Gedichte-Eiland  

Zurück   Gedichte-Eiland > Prosa und Verwandtes > Kurzgeschichten > Kurzgeschichten

Kurzgeschichten Geschichten, Erzählungen, Märchen, Fabeln

Antwort
 
Themen-Optionen Ansicht
Alt 01.07.2009, 15:14   #1
lingua
Schreibattacke
 
Registriert seit: 20.05.2009
Ort: Athen an der Spree
Beiträge: 103
Standard Redendes Buch

Redendes Buch

Ich stehe mit anderen Werken im Bücherregal meines derzeitigen Besitzers. Vielleicht verschließen mich sieben Siegel, eventuell bin ich eines der offenen. Jeder Leser hat seine ganz eigene Sichtweise, persönliche Erfahrungen, Phantasien und Empfindungen. So würde wohl ein Jeder anders antworten.

Mein Erinnerungsvermögen reicht gerade aus, um sagen zu können, wann ich gedruckt wurde. Über meinen Verfasser weiß ich nicht sonderlich viel - außer seinem Namen und dass er teils Tag und Nacht an mir und meinen Inhalt arbeitete. Nicht selten hielt er seine Fingerspitzen an Stirn und Schläfen gepresst, während er unruhig durch die Wohnung lief, hin und her.

Man kann sich das vorstellen wie bei einem Mozart, einem Haydn, einem Beethoven als Schüler beider, wie er abends komponierend mit Kerzen am Flügel das siebente Notenblatt zerreißt ... Irgendwo in einer kleinen Kammer in Wien die weiße Langhaar- Lockenperücke mit dem vielleicht samtschwarzen Bändchen um den Zopf sich vom Schädel zerrt, um seine Kreativität zu befreien. Von einem Schädel, von dem das Haar schon ab Mitte Zwanzig den Kopf wie welkes Blattwerk den Baum verlassen hat.

Verzweifelt hatte er das Manuskript seinerzeit zu mehreren Verlagen gesandt, sich selbst unschlüssig, ob nun die endgültige Version vorläge.

Das ist sozusagen mein Blick in die Vorvergangenheit, und ich denke, einige meiner Mitbücher vermögen ihre Werdung ebenso zu erinnern. Was mir Sorgen macht, ist die spätere Vergangenheit, die jüngere. Weil ich sie nicht erinnere. Wer nahm mich das erste Mal zur Hand – wer schlug mich als erster Leser auf? Durch wie viele Hände bin ich seither gereicht worden?

Ich stehe also im Regal, zwischen andere Bücher gequetscht, mein Einband ist an den Ecken eingedrückt, viele Seiten wurden mit 'Eselsohren' versehen – oder es ist einfach passiert. Einige Textstellen wurden markiert, auf etlichen Seiten wurden Fußnoten angebracht.

Ich erinnere mich an Sonnenschein und dass ich schon mehrfach aufgeblättert auf einem Tisch lag, der Wind meine Seiten flattern ließ, ein wenig Regen mein Papier tränkte. Und wie ich dann rasch geschnappt und schützend in einen Rucksack zwischen feuchte Badesachen gestopft wurde.

Allerdings habe ich mittlerweile zu viel Zeit im Dunkel verbracht, in Kisten, in Kellern, in Containern. Als Stütze wackliger Schränke sogar diente ich. Manchmal wäre mir lieber gewesen, ich wäre endlich einfach vermüllt worden, zerrissen, geschreddert oder verbrannt. Blättert heutzutage jemand in mir, riecht er leichten kellerüblichen Moder. Auf dem speckigen ledernen Lesezeichen, das zwischen Hauptteil und Epilog klebt, steht in eingeprägten Lettern mein Titel: 'Mea culpa'. Es mag Jemanden gegeben haben, der sich dadurch angesprochen fühlte.
lingua ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen


Aktive Benutzer in diesem Thema: 1 (Registrierte Benutzer: 0, Gäste: 1)
 

Forumregeln
Es ist Ihnen nicht erlaubt, neue Themen zu verfassen.
Es ist Ihnen nicht erlaubt, auf Beiträge zu antworten.
Es ist Ihnen nicht erlaubt, Anhänge hochzuladen.
Es ist Ihnen nicht erlaubt, Ihre Beiträge zu bearbeiten.

BB-Code ist an.
Smileys sind an.
[IMG] Code ist an.
HTML-Code ist aus.

Gehe zu


Alle Zeitangaben in WEZ +2. Es ist jetzt 23:07 Uhr.


Powered by vBulletin® (Deutsch)
Copyright ©2000 - 2024, Jelsoft Enterprises Ltd.

http://www.gedichte-eiland.de

Dana und Falderwald

Impressum: Ralf Dewald, Möllner Str. 14, 23909 Ratzeburg