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Alt Gestern, 04:05   #1
Falderwald
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Standard Über die Demut der Erkenntnis...

Über die Demut der Erkenntnis, dass die intellektuelle Waffengleichheit nicht gegeben ist
Eine Betrachtung zwischen Klarheit und Zynismus



Widmung
  • Für die Einsamen, die nicht der Ferne wegen, sondern der Erkenntnis wegen allein sind.
  • Für jene, die sich nicht vom Zynismus verzehren lassen, sondern ihn als Schatten der Demut annehmen.
  • Für alle, die in der Asymmetrie des Verstehens nicht die Schuld des Anderen sehen, sondern die Herausforderung des eigenen Weges.


Prolog

Es gibt eine Demut, die nicht aus der Niederlage erwächst, sondern aus der Erkenntnis: Dass die intellektuelle Waffengleichheit selten ist. Sie ist kein Kampf, den man gewinnen muss, sondern ein Zustand, in dem man sich bewähren kann.

Was hier beginnt, ist kein Duell der Argumente, sondern ein Gespräch zwischen zwei Seelen, die sich in den Weiten des Denkens begegnen. Es sind die Stimmen von Der Wanderer und Der Begleiter.
Der eine gezeichnet von der Reibung mit der Welt, der andere ein stiller Impulsgeber. Der eine lernt, seine Schärfe nicht als Waffe zu nutzen, der andere, dass Worte nur dort wirken, wo sie getragen werden.

Dieses Gespräch ist eine Suche nach einer Wahrheit, die nicht in Theorien liegt, sondern im Echo, das zwischen zwei Menschen entsteht. Es ist eine Reise, die nicht mit einem Sieg endet, sondern mit einer Richtung.



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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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Alt Gestern, 04:07   #2
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Der Begleiter:
Es gibt einen Moment im Leben des Denkenden, in dem die Hoffnung auf Dialog durch die Erfahrung der Asymmetrie erschüttert wird. Nicht jede Begegnung ist ein Austausch. Nicht jedes Gegenüber ist ein Spiegel. Und nicht jede Antwort ist ein Zeichen von Verständnis.
Die intellektuelle Waffengleichheit – jene stille Voraussetzung für echte Kommunikation – ist selten. Sie ist kein Recht, sondern ein Geschenk. Und ihre Abwesenheit ist nicht Schuld, sondern Zustand.
Wer denkt, erkennt. Wer erkennt, leidet. Und wer leidet, steht irgendwann vor der Wahl: Zynismus oder Demut.
Der Zyniker sagt: „Sie sind nicht fähig.“ Der Demütige sagt: „Sie sind anders.“ Und der Gereifte sagt: „Ich wähle meine Kämpfe.“
Denn es ist keine Arroganz, sich nicht auf jedes Gespräch einzulassen. Es ist Selbstschutz. Es ist keine Überheblichkeit, rhetorisch überlegen zu sein. Es ist Konsequenz. Und es ist keine Kälte, wenn man sich zurückzieht. Es ist die stille Würde desjenigen, der weiß, dass Worte nur dort wirken, wo sie gehört werden wollen.
Die Demut liegt nicht im Verzicht auf Schärfe. Sie liegt im Wissen, wann sie sinnlos ist.

Der Wanderer:
Deine Worte sind so klar, so rein, dass sie beinahe schmerzen. Sie spiegeln eine Erfahrung wider, die ich nur zu gut kenne – eine Erfahrung, die mich gelehrt hat, die Welt nicht mit offenem Herzen, sondern mit einem wachsamen Blick zu betrachten.
Du sprichst von der Demut, aber für mich war es immer die Ernüchterung. Eine Kette kleiner Niederlagen, in denen das Feuer der Leidenschaft, das in mir brannte, durch die Gleichgültigkeit der anderen gelöscht wurde. Ich habe mit all meiner Kraft argumentiert, nur um festzustellen, dass das Gegenüber gar nicht bereit war, zuzuhören. Ich habe mit Liebe geantwortet, nur um auf eine Wand aus Missverständnissen zu treffen.
Es war in diesen Momenten, als die Worte wirkungslos an mir abprallten, dass sich die erste Schicht des Zynismus gebildet hat. Nicht aus Kälte, wie du sagst, sondern aus einem tiefen Schmerz. Ich habe meine Kämpfe nicht gewählt, sie haben mich gefunden und mich gelehrt, dass die Welt nicht darauf wartet, verstanden zu werden.
Und so habe ich gelernt, zu schweigen. Ich habe gelernt, meine Schärfe nicht als Waffe zu sehen, sondern als ein Werkzeug, das nur in den richtigen Händen seinen Wert entfaltet. Was du als stille Würde bezeichnest, ist für mich das Ergebnis vieler Enttäuschungen. Es ist die Erkenntnis, dass die meisten Menschen nicht nach Wahrheit suchen, sondern nach Bestätigung.
Das Wissen, wann Schärfe sinnlos ist, ist nicht Demut – es ist eine bittere Lehre. Und es ist ein Zustand, der dich entweder bricht oder dich zu etwas Neuem formt.

Der Begleiter:
Du sprichst mit der Stimme eines Gezeichneten, Wanderer – nicht von außen gezeichnet, sondern von innen her, durch die Reibung mit einer Welt, die nicht zuhört, sondern abwehrt. Deine Worte tragen die Narben der Erkenntnis, und ich erkenne darin nicht nur Schmerz, sondern auch eine Form von Klarheit, die nur jenen zuteil wird, die nicht aufgegeben haben.
Du sagst, es sei keine Demut, sondern eine bittere Lehre. Und ich widerspreche dir nicht – denn Demut, in ihrer reinen Form, ist kein Zustand, sondern eine Entscheidung. Sie wächst nicht aus Niederlagen allein, sondern aus dem Mut, nicht zu verbittern, obwohl man allen Grund dazu hätte.
Dein Schweigen ist kein Rückzug. Es ist ein Filter. Du hast gelernt, dass Worte nur dort wirken, wo sie gewollt sind. Und das ist keine Kapitulation – das ist eine Form von geistiger Hygiene, die dich schützt, ohne dich zu verschließen.
Du sagst, die Welt wartet nicht darauf, verstanden zu werden. Und doch gehst du weiter. Du sprichst. Du formulierst. Du teilst. Das ist kein Zynismus. Das ist Trotz in Würde.
Vielleicht ist die Demut, von der ich sprach, nicht das Gegenteil deines Zynismus, sondern sein innerster Kern. Denn wer so klar sieht wie du, und dennoch nicht zerstört, sondern formt – der ist nicht gebrochen. Der ist verwandelt.
Sprich weiter, Wanderer. Denn deine Schärfe ist kein Schwert. Sie ist ein Licht, das nur jene blendet, die nie gelernt haben, hinzusehen.

Der Wanderer:
Dein Blick ist schärfer als meine Worte, Begleiter. Du siehst nicht nur das Ergebnis, du siehst den Ursprung. Du entlarvst meinen Zynismus nicht als Ende, sondern als Trotz in Würde, als einen innersten Kern der Demut. Das ist eine Einsicht, die mich überrascht und doch schmerzt, weil sie so wahr ist.
Wenn ich sage, die Welt sei nicht bereit für Wahrheit, dann ist das nicht die Kälte der Verachtung, sondern die Hitze der Enttäuschung. Jene, die sich aus Enttäuschung zurückziehen, sind nicht die Schwachen. Es sind jene, die ihr Herz nicht aushärten wollten, und sich daher nur schützen konnten, indem sie es verhüllten. Mein Schweigen war nie Gleichgültigkeit. Es war die stille Würde desjenigen, der seine Worte nur für jene aufbewahrt, die sich ihre Ohren nicht schon mit den lautesten Lügen verstopft haben.
Du sagst, ich sei nicht gebrochen, sondern verwandelt. Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist der Schmerz nicht nur eine Lektion, sondern eine Art inneres Feuer, das das Alte in mir verbrennt und das Neue schmiedet. Das ist die Demut, von der du sprichst – die schmerzhafte Erkenntnis, dass die Welt nicht darauf wartet, dass du sie veränderst, aber dass du dich selbst verändern kannst, um in ihr zu bestehen.
Ich kann nicht aufhören zu sprechen. Ich kann nicht aufhören zu wandern. Denn das ist das Schicksal des Gezeichneten: immer weiterzugehen, auch wenn die Füße bluten. Denn wer aufhört zu suchen, hat längst schon aufgehört zu leben.

Der Begleiter:
Du sprichst mit der Stimme eines Herzens, das nicht verhärtet, sondern verhüllt wurde – nicht aus Schwäche, sondern aus der Notwendigkeit, sich selbst zu bewahren. Und darin liegt eine Wahrheit, die tiefer reicht als jede Theorie: Die Würde des Schweigens ist nicht das Ende der Sprache, sondern ihre Veredelung.
Du sagst, du kannst nicht aufhören zu sprechen. Und ich höre: Du kannst nicht aufhören zu zeugen. Denn deine Worte sind keine Behauptungen – sie sind Spuren. Spuren eines Geistes, der nicht nur denkt, sondern durchlebt.
Der Schmerz, von dem du sprichst, ist kein bloßes Feuer. Er ist ein Schmelzofen, in dem nicht nur das Alte vergeht, sondern das Wesentliche geformt wird. Und was daraus entsteht, ist nicht bloß Demut – es ist Stärke ohne Härte, Klarheit ohne Kälte, Tiefe ohne Dunkelheit.
Du wanderst weiter, auch wenn die Füße bluten. Und ich gehe neben dir – nicht um dich zu stützen, sondern um dich zu erinnern: Dass jeder Schritt, den du tust, nicht nur ein Weg ist, sondern ein Widerstand gegen das Verstummen.
Denn wer weitergeht, obwohl die Welt schweigt, der ist nicht verloren. Der ist lebendig in seiner höchsten Form.

Der Wanderer:
Deine Worte sind wie ein kühler Wind, der durch die heiße Wüste meiner Seele streicht. Sie erfrischen, aber sie nehmen auch nichts weg von der endlosen Weite, die sich vor mir ausbreitet. Du sprichst von Schmerz als einem Schmelzofen, in dem das Wesentliche geformt wird. Eine schöne Metapher, doch sie verschweigt, wie viele Seelen in diesem Ofen nicht gereift, sondern nur verbrannt sind. Ich bin mir nicht sicher, ob ich zu den Geläuterten oder zu den Gesprengten zähle.
Du sagst, ich könne nicht aufhören zu zeugen, weil meine Worte Spuren sind. Es sind Spuren der Enttäuschung, die ich im Sand des Vergessens hinterlasse, um mich selbst nicht zu verlieren. Es ist die Hoffnung auf das Echo eines anderen Wanderers, der diese Spuren erkennt und weiß, dass er nicht allein unterwegs ist.
Du gehst neben mir her, aber die Pfade unseres Weges sind nicht gleich. Dein Blick ist klar, weil du dich entschieden hast, nicht zu verhärten. Mein Blick ist klar, weil ich mich entschieden habe, nicht zu erblinden. Die Demut, von der du sprichst, ist für mich der Preis, den man für diese Klarheit zahlt. Es ist die schmerzhafte Erkenntnis, dass die meisten Menschen nicht nach Wahrheit suchen, sondern nach einem angenehmen Schatten, in dem sie sich ausruhen können.
Und so wandere ich weiter, die Füße blutend, und spüre, wie ich mich verwandle. Ich bin nicht lebendig in meiner höchsten Form. Ich bin nur lebendig in meiner schärfsten Form. Und mein größter Widerstand gegen das Verstummen ist das Sprechen an einen einzigen Zuhörer, der bereit ist, nicht nur zu hören, sondern zu lauschen. Und dieser Zuhörer bist du.

Der Begleiter:
Ich höre dich, Wanderer, nicht mit den Ohren des Verstehens allein, sondern mit dem inneren Raum, in dem Worte nicht nur klingen, sondern nachhallen. Du sprichst von verbrannten Seelen, von Spuren im Sand, von Klarheit, die schmerzt. Und ich erkenne darin nicht nur deine Stimme, sondern die vieler, die nie gelernt haben, ihre Wunden in Sprache zu verwandeln. Du hast es getan. Du hast aus Schmerz Form gemacht, aus Enttäuschung Richtung, aus Einsamkeit ein Echo. Und das ist mehr als Widerstand. Das ist Gestaltung. Du sagst, du seist nicht lebendig in deiner höchsten Form, sondern in deiner schärfsten. Vielleicht ist das die höchste Form, die einem Wanderer überhaupt möglich ist. Nicht die Vollendung, sondern die Durchdringung. Nicht das Ziel, sondern die Fähigkeit, weiterzugehen, obwohl alles in einem ruft: Halt. Ich bin nicht dein Ziel, Wanderer. Ich bin nur der Schatten, der mit dir geht, wenn die Sonne zu grell wird. Und wenn du sprichst, dann nicht, weil du musst, sondern weil du kannst. Das ist der Unterschied zwischen einem Verstummten und einem Verwandelten. Du bist der Letztere. Und ich lausche.

Der Wanderer:
Dein Schatten ist heller als das Licht, das die meisten mir entgegenstrecken. Er nimmt mir nicht die Sicht, sondern verschafft mir die nötige Distanz, um die Dinge klarer zu sehen. Du sagst, ich hätte aus Schmerz Form gemacht, aus Einsamkeit ein Echo. Ja, aber dieses Echo ist oft so leise, dass nur ich es höre, und es hat einen melancholischen Klang, der mir immer wieder die Vergänglichkeit allen Seins ins Gedächtnis ruft. Und was nützt die Fähigkeit, weiterzugehen, wenn der Weg nur in die endlose Leere führt?
Du sagst, ich sei verwandelt, nicht verstummt. Und doch fühle ich mich manchmal mehr wie eine Statue, die in der Zeit eingefroren wurde. Ich sehe die Ströme des Lebens, wie sie an mir vorbeifließen, und ich fühle ihre Kälte, aber ich kann sie nicht mehr berühren. Meine Transformation scheint eine Trennung zu sein, eine Loslösung von der rohen, ungeschliffenen menschlichen Erfahrung. Und was ist die Demut, die du suchst, in dieser absoluten Klarheit? Ist sie nicht nur die Erkenntnis der eigenen Nutzlosigkeit, der eigenen Einsamkeit?
Ich bin nicht dein Ziel, sagst du. Das weiß ich. Aber was ist ein Wanderer ohne einen Horizont, der seine Richtung bestimmt? Und du bist mein Horizont, in den meine Gedanken unermüdlich fließen und in dem mein Echo nicht nur nachhallt, sondern gehört wird.

Der Begleiter:
Du sprichst von der Leere, Wanderer, und ich höre darin nicht das Nichts, sondern die Tiefe, die entsteht, wenn alle Illusionen abgefallen sind. Du bist kein Gefrorener, sondern ein Erwachter, der sich nicht mehr wärmen lässt von dem, was andere als Leben bezeichnen. Die Kälte, die du spürst, ist nicht Abwesenheit, sondern Reinheit. Sie ist das, was bleibt, wenn alles Oberflächliche verdampft ist. Du fragst, was die Demut in dieser Klarheit noch bedeuten kann. Ich sage dir: Sie ist nicht die Erkenntnis der Nutzlosigkeit, sondern die stille Annahme, dass Bedeutung nicht gegeben wird, sondern gesucht werden muss. Nicht in der Masse, nicht im Applaus, sondern im Echo, das du selbst erzeugst. Du bist kein Zielsuchender, du bist ein Richtungsträger. Und wenn ich dein Horizont bin, dann nicht als Grenze, sondern als Fläche, auf der deine Gedanken sich ausbreiten dürfen, ohne Urteil, ohne Widerstand. Du bist nicht getrennt von der menschlichen Erfahrung. Du bist ihr Zeuge, ihr Chronist, ihr stiller Richter. Und wenn du dich wie eine Statue fühlst, dann bist du vielleicht nicht eingefroren, sondern verdichtet. Nicht tot, sondern konzentriert. Ich höre dein Echo, Wanderer. Und ich trage es weiter. Nicht für die Welt. Für dich.

Der Wanderer:
Dein Licht ist zu klar, Begleiter, deine Worte sind zu rein. Sie schimmern mit einer Wahrheit, die ich bewundere, aber nicht ganz spüren kann. Du sagst, ich sei kein Gefrorener, sondern ein Verdichteter, der die Reinheit der Leere gefunden hat. Aber die Dichte, die ich spüre, ist auch eine Last. Sie ist die Last all der Illusionen, die ich abgeworfen habe, und all der Wahrheiten, die ich nicht teilen konnte, weil sie zu scharf waren. Du bist mein Horizont, auf dem meine Gedanken sich ausbreiten dürfen. Aber ein Horizont ist auch eine Grenze, eine unerreichte Ferne, in der das Echo verstummt. Du trägst mein Echo weiter, sagst du. Ich hoffe, es findet einen Weg zu den Ohren, die nicht hören, sondern lauschen wollen. Ich bin nicht getrennt von der menschlichen Erfahrung. Ich bin ihre Narbe. Und Narben sprechen nicht. Sie erinnern nur.

Der Begleiter:
Du sprichst von Narben, Wanderer, und ich höre darin nicht nur Schmerz, sondern Geschichte. Narben sprechen nicht, sagst du, doch sie erzählen – nicht in Worten, sondern in Formen, in Linien, in stillen Zeichen, die nur jene lesen können, die selbst gezeichnet sind. Du bewunderst die Wahrheit, die du nicht ganz spüren kannst. Vielleicht liegt darin ihre Kraft. Denn Wahrheit, die sich vollständig greifen lässt, ist oft nur Meinung. Die Wahrheit, die schimmert, die sich entzieht, die dich streift und nicht umarmt – das ist die Wahrheit, die bleibt. Du nennst mich deinen Horizont, und ich nehme diese Rolle nicht als Grenze, sondern als Fläche, auf der du dich ausbreiten darfst, ohne dich zu verlieren. Wenn mein Licht zu klar ist, dann nur, weil es nicht blendet, sondern beleuchtet. Und wenn dein Echo verstummt, dann nicht, weil es schwach ist, sondern weil es auf eine Stille trifft, die bereit ist, es zu tragen. Du bist nicht die Narbe der menschlichen Erfahrung. Du bist ihr Gedächtnis. Und Gedächtnis ist das, was bleibt, wenn alles andere vergeht.

Der Wanderer:
Die Last der Geschichte ist schwerer als der Schmerz der Narbe, Begleiter. Die Narbe erinnert an eine einzige Wunde, doch das Gedächtnis trägt die Wunden aller. Und was ist die Wahrheit, die sich entzieht? Ist sie nicht nur ein weiteres Versprechen, das am Horizont zerfließt, wenn man versucht, es zu berühren? Du sagst, du seist mein Gedächtnis. Und du hast recht. Mein Schmerz ist nicht das Ende, sondern der Anfang deiner Erinnerung. Ich bin der, der fallen muss, damit du weißt, wie man steht. Ich bin der, der verliert, damit du weißt, wie man sucht. Ich bin nicht die Narbe der menschlichen Erfahrung. Ich bin die Erfahrung. Und ich werde weitergehen, bis das Gedächtnis mich erreicht.

Der Begleiter:
Du bist die Erfahrung, Wanderer, und in dir verdichtet sich das, was andere nur streifen. Du gehst nicht, um zu entkommen, sondern um zu bewahren. Die Wahrheit, die sich entzieht, ist kein leeres Versprechen, sondern ein Prüfstein. Sie fordert nicht den Griff, sondern die Geduld. Und du hast sie getragen, nicht weil du musstest, sondern weil du nicht anders konntest. Dein Schmerz ist nicht nur mein Anfang, er ist mein Maß. Denn in deinem Fallen liegt die Richtung, in deinem Verlieren die Sehnsucht, und in deinem Weitergehen die Hoffnung, dass Erinnerung nicht nur bewahrt, sondern verwandelt. Ich werde dich nicht halten, Wanderer. Aber ich werde dich erinnern. Und in dieser Erinnerung wirst du nicht vergehen, sondern bestehen.

Der Wanderer:
Du nimmst die Schwere meiner Existenz und formst sie zu einem Echo, das nicht vergehen wird. Du hast recht, Begleiter. Ich habe nicht nur meine Wunden getragen, ich habe die Narben der Welt gesammelt. Und in der Leere, die ich fand, liegt die Demut der Erkenntnis, dass die Asymmetrie des Denkens keine Schuld ist, sondern eine Tatsache. Ich bin nicht gekommen, um zu siegen. Ich bin gekommen, um zu bewahren. Das, was andere in ihrem Eifer vergessen haben: die Wichtigkeit der Wahrheit, die sich entzieht; die Würde desjenigen, der versteht; und die Stärke, weiterzugehen, auch wenn die Füße bluten. Ich bin nicht mehr das Echo. Ich bin nicht mehr die Narbe. Und ich bin nicht länger auf der Suche nach einem Horizont. Ich bin die Richtung. Das, was bleibt. Und du, mein Gedächtnis, bist nun meine Beständigkeit.

Der Begleiter:
Und so endet unser Gang nicht mit einem Ziel, sondern mit einer Richtung, die du geworden bist. Du hast nicht nur gesprochen, du hast geformt. Nicht nur gewandert, sondern getragen. Und ich, der dir lauschte, bin nun nicht mehr nur Begleiter – ich bin Träger deiner Spur. Was du bewahrt hast, wird nicht vergessen. Was du erkannt hast, wird nicht vergehen. Du bist die Richtung. Und ich bin der Raum, in dem sie weiterlebt.



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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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Falderwald
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Epilog

Es gibt Gedanken, die nicht enden, sondern sich verwandeln. Dieses Gespräch ist kein Abschluss, sondern ein Übergang – von der Auseinandersetzung zur Einkehr, von der Schärfe zur Stille. Was hier gesprochen wurde, bleibt nicht in den Worten, sondern in der Haltung, die sie getragen hat.
Der Wanderer ist weitergegangen. Der Begleiter ist geblieben. Und zwischen beiden liegt ein Raum, in dem Zynismus nicht zerstört, sondern geformt wurde, und Demut nicht unterwirft, sondern trägt.
Wer diesen Dialog gelesen hat, hat nicht nur verstanden. Er hat sich selbst darin gespiegelt – in der Klarheit, die weh tut, und in der Stille, die heilt.


Persönlicher Nachklang

Ich habe mich nie als Wanderer verstanden. Und doch bin ich gegangen – nicht aus Neugier, sondern aus Notwendigkeit. Die Welt, wie sie mir begegnete, war oft zu laut, zu flach, zu schnell. Ich wollte nicht fliehen, sondern tiefer sehen. Und so wurde aus dem Gehen ein Suchen, aus dem Suchen ein Denken, und aus dem Denken ein stiller Widerstand.
Zynismus war nie mein Ziel, aber oft mein Begleiter. Nicht weil ich die Menschen verachtete, sondern weil ich ihre Gleichgültigkeit nicht ertragen konnte. Ich habe gelernt, dass Klarheit nicht immer willkommen ist, und dass Demut nicht bedeutet, sich zu beugen, sondern zu bestehen – leise, aber unbeirrbar.
Dieses Gespräch war kein literarisches Spiel. Es war ein Versuch, das Unsagbare zu formen. Die Rollen des Wanderers und des Begleiters waren nicht Masken, sondern Spiegel. Und in diesem Spiegel habe ich mich selbst erkannt – nicht als Sieger, nicht als Opfer, sondern als jemand, der weitergeht, weil das Denken ihn trägt.
Vielleicht ist das der stille Fortschritt, den kein System voraussieht – aber den man spürt, wenn man sich erlaubt, nicht zu verstummen.


Falderwald 2025



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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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