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Alt 11.10.2011, 13:12   #1
Sanssouci
Gast
 
Beiträge: n/a
Standard Das Stundenglas

Es drängelte Zeit sich durchs Tagstundenglas.
Sie rann so dahin und der Zeitmensch vergaß
nach Durchlauf des Sandes die Uhr umzudrehen,
versäumte den Zeitpunkt, gehetzt, aus Versehen.

Das Missgeschick wollte er schnell korrigieren,
so wertvolle Zeit nicht noch einmal verlieren.
Drum stellte er flugs nun sein Stundenglas um.
Zeit zwängte erneut sich, nur anders herum,

wie rückwärts gewandt, was erstaunlich war. Und:
Die Uhr stoppte plötzlich, zu eng war ihr Schlund
dem Sandkörnchen, welches sich quergelegt.

Gleich hielt alles an. Stillstand. Unbewegt,
gelähmt, eingeschlafen, gebremst, eingefror’n:
Das Leben, die Zeit – durch ein winziges Korn.
 
Alt 11.10.2011, 14:12   #2
Stimme der Zeit
Erfahrener Eiland-Dichter
 
Benutzerbild von Stimme der Zeit
 
Registriert seit: 15.03.2011
Ort: Stuttgart
Beiträge: 1.836
Standard

Hallo, Sanssouci,

bevor jemand "unkt": Ja, es ist kein "klassisches" Sonett, aber ich betrachte es als Sonett, nur, damit es keine Missverständnisse gibt.

Der Paarreim passt hervorragend zum Inhalt, denn hier läuft die Zeit "so- und andersherum". Ein sehr aktuelles Thema, dargestellt in einem aktuellen Sonett.

Zitat:
Es drängelte Zeit sich durchs Tagstundenglas.
Sie rann so dahin und der Zeitmensch vergaß
nach Durchlauf des Sandes die Uhr umzudrehen,
versäumte den Zeitpunkt, gehetzt, aus Versehen.
Für mich beschreiben diese Verse sehr deutlich den vorherrschenden "Zeitgeist". Schnell, schnell, die Zeit drängt, alles muss "laufen"! So wird durch das Leben "gehetzt", jede Stunde geplant, und dabei vergessen, dass der "Sand" irgendwann durchgelaufen ist. Und dann? Das "Tagstundenglas" wurde nicht "rechtzeitig umgedreht", in all der Eile wurde das völlig vergessen.
Zitat: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben ...

Zitat:
Das Missgeschick wollte er schnell korrigieren,
so wertvolle Zeit nicht noch einmal verlieren.
Drum stellte er flugs nun sein Stundenglas um.
Zeit zwängte erneut sich, nur anders herum,
Das LI macht sich also daran, flugs das Glas "umzustellen" - hier fällt mir auf, dass nicht die Rede vom "Umdrehen" ist. Umstellen bedeutet, so denke ich, dass ein "neuer Anlauf" genommen wird. Was "so herum" nicht klappte, funktioniert sicher "anders herum".
Jedes Versagen wird in der "Leistungsgesellschaft" nun mal als "Verlust von Zeit und Energie" betrachtet. Die "Zeit drängt", der Erfolg wartet ...

Zitat:
wie rückwärts gewandt, was erstaunlich war. Und:
Die Uhr stoppte plötzlich, zu eng war ihr Schlund
dem Sandkörnchen, welches sich quergelegt.
Irgendwie scheint es aber "schief zu laufen", es funktioniert nicht wie gewollt/geplant. Statt "vorwärts" geht es "rückwärts". Erstaunlich, denn so sollte es doch nicht sein? Dann "stoppt" plötzlich, ganz unerwartet, die Uhr: Da hat sich ein Sandkörnchen quergelegt. Nichts geht mehr ...

Zitat:
Gleich hielt alles an. Stillstand. Unbewegt,
gelähmt, eingeschlafen, gebremst, eingefror’n:
Das Leben, die Zeit – durch ein winziges Korn.
Ein einziges Körnchen, und alles (das Leben, das "Vorwärtskommen") bewegt sich nicht mehr. Lähmung tritt ein, das Dasein ist wie "eingefroren", selbst die Zeit scheint still zu stehen. Ein "winziges Korn" (ein winziges Ereignis), und "alles hält an".

Das klingt für mich wie die Beschreibung eines heute sehr häufig auftretenden Problems unserer modernen, gehetzten, erfolgsorientierten Leistungsgesellschaft, in der es immer an Zeit "mangelt": Einem "Burnout". Dann geht nämlich gar nichts mehr.

Wie viele Menschen "brennen" heutzutage "aus", in all dem hektischen Getriebe unserer modernen Zeit? Alles muss "rechtzeitig" und schnellstens erledigt werden, wer gönnt sich schon Ruhe? Jedes Sandkorn "zählt" ...

Der daktylische, vierhebige Rhythmus (mit Auftakt) gerät genau zwischen den beiden Terzetten, als das "quergelegte Sandkörnchen" den "Stillstand" verursacht, aus dem "Takt". Das führt bis zu "eingeschlafen" (das kann ich aber, mit etwas "zurechtbiegen" der Betonung, auch dakylisch lesen, selbst wenn es "nicht korrekt" ist), danach geht es wieder fehlerlos weiter. Da der Rhythmus aber ansonsten (bis auf eine Stelle, zu der ich noch komme) einwandfrei eingehalten wird, sehe ich darin bewusste Absicht. Es passt sehr gut zum Inhalt!

Die kleine Stelle, die ich ansonsten bemerkte:

Zitat:
Zeit zwängte erneut sich, nur anders herum,
xXxxXxxXxxX

"Zeit" unbetont ... hm. Also ich glaube, auch das dient der Aussage. Macht sich die Zeit "klein", um sich durch den "engen Schlund des Stundenglases" hindurch zwängen zu können? Ich denke, ja, auch das entspricht für mich zu genau dem Inhalt, um ein Fehler zu sein.

Deshalb auch mein Kompliment dafür, das hier ist ein sehr gelungenes Werk, in allen "Bereichen", formal und inhaltlich. Ein dickes Lob!

Sehr gerne gelesen und kommentiert.

Liebe Grüße

Stimme
__________________
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Stimme der Zeit ist offline  
Alt 11.10.2011, 23:28   #3
Galapapa
Galapapa
 
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Hallo Sanssouci,
es mag zwar keine klassisches Sonett (fünfhebiger Jambus) sein. Für mich ist es, wie für Stimme, trotzdem ein klasse Sonett.
Handwerklich ist der Rhythmus bis zum letzten Vers durchgehalten, was einerseits eine gefällige Lesbarkeit bewirkt, andererseits die Gleichmäßigkeit und Beständigkeit des Zeitablaufs unterstreicht.
Interessant finde ich die Betrachtungsweise: Alles, auch die Zeit , kommt zum Stillstand durch das eine Sandkorn. Die Welt wird praktisch in das Studenglas eingeschmolzen. Alles Außerhalb wird zu einer anderen Dimension.
Ich finde Dein Gedicht sehr schön!
Mit herzlichen Grüßen an Dich!
galapapa
Galapapa ist offline  
Alt 12.10.2011, 09:10   #4
wolo von thurland
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hallo sanssouci
da ich keine ahnung von klassik habe, kann ich nur nochmals betonen, wie gelungen das gedicht ist. und mitteilen, dass ich den übergang vom weichen zum harten ende (zeile 9) nicht entspannt schaffe. vielleicht wäre da mehr führung deinerseits möglich.
und im übrigen träume ich jetzt vom nachtstundenglas (oder hast du ein gedicht auch zu diesem?)
gruss von wolo
 
Alt 12.10.2011, 14:10   #5
Sanssouci
Gast
 
Beiträge: n/a
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Hallo Stimme!
Wer wünscht sich nicht so einen ausführlichen und inhaltlich zutreffenden Kommentar. Du hast mich beeindruckt. Dafür ein herzliches Dankeschön!
Deine Interpretation und die daraus gezogenen Rückschlüsse bzw. Überlegungen sind bzw. waren auch meine, sowohl auf der inhaltlichen wie auch auf der formalen Ebene.
Noch einmal DANKE für dein Vorbeischauen sowie für dein Lob.
Zeitnahe Grüße von Sanssouci

Hallo Galapapa!
Auch dir danke ich für deine Überlegungen und das hinterlassene Lob. Ich finde besonders deinen Satz: Alles Außerhalb wird zu einer anderen Dimension. interessant.
Grüße an dich von Sanssouci

Hallo Wolo,
danke für deinen Kommentar. Ob es auch ein Nachtstundenglas gibt, weiß ich nicht. Nachts ist es ja bekanntlich dunkel, und da spielt Zeit ja eher eine untergeordnete Rolle (man verschläft sie ja auch meistens). Der Übergang von hart zu weich bzw. vorwärts-rückwärts, Bewegung-Stillstand ist so gewollt und beabsichtigt.
Danke für dein Vorbeischauen!
Gruß von Sanssouci
 
Alt 30.10.2011, 20:31   #6
Dana
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Ort: Inselstadt Ratzeburg
Beiträge: 5.637
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Hallo Sanssouci,

nicht nur schön, auch unwahrscheinlich lustig. Ich musste breit grinsen bei der Vorstellung, was so ein Sandkorn alles bewirken kann.

Dein Gedicht präsentiert ganze Bilder. Ich sehe ein agierendes Menschenkind, das den "Stillstand" schmerzlich durchlebt.

Ein fließender Leseklang (ganz entgegen dem Stundenglas in der letzten Strophe) verdoppelt den Lesegenuss und die Freude daran.

Liebe Grüße
Dana
__________________
Ich kann meine Träume nicht fristlos entlassen,
ich schulde ihnen noch mein Leben.
(Frederike Frei)
Dana ist offline  
Alt 01.11.2011, 12:59   #7
Sanssouci
Gast
 
Beiträge: n/a
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Hallo Dana!

Danke für dein Vorbeischauen, den Kommentar und das ausgesprochene Lob!
Ja, so ist das manchmal im Leben: Kleine Ursache - große Wirkung.

Liebe Grüße zurück von Sanssouci
 
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