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07.06.2019, 23:46 | #1 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Beiträge: 3.375
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Die entschleierte Göttin
Die entschleierte Göttin
Verschleiert blieb die Göttin; selbst den Priestern erschien sie nie entblößt von Angesicht zu Angesicht. Die priesen in Gesängen der Gottheit Prachtgewand, dass die Gemeinde die Wahrheit ihrer Schönheit ahnen konnte, doch waren sehend sie nur blinde Diener. Ein Jüngling, dessen Herz in Liebe brannte, der demutsvoll zu ihren Füßen flehte, ihm ihre Wahrheit ganz zu offenbaren, und täglich seine Bitte wiederholte, erweichte sie. Der Schleier sank zu Boden und sonnengleich erschien ihm reine Wahrheit. Geblendet war der Jüngling, tanzte, sang und sprach in Zungen, die sie nicht verstanden. Er sah durch die entlehrten Augenhöhlen die Schönheit der Gedanken im Entstehen und fernste Sterne, die im Werden sind, sah alles, was wir Sehenden nicht wissen. Den Grund dafür, warum er sein Gesicht fortan verschleierte, verriet er nicht. © Ralf Schauerhammer P.S.: Ein Gegenstück zu Friedrich Schillers "Das verschleierte Bild zu Sais"
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© Ralf Schauerhammer Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft. Friedrich Schiller |
08.06.2019, 13:02 | #2 |
TENEBRAE
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Hi Thomas!
Schön geschrieben, auch wenn ich persönlich gern mehr Reime gesehen hätte - aber du kennst ja meine diesbezügliche Präferenz. Zum Inhalt: Lyrik und religiöse Erzählungen sprechen viel von der "blendenden Göttlichkeit", die Augen ausbrennt, Sinne überfordert, den Geist verwirrt und überfordert. Letzteres lasse ich gerne gelten: Vieles verstehen wir noch nicht, entweder weil es noch unbekannt und unerforscht ist, vieles aber vor allem deshalb, weil unser Gehirn noch nicht in der Lage ist, so große Zusammenhänge nachzuvollziehen. Da haben wir noch Aberjahrtausende der Evolution vor uns ... Aber diese augenausbrennende Göttlichkeit halte ich für dichterisch übertrieben. Wir sehen die Lösungen wahrscheinlich täglich vor Augen, erkennen sie bloß nicht - und hinter jeder Grenze der Erkenntnis immer gleich einen (oder "DEN") Gott zu vermuten, betrachte ich als ein Merkmal geistiger oder charakterlicher Unmündigkeit, die nach Anbetbarem sucht, um sich rechtschaffen klein, aber zumindest behütet fühlen zu dürfen! Für mich keine positive menschliche Eigenschaft, vor allem in Verbindung mit der sonor vorgetragenen Überzeugung, der jeweilig bevorzugte Glaube sei "der einzig wahre und wahrhaftige", und alle Andersdenkenden seien entweder bemitleidenswert oder gleich gar lebensunwürdig! Welch eine Verstiegenheit! Auch hier tut die "Göttin" nichts Gutes. Schon klar, es ist ein Gleichnis auf die manchmal ungesunde Neugier des Menschen. Man könnte das blendende Licht zB. mit einer Atomexplosion gleichsetzen, der dann lebenslang getragene Schleier symbolisiert die gelernte Demut vor dem (noch) nicht Bewältigbaren. Leider bemerken viele Menschen solche Metaebenen gar nicht - für sie gilt (wie in den "heiligen Büchern") das pure Wort als ununstößliche und unuminterpretierbare Wahrheit. Für sie ist und bleibt es die "Göttin", die sie anbeten wollen, weil sie dessen bedürfen. Kein Bedarf für Symbolismen ... Gern gelesen! LG, eKy
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen. Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen! Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind. Dummheit und Demut befreunden sich selten. Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt. Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit. |
08.06.2019, 14:40 | #3 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Lieber Erich,
vielen Dank für deine Gedanken. Das Gedicht ist, genau wie das von Schiller, auf welches es sich bezieht, im Blankvers geschrieben, welcher nur ausnahmsweise Reime hat. Liebe Grüße Thomas
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© Ralf Schauerhammer Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft. Friedrich Schiller |
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