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04.01.2017, 12:13 | #1 |
Gast
Beiträge: n/a
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Unfreie der Moderne
Unfreie der Moderne
Vergangenheit sind wir, in uns gefangen, bedacht auf das, was uns die Zukunft singt, derweil das Heute unbemerkt verklingt, um das wir gestern so begierig rangen. Der eingeschränkte Blick, stets schlau, verschlagen, gewährt uns Freiraum bis zum nächsten Zaun. Wenn wir es schaffen, über ihn zu schaun, dann tun wir das mit hoch gestellten Kragen. Wir haben nichts zu fragen, viel zu sagen, wir wissen schon, denn wir sind informiert, vielleicht ein wenig heimlich irritiert, weil was wir planten, plötzlich anders ist, und Klageweiber dunkle Tücher tragen, wenn Raureif in uns sich zu Winter frisst. |
04.01.2017, 13:15 | #2 |
Erfahrener Eiland-Dichter
Registriert seit: 07.11.2016
Ort: Berlin-Lichtenberg
Beiträge: 180
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Oh, das gefällt mir sehr gut, Kokochanel. Ein Bild der heutigen Gesellschaft, die kein Ziel hat, die plappert, aber nicht fragt, nicht zuhört. Das sind auch meine Beobachtungen, du hast das sehr genau geschildert. Wir sind Gefangene unserer Gegenwart. Wir fühlen uns unwohl, rebellieren aber nicht, das hat man uns abgewöhnt.
Sowohl inhaltlich als auch technisch finde ich das Sonett ausgezeichnet gemacht. Ich würde nicht ein einziges Wort verändern wollen. Vielleicht den Titel, da könnte ich mir einiges andere denken. Angelika |
04.01.2017, 15:40 | #3 |
TENEBRAE
Registriert seit: 18.02.2009
Ort: Österreich
Beiträge: 8.570
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Hi Koko!
Menschen sind Wesen, die ihre Position im Jetzt über ihre Vergangenheit definieren, ihr Erlebtes, Erfahrenes, Errungenes. Diese Position extrapolieren sie positiv in die Zukunft, so als würden sie stets die Gleichen bleiben und Lebensziele sich nie ändern, weil sie auch ihre Vergangenheit durch die Augen jener betrachten, die sie durch ebendiese verronnene Zeit überhaupt erst geworden sind. Die Weiseren unter uns wissen um diesen Wahrnehmungsfehler. Was du beschreibst ist eher ein Mangel an Ein- und Weitsicht: Konservative, die einen Status quo erhalten wollen, was natürlich in einem ständig sich wandelnden und anpassenden Universum auf lange Sicht kontraporduktiv ist: Die geistige Starre der "ewig Gestrigen", die ein vermeintliches Paradies erhalten wollen - und es gerade so für andere zur Hölle machen! Das letzte Terzett würde ich nicht mit "weil" beginnen, sondern besser mit "wenn" oder "wo". Die letzte Zeile finde ich verwirrend: Raureif ist ein Symptom des Winters, er frisst sich bestenfalls "mit dem Winter voran", aber dass er "sich zu Winter frisst" - wie soll man sich das vorstellen? Altern: "wenn Raureif sich in unsre Seelen frisst." - oder so ... Sehr gern gelesen! LG, eKy
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen. Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen! Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind. Dummheit und Demut befreunden sich selten. Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt. Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit. |
04.01.2017, 20:31 | #4 |
Gast
Beiträge: n/a
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Guten Abend, Angelika und Erich,
ich danke euch für die Befassung mit dem nachdenklichen Thema und beide habt ihr etwas inhaltlich herausgelesen, was es als Aussage auch enthält. Erich, du bist punktgenauer unterwegs und hast topgenau meine Gedanken nachempfunden. Die Sache mit der "statischen"Wahrnehmung ohne den ewigen Wandel im Leben einzubeziehen, das ist genau der Punkt. Aber auch Angelika hat einen Zipfel erwischt, denn die Vergangenheit prägt so die Gegenwart mit. Die, die sich und das Kämpfen aufegegeben haben, Angelika, die schweigen, da hast du recht. Aber sie werden sich verändern und da kommen wir zu dem Punkt der Kälte, die Erich im letzten Satz nicht genau nachempfinden kann. Diese Erkenntnis aber, Erich, wenn die Realität die subjektive Wahrnehmung einholt, mag in uns eine Kälte heraufbeschwören, die uns selbst erschreckt. Das ist der Raureif, der sich in uns zu Winter frisst. Also vom Beginn des Winters , wo nur Raureif die Natur belegt bis hin zum seelischen Erfrieren ich glaube, hier ist Angelika näher dran am emotionalen Ansatz. Wenn und weil ja, da hab ich gefeilt zugunsten des Schlussatzes, weil sich sonst keine Logik ergeben hätte. Ich finde es so perfekt, wie Angelika schon sagt. Was mich freut. Der Titel hingegen gefällt mir auch nichtwirklich, Angelika. Das war mehr ein Arbeitstitel zum Abspreichern. da ich aber zeitgleich noch ein Prosgedicht mit dem Titel rau-reif als Worstpiel geschrieben habe, war diese schöne Variante schon vergeben..Obwohl sie auch hier gut gepasst hätte. Ich spiele nämlich gerne mit Titeln, die den Inhalt des Werkes unterstützen, auch poetisch. Dieser ist eher kläglich. Wenn also jemand einen Vorschlag hat zum Titel, dann immer her damit. Ich freue mich, dass dieses gedanklich "schwere" Werk ankommt und bedanke mich freundlich. LG von Koko . |
04.01.2017, 21:18 | #5 |
TENEBRAE
Registriert seit: 18.02.2009
Ort: Österreich
Beiträge: 8.570
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Hi Koko!
Ich kann mit dem Bild deiner Conclusio nichts anfangen, für mich ist es falsch formuliert. Raureif KANN sich nicht zu Winter fressen (weder in uns oder außerhalb), sprich aus Raureif kann nicht Winter werden, egal wie, vielmehr ist der Reif ein Symptom des Winters: Erst kommt der Winter, sprich die Kälte - DANN wächst der Reif überhaupt erst! Die Wortwahl kommt mir schon unrichtig vor: Raureif kann sich bestenfalls voranfressen, aber das ist eigentlich auch schon irreführend, da Reif sich bildet, auf allem wächst - und nicht frisst! Er frisst nichts, bedeckt nur, und sich "zu Winter zu fressen" (im Sinne von, sich zu Winter zu entwickeln, wenn ich es recht deute) erscheint mir gänzlich abstrus formuliert, sorry. "Fressen" ist da einfach das falsche Wort, sowohl für die Bildung von Reif an sich als auch für diese in meinen Augen unlogische und vom falschen Ende her aufgezäumte Transmutation von Reif zu Winter. Das wollte ich noch zweifelsfrei geklärt wissen, daher mein Insistieren. Ich bestehe nicht darauf, dass du meinem Rat folgst - könnte ich ja auch gar nicht! LG, eKy
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen. Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen! Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind. Dummheit und Demut befreunden sich selten. Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt. Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit. |
04.01.2017, 23:28 | #6 |
Gast
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Habe ich auch nicht so wahrgenommen, als Insistieren, Erich.
Lass es mich erklären. ich denke, wir liegen gedanklich nicht weit voneinander fort. Der Reif bewächst, entsteht durch Kälte. Nicht nur unbedingt durch Winter. Dieser aber vereist ihn, verharscht den Schnee, damit wird eine Manifestierung gegeben. Das ist bei Reif, der auch im Herbst und Frühjahr vorkommt, nicht gegeben. Er vergeht wieder. Sagen will ich damit, dass der kältebedingte Reif sich zu Massiverem, Anhaltenden,entwickelt, was einen Menschen letztendlch zerstören kann. Der Reif ist nur unangenehm, das andere möglicherweise tödlich- Ich möchte das frisst, also das "unbefriedigende sich Vergrößern, was wir ja alle durch maßloses Essen kennen", das eben negativ konnotiert ist,darum gerne stehen lassen. Gleichzeitig konnotiert es das Sich Ausbreiten, Verformen... Es ist also ein abstraktes, verzerrtes Bild, das in der Realität, und da hast du recht, nur Überschneidungen haben kann, aber keine häufige Realität. Reif gibt es aber manchmal auch im Herbst oder Frühling... Mit dem Winter aber sollte die Manifestierung gegeben sein. LG von Koko und danke, dass du noch mal eingestiegen bist. |
10.01.2017, 12:27 | #7 |
Gast
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Liebe Koko:)
Liebe Koko,
Kurz gesagt: der Mensch ist gerade so klug, wie er gerade ist. Ich finde dein Sonett gut. Die Kommentare der Anderen habe ich nur flüchtig gestreift, daher kann es sein. Das ich hier Doppelgemopptes schreibe. Wir Menschen geben vor schlau zu sein. Wir entwickeln die Technik weiter, das Wissen wird, dass wir uns aneignen „ müssten“ wird immer Vielfältiger. Das Sein besteht aus geboren werden, wachsen, Erwachsen sein, Sterben. Das hört sich kurz und knapp an. Jedoch wird unser Gehirn im Laufe unsres Lebens angefüllt mit Erfahrungen, die immer subjektiv von jedem Einzelnen bewertet werden. Wer wir sind, und wie wir sind, hängt mit den unterschiedlichsten Erfahrungen zusammen. Das Elternhaus, die Schule oder die Umwelt spielen eine Rolle. Unterschiedlichste Medien prasseln auf den Einzelnen ein. Es ist eine Flut, die ein Gehirn sortieren und verarbeiten muss. Ob dabei die „richtigen“ Schlussfolgerungen herauskommen, das sei dahingestellt. Auf jeden Fall haben wir nur ein Gehirn, und manchmal vergessen wir was wirklich wichtig ist im Leben. Und bei allem Denken vergessen wir zu Leben, zu Lieben und innerlich frei zu sein. Die letzte Zeile:“wenn Raureif in uns sich zu Winter frisst. „ lese ich so: wenn schon etwas kalt ist, und man bemerkt es nicht, dann wird es wirklich Winter, sprich, die Trauer und die Not wachsen unbemerkt weiter, obwohl wir wer weiß wie Klug sind. Sehr gerne gelesen und liebe Grüße sy |
11.01.2017, 14:34 | #8 |
Gast
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hast wieder gut nachgespürt, liebe Syri.
ja, genau so ist die letzte Zeile gemeint. Lieben Dank und lG von Koko |
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