortgewaltig dieses Gedicht ist. Es zeigt Kraft und ist phantasievoll!
Bei Wickipedia habe ich etwas zu Ate gefunden, da ich sie noch nicht kannte. Zitat: Ate (griechisch Ἄτη „Verblendung“) verkörpert in der griechischen Mythologie die Verblendung. Nach Hesiod[1] ist Ate eine Tochter von Eris, der Göttin der Zwietracht und Enkelin der Nyx, dort zusammen mit ihrer Schwester Dysnomia („Ungesetzlichkeit“) genannt. Mir gefallen auch die Wiederholungen im Gedicht, und die Steigerungen. Wenn hinter Ates Schloss im Totengarten sich etwas regt zur Vollmondmitternacht und schemenhaft in freudigem Erwarten zu gaukelhafter Existenz erwacht, wenn Nebelschwaden jede Sicht verschleiern, um eines Spukes Zwangsgeburt zu feiern, wenn alle Wirklichkeit im Licht vereist, dann kommt der Geist, der alte Blendergeist. Die Kette klirrt. Die morschen Knochen knacken. Ein Stöhnen hallt. Es schlottert das Gebein. Die Haare sträuben sich bis hin zum Nacken und eine Wahnvorstellung stellt sich ein. Wenn hinter den diffusen Illusionen ein Greis auf jener Bühne Tango tanzt, noch während er mit ranzigen Zitronen jongliert, die man für ihn dort angepflanzt ganz heimlich hatte, wenn in seinen Dialogen die Wahrheit klingt, als sei sie arg verbogen, wenn dieser sich gar als Gerechter preist, dann ist's der Geist, der alte Lügengeist. Die Kette reißt. Die morschen Knochen klappern. Ein Stöhnen seufzt. Es glimmert das Gebein. Und monoton vernetzt sein stetes Plappern sich immer tiefer in den Trug hinein. Wenn schließlich wieder leiernd eine Predigt gehalten wird vor großem Publikum, in welcher man sich jeder Schuld entledigt, wenn man ganz ahnungslos sich gibt und dumm den Dingen gegenüber, die geschehen, wenn alle, die es sehen, doch nicht sehen, dass man sie mit Vergnügen nur bescheißt, dann lacht der Geist, der alte Gartengeist. Die Kette glüht. Die morschen Knochen rappeln. Ein Tönen stöhnt. Es blubbert im Gebein. Er lässt im Lügennetz die Leute zappeln und glaubt der Geist von Sanssouci zu sein. Mit Staunen gelesen.... das hier ist eine Horrorgeschichte. Meine Bewunderung hast Du sy |
30.06.2014, 14:21 | #7 |
ADäquat
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Beiträge: 13.004
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Hi Faldi,
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30.06.2014, 20:08 | #8 |
Lyrische Emotion
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Moin syranie,
ja, Ate ist eine interessante Figur. Wie man ja inzwischen weiß, verkörpern die griechischen Göttergestalten menschliche Eigenschaften und ich finde, diese Göttin verkörpert diese besonders gut. Es gibt ja immer wieder Blender, auf die die Menschen hereinfallen. Eine kleine Gruselgeschichte hatte ich im Sinn und ich freue mich, wenn sie dir gefallen hat, denn du schreibst ja selbst oft in diesem Genre. Vielen dank für deinen Kommi... Hi Chavi, genau die Ate aus dem Kreuzworträtsel. Dort findet man sie auch immer wieder. Aber natürlich ist sie aus dem täglichen Leben auch nicht weg zu denken, begegnet sie uns doch ständig in immer wieder neuer Gestalt. Der "Herr" in der letzten Strophe hätte auch was, aber wenn ich so an den alten Fritz denke, der war ja immerhin Preußenkönig, dann weiß ich nicht, ob man diesen kleinen Geist wirklich auf eine solche Stufe heben sollte. Immerhin geistert er ja nur noch so vor sich hin. Wie lange seine spirituelle Energie noch hält, ist ungewiss und manche werden sich bei seinem Verblassen sicherlich verwundert die Augen reiben. Und so war es eben doch nur ein Geist. Vielen Dank für deine Gedanken und deine Antwort... Ich bedanke mich für eure Beiträge... Liebe Grüße Bis bald Falderwald
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01.07.2014, 15:44 | #9 |
Kiwifrüchtchen
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Ort: nördlich von Auckland/Neuseeland
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Kia ora Falderwald,
was für ein tolles Werk! Unverzüglich, ohne Vorwarnung packst Du den Leser und stößt ihn mitten ins Geschehen und noch eh er sich's versieht, ist er schon im dunklen Bann Deiner Worte verstrickt, aus dem es kein Entrinnen gibt. Dafür sorgst Du gekonnt. Ich bediene mich eines englischen Wortes, welches besser als jedes deutsche, das mir im Moment einfallen will, die Atmosphäre Deines Textes beschreibt. HAUNTING. Zur Geschichte: 'Der Stoff, aus dem die Albträume sind'... J.M.Simmel würde mir zustimmen. Da gibts nur eins: Nix wie weg, ohne zurück zu blicken und die Schlussfolgerung ziehen, dass man sich von Ates Garten und ihrem Schloss lieber fern hält. Fasziniert gelesen. LG und ka kite ano Lai
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.................................................. ........................................... "Manchmal ist es so demütigend, ein Mensch sein zu müssen..." Erich Kykal |
03.07.2014, 23:38 | #10 |
Lyrische Emotion
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Kia ora Lailany,
es sollte auch die Absicht des Textes sein, den Leser direkt mitten ins Geschehen zu setzen. Action war angesagt, denn ich plante mit 36 Zeilen und die können ganz schön langweilig werden. Ich freue mich, wenn du den Text als "haunting", also eindringlich, bezeichnest, denn so sollte eine kleine Gruselgeschichte ja auch eigentlich sein. Wo Ate wirkt, herrscht die Verblendung und das birgt die Gefahr der Unfähigkeit zu vernünftiger Überlegung und zur Einsicht. Wenn man sich nicht selbst was vormacht, dann macht dies eben jemand anderes. Haere ra und ka pai für deine Rückmeldung... Liebe Grüße aus Tiamani nach Aotearoa Bis bald Falderwald
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