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Alt 30.03.2010, 08:55   #1
Pedro
Erfahrener Eiland-Dichter
 
Benutzerbild von Pedro
 
Registriert seit: 31.10.2009
Ort: Freiburg
Beiträge: 151
Standard Ein kleiner Zwischenfall

Er fährt auf der Straße nach O., früh ist es, kaum Verkehr. Die Nacht ist mal wieder kurz gewesen, zu kurz.
Endlose Diskussionen und viel Wein.
Er würde gleich an einem der vielen Elendsviertel vorbeifahren, es liegt direkt neben der Straße. Hier ist er oft gewesen.
Tanken müsste er bald, der Zeiger ist nahe bei Null.

Dann sieht er einen schwarzen Kombi ohne Nummernschilder am Straßenrand stehen. Zwei Männer schlagen mit Schlagstöcken auf einen am Boden liegenden Mann ein und treten ihn mit Füßen.
Er beschleunigt und drückt auf die Hupe, die Männer springen in ihren Kombi und rasen davon.
Er hält an und steigt aus.
Der Mann ist mühsam aufgestanden und hat sich auf eine Bank gesetzt. Er keucht und umklammert seinen zerfledderten Brotbeutel, als ob dieser etwas wäre, an dem er sich festhalten könnte. Seine Kleider sind zerrissen. Aus Mund, Nase und Ohren rinnt Blut. Er hat nur noch einen Schuh an, der andere liegt auf der Straße.
Er erkennt ihn, es ist Manuel G. Vierzig Jahre ist er alt und wohnt hier mit seiner Mutter zusammen.
Etwas geistig behindert ist er. Manuel fährt jeden Tag frühmorgens in einen Supermarkt, wo er Waren aus- oder einpackt. Das kann er, hat seit Jahren nie gefehlt.
Bei nächtlichen Treffen saß er immer nur da, fast nie sagte er etwas, nur manchmal nickte er. Er war immer bereit gewesen, Aufgaben zu übernehmen, die ihm übertragen wurden.
In die Stadt war er nachts gegangen und hatte Flugblätter verteilt.

Jetzt rennen ein paar Männer aus den umliegenden Häusern auf die Straße.
Ja, gesehen und gehört hätten sie, wie diese Schweine auf Manuel einschlugen, aber was hätten sie denn tun können, das waren doch Polizisten.
Er holt den Verbandskasten aus dem Auto und läuft zu Manuel. Der sitzt immer noch auf der Bank.
Wo soll er überhaupt anfangen, ihn zu verbinden? Er würde ihn ins nächste Krankenhaus fahren.
Er fasst ihn vorsichtig am Arm und will ihn zu seinem Auto bringen. Manuel sträubt sich.
„Ich muss auf den Bus warten, ich muss zur Arbeit“, flüstert er. .
Dann fällt Manuel plötzlich nach vorne. Er rutscht auf den Boden und bleibt liegen. Seinen Brotbeutel hält er noch immer fest umklammert.
Er beugt sich hinunter und versucht Manuel aufzurichten:
„Komm, ins Krankenhaus!“
Einige Männer versuchen mit anzupacken.
Aber Manuel rührt sich nicht mehr, sagt nichts mehr, atmet nicht mehr, wird nicht mehr jeden Tag auf den Bus warten und nie mehr zur Arbeit gehen.
Morgen würde die Presse vielleicht kurz einen kleinen Zwischenfall erwähnen.

Geändert von Pedro (02.04.2010 um 18:44 Uhr)
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Alt 31.03.2010, 11:52   #2
Falderwald
Lyrische Emotion
 
Benutzerbild von Falderwald
 
Registriert seit: 07.02.2009
Ort: Inselstadt Ratzeburg
Beiträge: 9.912
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Hallo Pedro,

weder mal eine ergreifende Geschichte von dir, die das Schicksal eines "kleinen Mannes" beschreibt, wenn auch nur diesen "kleinen Zwischenfall".

Ich denke, dies ist eine kurze Millieustudie irgendwo aus Südamerika, wo unliebsame Menschen, die sich nicht wehren können, von der Staatsgewalt drangsaliert und verfolgt werden.

Aus den nächtlichen Treffen schließe ich eine Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Bevölkerung aufzuklären, vielleicht sogar zum Widerstand aufzurufen.
Dieser Organisation hat der leicht geistig behinderte Mann angehört und musste dafür mit seinem Leben bezahlen, weil er nun mal das Pech hatte, zu den Schwächeren der Gesellschaft zu gehören.
Die Machthaber können sich solche "aufrührerischen Individuen" nicht leisten und bekämpfen dies mit Mord und Terror.
Und die örtlichen Medien können oder wollen da auch wenig tun.

Aufrüttelnd und ergreifend und auf jeden Fall lesenswert, denn es kann gar nicht oft genug auf die menschenunwürdigen Umstände in dieser Welt hingewiesen werden.


In diesem Sinnen gerne gelesen und kommentiert...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald
__________________


Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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Alt 31.03.2010, 12:05   #3
Pedro
Erfahrener Eiland-Dichter
 
Benutzerbild von Pedro
 
Registriert seit: 31.10.2009
Ort: Freiburg
Beiträge: 151
Standard

Hallo Falderwald,

deine Textanalyse ist richtig.

Danke für deine Rückmeldung.

Gruß

Pedro
__________________
>Die Kritiker nehmen eine Kartoffel, schneiden sie zurecht, bis sie die Form einer Birne hat, dann beißen sie hinein und sagen: „Schmeckt gar nicht wie Birne.“< (Max Frisch)
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