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Alt 18.04.2010, 16:49   #11
Pedro
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17

Man müsste irgendetwas tun, um den Deutschen zu beruhigen, ich weiß nur noch nicht genau, was man da machen könnte. Ich lasse ihn ständig beobachten, weiß aber nicht immer, was da eigentlich vorgeht, was er eigentlich weiß.
Wenn herauskäme, dass ich da beteiligt war, kann das üble Konsequenzen für mich haben.
Wenn der Deutsche erst einmal misstrauisch wird, müsste ich wohl die Notbremse ziehen. Dabei wäre ich allerdings auf mich alleine gestellt, aus der Aguita wird mir da niemand helfen.
Gut, dass er schon ein alter Mann ist.
18


18

Rubén und El Pato warten schon im Park auf mich. Rubén sagt: „Ja, das war nicht so kompliziert, El Pato hat schon alles allein geregelt.
El Pato klärt mich auf:
„Du hattest Recht, zwei Männer haben die Claudia Palma vergewaltigt. Der eine war der Sohn von Marcelo Perez, Victor heißt er, der andere Jorge Castillo, ein Fischer.
Ich bin gestern nach Coliumo gefahren und habe das Haus von Don Marcelo beobachtet. Am Nachmittag kam Victor Perez raus, hatte sein Angelzeug dabei und ging zur Küste. Er ist dann zur Steilküste gegangen, hat sich auf einen Felsen gesetzt und fing an zu angeln . Ich habe ihm etwa eine Stunde Zeit gelassen, näherte mich ihm dann und habe gefragt, wie es mit dem Fischfang sei. Er hat gesagt, dass Fischen hier werde immer schlechter, länger als eine Stunde hatte er hier schon gewartet, keinen einzigen Biss.
Wir haben dann noch über dies und das gesprochen, dann habe ich das Gespräch auf Claudia Palma gelenkt. Ja, das sei ein Unglück gewesen, die schöne Claudia sei vergewaltigt worden, man wisse nicht von wem.
Ich hab ihn dann gebeten, sein Gehirn etwas anzustrengen, vielleicht kämen ihm dann ja Erinnerungen, die etwas mit der Claudia Palma zu tun hätten. Ich hatte mich inzwischen direkt hinter ihn gestellt, legte ihm die Hände auf die Schultern.
Mit der Claudia Palma habe er nichts zu tun, sagte er dann und wurde ziemlich nervös.
So an der Steilküste zu angeln, sei nicht ungefährlich, habe ich zu ihm gesagt, man könne nämlich leicht herunterfallen, solche Unfälle seien schon öfter passiert.
Der Typ hat mich angeschaut und gemerkt, dass es ernst wird. Er hat versucht, von der Steilküste etwas wegzukommen, aber ich habe ihm mit beiden Händen auf die Schultern gedrückt. Der konnte dann nicht mehr zurück und auch nicht aufstehen.
Seine Angel hat er fallen lassen, die fiel dann auch runter in die Felsen, etwa dreißig Meter runter.
Wer ich sei und was ich eigentlich von ihm will, hat er mich gefragt. Ich hab dann gesagt, dass ich nur ein paar Auskünfte von ihm brauche und mit der Polizei nichts zu tun habe.
Er hat dann wieder gesagt, dass er nichts von der Claudia Palma weiß. Erst als ich ihm einen kleinen Stoß versetzt habe und er über die Felskante gerutscht ist, wurde er zugänglicher. Mit den Füßen konnte er sich noch an einer Felskante abstützen, mit den Händen hielt er sich weiter oben fest.
Er sagte dann, dass er und der Jorge ziemlich betrunken waren, als die Claudia an ihnen vorbei gegangen ist. Die beiden haben gewusst, dass sie öfter zu der Jungfrau auf den Felsen geht.
Sie sind ihr nachgegangen, die Claudia hat erst mal nichts gemerkt. Erst als sie vom Pfad abgebogen ist, um zur Jungfrau zu kommen, hat sie sie gesehen. Sie hat angefangen zu rennen, aber die beiden haben sie gleich eingeholt und zur Madonna hoch geschleppt. Die Claudia hat gesagt, dass sie keinen Blödsinn machen sollen, aber der Victor hat ihr die Bluse aufgerissen und sie auf den Boden geworfen. Der Jorge hat ihr die Hosen runtergezogen. Die Claudia hat sich gewehrt wie eine Verrückte, hat geschrieen, aber niemand hat sie gehört.
Na ja, dann haben die beiden sich abwechselnd über sie her gemacht, die Claudia hat nicht mehr geschrieen und sich auch nicht mehr gewehrt.
Als die beiden mit ihr fertig waren, ist die Claudia aufgestanden, hat sich ihre zerrissenen Sachen wieder angezogen, hat die beiden angeschaut und gesagt, dass sie das bezahlen würden, der Victor und der Jorge, dass sie sie anzeigen würde, dass sie für lange Zeit in den Knast kommen würden. Und der Vater vom Victor auch, der habe sie vergewaltigt, als sie sechzehn war.
Aber dann ist sie plötzlich vom Felsen in die Klippen heruntergesprungen.
Der Victor ist kreidebleich an der Felsenkante gehangen, ich habe ihn dann wieder hoch gezogen.
Der Jorge ist ja schon vor einem halben Jahr im Meer ersoffen.“
El Pato zündet sich eine Zigarette an und stößt den Rauch nervös aus. „Die Sache ist ja nun geregelt“, meint er zu mir, „oder was meinst du?
Du kannst dir nun überlegen, was du mit dem Victor machen willst.“
Ich nicke. Denke aber, irgendetwas stimmt hier nicht, irgendetwas geht mir durch den Kopf, ich kann aber die Idee nicht genauer entwickeln. Das ganze scheint mir zu einfach zu sein. Oft habe ich darüber nachgedacht, was ich denn eigentlich mit den Tätern machen würde.
Rubén schaut mich nicht an, kratzt mit einem Fuß auf den Boden
merkwürdige Muster.
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Alt 19.04.2010, 09:58   #12
Pedro
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Hier hatte ich aus Versehen Kapitel 17 u 18 zum zweiten Mal eingestellt, habe den Text gelöscht.

Pedro

Geändert von Pedro (21.04.2010 um 13:23 Uhr)
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Alt 20.04.2010, 19:12   #13
Pedro
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19
Ich betrete das Büro von Dr. Sierra, er erwartet mich schon und bittet mich, Platz zu nehmen. Er kommt gleich zur Sache.
„Vielen der zum Leichenfund gerufenen Ärzte fehlen die notwendigen rechtsmedizinischen Kenntnisse zur Beurteilung der vielfältigen Leichenerscheinungen;“ sagt er.
„Sie werden häufig als Notdienst tuende Ärzte zu einem Leblosen gerufen, den sie vorher noch nie gesehen haben, von dem sie weder die Lebensumstände noch die Art möglicherweise vorangegangener Erkrankungen wissen, und dann sollen sie, oft unter ungünstigen Umständen, den Tod, dessen Ursachen, das Fehlen möglichen Fremdverschuldens und anderes zweifelfrei feststellen. Dabei mangelt es ihnen oft schon an dem Wissen um die sicheren und unsicheren Todeszeichen.
Bei den Tötungsdelikten ist die Dunkelziffer sehr hoch.
Ich habe in Deutschland studiert. Da wurde zwischen 1993 und 1995 eine Studie an 23 der damals insgesamt 38 rechtsmedizinischen Institute durchgeführt, bei denen bei der Obduktion andere Todesursachen entdeckt wurden als bei der ersten Leichenschau.
Wenn ein Mensch stirbt oder eine unbekannte Leiche gefunden wird, verlangt das Gesetz, dass ein Arzt hinzugerufen wird, der den Eintritt des Todes nicht nur per se feststellt, sondern diesen auch auf einer Todesbescheinigung dokumentiert. Dieser Vorgang wird als ärztliche Leichenschau bescheinigt. Die Leiche ist bei jedem Fall im unbekleideten Zustand zu besichtigen.
Es stellte sich bei der Studie eine enorme Fehlerquote heraus.
Rund 13000 Verstorbene wurden damals obduziert. In 2183 Fällen stellten die Rechtsmediziner eine andere Todesursache als ursprünglich von ihren Berufskollegen vermerkt fest.

Im Fall Claudia Palma lief das anders. Dr. Enrique Mesa wurde zur Fundstelle der Leiche gerufen. Er ist ein ehemaliger Mitarbeiter von uns hier und hat Erfahrungen auf diesem Gebiet. Er veranlasste, dass die Tote in unser Institut nach Concepción gebracht wurde.
Dr. Sierra legt mir ein Protokoll vor.

Äußere Besichtigung:
Leiche einer 24-jährigen Frau, 1,70 m groß, regelmäßiger Körperbau, guter Ernährungszustand.
Totenstarre gelöst, Totenflecke rotviolett, überwiegend an der Körperrückseite, nicht wegdrückbar.
Bekleidung: Blaue Bluse, alle Knöpfe abgerissen, teilweise zerrissen. Kurze weiße Shorts, oberster Knopf abgerissen . Keine Schuhe und Strümpfe.

Innere Besichtigung:
Bruch der knöchernen Schädelbasis in der mittleren Schädelgrube, über das linke Felsenbein verlaufend, mit Eröffnung des linken Mittelohrraumes. Eine weitere Fraktur (spaltenförmiger Bruch) im Bereich der Siebbeinplatte rechts der Nasenscheidewand.

Vorläufiges Gutachten:
1. Sektionsergebnis:
Rundlich – bläuliche Hautverfärbung mit beginnender gelblich – grünlicher Verfärbung des Randsaumes der linken Wange, vom Mundwinkel bis zum Unterkiefer reichend. Rundliche Hautverfärbung unterhalb der Kinnspitze. Rundliche Hautverfärbung und Unterblutung in mittlerer Höhe des Nasenrückens.
Schädelbasisbruch durch die vordere Schädelgrube im Bereich der Siebbeinplatte rechts der Mitte. Schädelbasisbruch der mittleren Schädelgrube links seitlich mit Eröffnung des linken Mittelohrraumes. Hirnrunden- und -markblutungen der linken Großhirnhälfte im Bereich des Schädellappens seitlich und basal. Kirschgroße Blutung und Erweichung im rechten Großhirnhinterlappen.

2. Todesursache:
Hirnprellung, Schädelbasisbrüche

3. Todesart:
Nicht natürlicher Tod

4. Toxikologisch – chemische Untersuchungen:
Zur Zeit des Ablebens lag keine alkoholische Beeinflussung vor.

5. Diskussion:
Zeichen erheblicher stumpfer Gewalteinwirkung auf den Schädel mit Brüchen der vorderen und mittleren Schädelgrube und ausgedehnte Hirnverletzungen.
Die schweren Kopfverletzungen können von einem Sturz nicht herrühren.

Ich lese das Protokoll zweimal durch und frage Dr. Sierra:
„Sie glauben also, dass Claudia Palma vor ihrem Fall vom Felsen bereits tot war?“
„Das nehme ich mit Sicherheit an. Aber die Staatsanwaltschaft kam zu einem anderen Ergebnis. Der genaue Zeitpunkt der Verletzungen sei nicht feststellbar. Als Ursache für den Bruch käme ein Sturz ebenso in Betracht wie Schläge.
Da Täter nicht ermittelt werden konnten, wurde das Verfahren eingestellt!“
„Vielen Dank, dass Sie sich so viel Zeit für mich genommen haben.“
Nachdenklich verlasse ich das Büro von Dr. Sierra.
Auf er Straße sehe ich den Mann aus dem Elendsviertel wieder. Mir wird klar, dass er mich laufend beobachtet.
An dem Bericht von El Pato scheint einiges nicht zu stimmen. Vielleicht hat ihn Victor angelogen?

20

Ich glaube, ich muss was unternehmen, die Sache wird zu gefährlich für mich. Leicht kann man bei dem Verkehr vor einen Bus fallen und überfahren werden. Ich muss mit Ernesto sprechen, der schuldet mir einiges.
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Alt 21.04.2010, 13:21   #14
Pedro
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21
Wir sitzen uns gegenüber auf der Terrasse, es wird langsam dunkel.
Sie trinkt etwas mehr als sonst, ich merke , dass sie mich etwas fragen will.
Sie, die ich nie rauchen gesehen habe, bittet mich um eine Zigarette.
Sie sitzt eine Weile da, sagt nichts und raucht. Eigentlich raucht sie gar nicht, sie hat nur wenige Züge gemacht und lässt jetzt die Zigarette
zwischen den Fingern verglimmen.
Sie schiebt ihr Glas von einer Seite zu anderen, schaut mich an und sagt: „Willst du mit mir schlafen?“

Alles andere hatte ich erwartet, aber diese Frage nicht. Natürlich würde ich gerne mit ihr schlafen, von Anfang an hätte ich das gerne gewollt, aber ich sage: „Vielleicht ist das keine so gute Idee.“
„Warum nicht? Gefalle ich dir nicht?“ sagt sie leise.
Ich lächle sie an: „ Hast du nie gemerkt, wie sehr du mir gefällst, hast du nie gemerkt, dass ich gerne zärtlich zu dir sein wollte? Aber bei der geringsten körperlichen Berührung hast du immer sofort zurückgezuckt. Ich hatte den Eindruck, dass du weglaufen würdest, wenn ich dir näher käme. Und das wollte ich auf keinen Fall.
Erinnerst du dich noch, dass ich dich gefragt habe, ob du einen Freund hast? Du hast „nein“ gesagt und als ich mich darüber wunderte, „ich will keinen haben“.
Einen Moment dachte ich, dass du vielleicht mit einer Frau zusammen leben würdest, aber du lachtest und sagtest: „So bin ich nicht veranlagt.“
Unsere Beziehung ist mir ein Rätsel, wie du damals einfach mitgegangen bist zu mir nach Hause, wie du wieder gekommen bist. Ich habe dich nie gefragt, warum, was du von mir erwartest, warum du deine Zeit mit einem alten Mann vertrödelst. Ich bin gerne mit dir zusammen, ich freue mich, wenn du bei mir bist, ich sehe dich an und möchte, dass die Zeit stehen bleibt.“
„ Bitte, schlaf mit mir, alter Mann, ich will es!“, sagt sie und schaut mich etwas verlegen an.

„In Deutschland gibt es eine Pflanze, ihr lateinischer Name ist “Noli me tangere“, das heißt „ Rühre mich nicht an“. Sie hat viele weiße Blüten,
die wie Kugeln aussehen. Wenn man sie anfasst, platzen sie und verschwinden.
Ich habe Angst, dich anzufassen, Angst, dass dann alles zu Ende sein wird.“
Ich erwarte jetzt von Claudia ihre typische Bewegung, Schultern anheben, mühsames Lächeln, als wolle sie sagen: „Da kann man eben nichts machen.“
Aber sie steht von ihrem Stuhl auf, kommt zu mir, fasst meine Hand an und streichelt mir über das Gesicht.
„ Komm!“ Sie zieht mich vom Stuhl hoch, zieht mich ins Haus und macht die Tür zu. Sie hält immer noch meine Hand, als hätte sie Angst, dass ich weglaufen könnte.
Sie führt mich ins Schlafzimmer, drängt mich aufs Bett und setzt sich neben mich. Ich lege einen Arm um ihre Schulter, sie legt den Kopf an meine Brust.
„ Zeig mir, alter Mann, wie ein Mann mit einer Frau, die er gern hat, schläft. Ich bin jetzt 24 Jahre alt, ich will wissen, wie das ist, ich habe, das noch nie erlebt. Ich habe nur gehört und gelesen, dass es sehr schön sein soll.“
Ich weiß nicht, ob ich nicht gerade träume, weiß nicht, was wirklich ist, Ich streichle ihr Gesicht und küsse sie auf die Stirn. Sie richtet sich auf, ich ziehe ihr ganz langsam und vorsichtig die Bluse aus und drücke sie aufs Bett. Wir liegen jetzt nebeneinander, mein Hemd habe ich ausgezogen. Ich drücke sie an mich und streichle sie, ihren Rücken, dann ihre Brüste. Sie klammert sich an mich, schaut mich an . Vorsichtig küsse ich sie auf den Mund, dann ihre Brüste.
Sie zieht ihre Shorts aus und ihren Slip, ich habe mich auch ausgezogen.
„ Du bist wunderschön“, sage ich zu ihr und streichle sie.
Ich lege mich auf den Rücken und ziehe sie auf mich, küsse und streichle sie immer wieder überall. Sie küsst mich auf den Mund, streichelt mich, presst ihren Unterleib an meinen, beginnt sich zu winden und stöhnt leise.
Ich drehe mich um, lege mich auf sie, stütze mein Gewicht mit den Ellenbögen ab, sie öffnet ihre Beine, und ich dringe vorsichtig in sie ein.
Sie fängt an, sich immer wilder zu bewegen, stößt sich immer wieder mein Glied hinein, ich hebe und senke mich immer wieder. Wir keuchen beide. Dann schreit sie, stößt einen Schrei aus, der nichts mit Sprache zu tun hat, alles in mir explodiert.

Wir liegen ruhig nebeneinander, sie umarmt mich, küsst mich und sagt lachend:
„Alter Mann, ich bin noch da. Es war wirklich wunderschön.“
Dann zieht sie sich schnell an, „frag mich jetzt bitte nichts, irgendwann werde ich einmal alle deine Fragen beantworten“.
„Morgen reise ich ab!“
„Dann im nächsten Jahr. Ich freue mich, wenn du wieder kommst.“
Sie weiß nicht, dass sie nie die Möglichkeit haben wird, meine Fragen zu beantworten.
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Alt 27.04.2010, 18:19   #15
Pedro
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22

Ich stehe an der Bushaltestelle in Tomé. Was für ein Verkehr hier herrscht, die Autos rasen vorbei, am Straßenrand ein Gedränge, jeder will zuerst über die Straße. Ich werde von hinten gestoßen, falle fast auf die Straße, kann gerade noch zurück springen, fast hätte mich ein Lastwagen überfahren.

Ich sitze im Bus und fahre nach Viňa. Direkt von Tomé aus, neun Stunden dauert die Fahrt. Hier wohnen Freunde von mir, ein chilenisches Ehepaar, Hardy und Jaqueline. Sie lebten vier Jahre lang im selben Ort in Deutschland wie ich. Er hat da seinen Doktor in Philosophie gemacht. Wir waren sehr befreundet, ich habe viel von ihm gelernt.
Ein Luxus – Bus ist das, Liegesitze, klimatisiert und Fernsehen. Wir kommen nach Chillán, ich steige aus, rauche eine Zigarette. Nach zehn Minuten geht es weiter. Ich schlafe ein.

Ich sehe Claudia im Gras liegen, sie schreit und wehrt sich, zwei Männer fallen über sie her. Ich sehe die Männer nur von hinten, kann sie nicht erkennen, aber eine bayrische Trachtenjacke trägt keiner von ihnen.
Ich will Claudia helfen, kann mich nicht bewegen. Sie hört auf, sich zu wehren, schaut zu meiner Terrasse hinauf.

Mein Busnachbar fragt mich, ob mir übel sei, ob es mir nicht gut gehe, ich hätte furchtbar gestöhnt.
Ich fühle mich völlig kaputt, schwitze, obwohl der Bus klimatisiert ist. Ich sage zu meinem Nachbarn, dass ich schlecht geträumt hätte, ein furchtbarer Alptraum, an den ich mich aber nicht erinnern könne.
Ich denke darüber nach, was El Pato erzählt hat. Der Victor hat ihm also berichtet, wie die Tat abgelaufen ist. Einige Sachverhalte erscheinen mir jetzt merkwürdig. Der Victor hat gesagt, dass die Claudia sich zunächst angezogen hätte, bei der Leiche wurde keine Schuhe gefunden, dass die Claudia seinen Vater beschuldigt hätte, sie vergewaltigt zu haben, dass sie ihn und die beiden anzeigen würde.
Warum hat Victor seinen Vater verraten?
Warum hat die Claudia sich wieder angezogen, ihre Schuhe aber nicht? Sie wollte die Täter anzeigen und ist dann plötzlich von den Felsen gesprungen?
Warum hat Campana gesagt, dass El Pato ein schlechter Mensch sei?
Woher hat Juan gewusst, dass einer der Täter nicht aus dem Viertel war?
Seltsam erscheint mir auch, dass El Pato nicht sofort bereit war, die Sache aufzuklären, gemeint hat, dass das aussichtslos sei.
Rubén hat geglaubt, dass El Pato seinem Onkel in Coliumo beim Fischen geholfen hat, möglicher Weise in der Zeit, als die Sache mit Claudia passiert ist. Er wäre dann in Coliumo gewesen.
El Pato hat abgestritten, dass er in Coliumo war, gesagt, dass er bei einem Onkel in Viña gewesen sei, Eisenwarenhandlung Gomez. Ich werde diese Eisenwarenhandlung suchen und versuchen herauszukriegen, ob El Pato wirklich da war.
Ich lese ein bisschen, schlafe immer wieder ein. Um 19.00 Uhr kommen wir in Viña an, steigen aus, suchen unser Gepäck, und ich sehe den Mann aus dem Elendsviertel wieder. Er saß wohl hinten im Bus.

Hardy holt mich vom Busbahnhof ab, wir essen zusammen, trinken Rotwein und reden über Philosophie und Literatur. Morgen werden wir nach Olmué fahren, da haben die Eltern von Jaqueline ein Landhaus.
Sie ist ein Einzelkind, einzige Tochter. Ihr Vater scheint einen Haufen Geld zu haben. Er besitzt ein Apartment in Miami, kam für eine einzige Nacht nach Deutschland gereist. Er hat ihr ein großes Auto geschenkt.

Am nächsten Vormittag setzt mich Hardy im Zentrum ab, ich habe gesagt, dass ich nach einem Geschenk für meine Frau suchen werde.
Im Telefonbuch suche ich die Adresse der Eisenwarenhandlung Gomez heraus.
Mit einem Taxi fahre hin, finde einen ziemlich kleinen Laden vor.
Ein älterer Mann steht hinter dem Ladentisch, ich frage ihn, ob El Pato da sei.
„ El Pato“, sagt er, der ist nicht da, er war aber im Februar hier und hat mir bei der Arbeit geholfen.“
Über die Antwort bin ich erstaunt, ich erfahre etwas, wonach ich gar nicht gefragt hatte. Es ist fast so, als wenn der Mann auf meine Frage vorbereitet war.
Ich schaue mich um, hier gibt es fast alles. Wasserleitungsrohre liegen in einer Ecke, Werkzeuge hängen an der Wand. Ich überlege, was ich den Mann noch fragen kann.
Das Telefon klingelt irgendwo im Hinterzimmer. Der Mann bittet mich, einen Moment zu warten und verlässt den Laden.
Eine Frau kommt aus dem Hinterzimmer, wahrscheinlich die Frau des Mannes, mit dem ich gerade gesprochen habe. Etwa sechzig Jahre ist sie alt, ihre dunklen Haare hat sie hinter dem Kopf zu einem Dutt gebunden, fast so, wie sie meine Großmutter immer hatte.
„Kennen Sie El Pato“, frage ich sie.
„Ja, natürlich, dass ist der Sohn einer Schwester meines Mannes. Aber den habe ich schon viele Jahre nicht gesehen.“
Ich verlasse schnell den Laden, gehe die Straße hinunter, setzte mich in ein kleines Restaurant und bestelle einen Kaffee.
Hardy holt mich dann ab, ich habe ihn angerufen. Wir fahren aufs Land. Das Haus hat ein Schwimmbad, das Wetter ist großartig, aber ich kann das alles nicht richtig genießen.
Hardy fragt mich, warum ich so viel nachdenke, über einen Krimi sage ich, den ich gerade schreibe.








23

Das hat nicht geklappt, Ernesto hat sich zu blöd angestellt, aber der Deutsche hat nichts gemerkt.
Der ist doch tatsächlich nach Viňa gefahren und hat gefragt, ob ich im Februar da war. Gut, dass ich Ernesto zu meinem Onkel geschickt habe und der auf die Frage vorbereitet war. Ernesto hat ihm erzählt, dass ich verdächtigt werde, eine Bank im Februar mit anderen zusammen überfallen zu haben, hat ihm gesagt, dass da sicherlich irgendein Geheimpolizist bei ihm vorbei kommen wird. Er soll sagen, dass ich im Februar bei ihm war.
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>Die Kritiker nehmen eine Kartoffel, schneiden sie zurecht, bis sie die Form einer Birne hat, dann beißen sie hinein und sagen: „Schmeckt gar nicht wie Birne.“< (Max Frisch)

Geändert von Pedro (28.04.2010 um 05:35 Uhr)
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Alt 29.04.2010, 08:59   #16
Pedro
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24

Es wird langsam dunkel, als ich nach Coliumo zurück komme. Bei Don Marcelo brennt Licht. Ich klopfe an die Tür, er öffnet. Ich schaue ihn an und sage: „Claudia Palma.“
Er sagt: „Bitte kommen Sie herein.“
Er scheint nicht erstaunt über meinen Besuch zu sein.
„Setzen Sie sich bitte.“
Wir sitzen uns gegenüber, er hat eine Flasche Wein aufgemacht und gießt uns ein. In einer Ecke hängt ein Familienbild, er, seine Frau und sein Sohn Victor, der auf dem Foto etwa zehn Jahre alt ist. Sie umarmen sich gegenseitig, die Frau sieht ihn an, so wie man jemanden ansieht, den man sehr lieb hat.
Er sieht, dass ich das Bild anschaue.
„ Ja, sagt er dann, „das war einmal. Ein Augenblick kann das Leben ändern.
Jetzt lebe ich hier allein, meine Frau habe ich seit damals nie wieder gesehen, meinen Sohn sehe ich kaum. Im Januar war er vierzehn Tage hier, länger hat er es mit mir wohl nicht ausgehalten. Er weiß nicht, warum meine Frau sich von mir getrennt hat, hat mich nie gefragt, lebt bei ihr und kommt sehr selten vorbei.“
Er nimmt einen großen Schluck aus seinem Glas und schüttelt den Kopf. „Wie das alles gekommen ist, kann ich bis heute nicht fassen. Ich habe alles verloren, was für mich einen Wert hatte, mir ist es egal, wenn Sie mich jetzt anzeigen werden.“
Mit einer Hand streichelt er über ein Sofakissen, sehr zärtlich, als wenn es sich um eine Person handeln würde.
„ Wenn man dafür bezahlen kann, was ich getan habe, habe ich bezahlt. Die Claudia war damals sechzehn, hat bei uns geputzt, meine Frau brachte meinen Sohn zu einer Geburtstagsfeier. Und ich saß damals auf dem Sofa, war nicht mehr ganz nüchtern und sah der Claudia zu. Sechzig Jahre alt war ich damals, ein alter Bock, der scharf auf ein junges attraktives Mädchen war, das meine Tochter hätte sein können.
Ich sagte zu ihr, dass sie sich einen Moment neben mich setzen sollte, ich müsse etwas mit ihr besprechen. Die Claudia hat zunächst gar nicht gemerkt, was da in mir ablief, erst als ich sie umarmt habe, hat sie angefangen sich zu wehren, aber da war es schon zu spät für sie. Ich habe sie auf das Sofa gedrückt und mich auf sie geworfen. Und dann ist es passiert und meine Frau kam herein.
Sie hat nichts gesagt, hat die Claudia nach Hause gebracht, ihre Sachen gepackt und ist mit unserem Sohn weggefahren. Was sie zu Claudias Mutter gesagt hat, weiß ich nicht.
Ich war völlig verzweifelt, wusste nicht, was mit mir passiert war.
Ich habe dann versucht, wieder gut zu machen, was nicht wieder gut zu machen war.
Dem Gymnasium, auf das Claudia ging, habe ich eine großzügige Geldspende gemacht und dafür gesorgt, dass die Claudia es kostenlos besuchen konnte, das Gleiche habe ich später für die Universität getan, an der Claudia „Krankenschwester“ studierte, später dafür gesorgt, dass sie in einer Klinik angestellt wurde. Ihrer Mutter habe ich eine Arbeitsstelle bei Bekannten besorgt und ihren Lohn aufgebessert. Weder Claudia noch ihre Mutter haben von alldem gewusst, sie hätten meine Hilfe wohl auch nicht angenommen. Warum Claudias Mutter mich nicht angezeigt hat, weiß ich bis heute noch nicht. Und jetzt ist Claudia tot!“

Inzwischen haben wir beide die Flasche Wein leer getrunken, ich schaue den Mann an. Er ist kaputt.
Er hat mich nicht gefragt, woher ich von der Vergewaltigung weiß. Wahrscheinlich nimmt er an, dass mir Claudia davon erzählt hat.

Ich stehe auf und gehe zur Tür.
„Bitte zeigen Sie mich erst morgen an. Ich müsste noch etwas erledigen“, sagt er zu mir.
„Ich werde Sie nicht anzeigen“, sage ich zu ihm und gehe hinaus.
__________________
>Die Kritiker nehmen eine Kartoffel, schneiden sie zurecht, bis sie die Form einer Birne hat, dann beißen sie hinein und sagen: „Schmeckt gar nicht wie Birne.“< (Max Frisch)
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Alt 30.04.2010, 11:51   #17
Pedro
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25

Ich sitze am Meer auf einem Felsen und angle. Eigentlich angle ich gar nicht. Ich habe die Angelrute in der Hand und denke und denke, alles geht bei mir durcheinander.
El Pato war einer der Täter, Victor hatte mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun, war zu der Zeit gar nicht in Coliumo.
Ich schaue auf das Meer, unendlich weit ist da alles, fühle mich bedeutungslos. Möwen kreischen, Kormorane stürzen ins Meer, steigen wieder auf, manchmal mit einem Fisch im Schnabel.
Wenn man sich auf eine Sache einlässt, kommt oft etwas ganz anderes heraus, als man erwartet hat.
Ein Schatten fällt über mich, jemand steht hinter mir. Ich weiß, wer es ist, drehe mich nicht um. Das war es also, denke ich.
Eigentlich sollte ich aufstehen, wenigstens ein Stück von der Felsenkante zurückgehen. Siebenundsechzig Jahre bin ich alt, langsam etwas tattrig und hinter mir steht jemand, der zwanzig Jahre jünger ist und jetzt auf meine Schultern drückt.
Da hab ich keine Chance. Ich weiß nicht, warum ich mich auf so etwas eingelassen habe. Edgardo hatte Recht, als er sagte, die Sache könne gefährlich werden.
Ich schaue nach oben, am Himmel ist eine kleine Wolke, sie segelt langsam vorbei. Und da fällt mir ein Gedicht von Berthold Brecht ein. „Und auch den Kuss, den hätt ich längst vergessen, wenn nicht die Wolke da gewesen wär......“
Komisch an was man sich manchmal erinnert, an Sachen, die mit der jeweiligen Situation scheinbar nichts zu tun haben.
Das wäre es dann wohl gewesen, denke ich wieder.

„Wann haben Sie es gewusst, Don Pedro?“
„ Spätestens als ich in Viña war.“
„ Das verstehe ich nicht, mein Onkel hat doch bestätigt, dass ich im Februar bei ihm gearbeitet habe.“
„Dein Onkel schon, aber deine Tante hat gesagt, dass sie dich seit Jahren nicht gesehen hat.
Don Marcelo hat mir erklärt, dass Victor zu dieser Zeit überhaupt nicht in Coliumo war. Victor hätte auch nicht seinen Vater verraten, er wusste überhaupt nichts von der Vergewaltigung damals. Es konnte nur jemand von Claudia wissen, jemand, der Claudia zuletzt gesehen hat.“
Die Kormorane fischen weiter, und die Möwen fliegen dicht über das Wasser. Weit weg fährt ein Dampfer vorbei, ein Passagierschiff. Vor vielen Jahren bin ich mit einem solchen Schiff nach Kolumbien gereist, sollte dort eine Schule gründen. Meine Kinder waren noch klein, ich war mit meiner ersten Frau glücklich.
„ Don Pedro, sie können mir glauben, was ich jetzt hier tun werde, tut mir Leid, aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Man wird an einen Unfall glauben, hoffentlich Rubén und andere auch. Ich werde weggehen müssen von hier, weit weg.“
Ich könnte jetzt sagen, dass ich ihn nicht anzeigen werde, aber ich würde es tun.

In Augenblicken vor dem Sterben läuft das ganze Leben noch einmal vorbei, habe ich einmal gelesen. Wie ein Film. Nicht das ganze Leben läuft an mir vorbei, Bilder von Augenblicken, die einmal bedeutend für mich waren.
Da stehe ich vor einem Lehrer in der ersten Klasse des Gymnasiums, der zu mir sagt, dass ich eigentlich nicht hierher gehöre, aus der Unterschicht komme.
Ich sehe meine Mutter, sie liegt im Sterben und schaut mich an, sagt nichts.
Mein kleiner Sohn löchert mich mit Fragen, warum....
Meine zweite Tochter Antonia sagt: „Papa hilf mir“. Sie versucht, ihre Schuhe anzuziehen.
Ich sehe meine erste Frau davongehen, sie geht immer weiter, dreht sich nicht um.
Meine erste Tochter Gabi sagt: „ Ich habe, als ich sechzehn war, immer versucht alles gut für dich und Mama zu machen, damit ihr weniger streitet.“ Und ich habe es nicht gemerkt.
Meine jetzige Frau Celia sagt: „Pass auf dich auf, wir brauchen dich!“

Und ich denke an alles, was ich gemacht habe, ohne es wirklich zu wollen, dass ich vielleicht nicht verstanden habe, das zu leben, was ich wirklich wollte.


Ich sehe seinen Schatten, sehe, wie er sich zurück lehnt, zu einem Stoß ausholt, meine Schultern einen Moment loslässt und sich dann nach vorne wirft.
Ich lasse mich zur Seite fallen, er stößt ins Leere, fällt über mich, rutscht den Boden entlang und verschwindet hinter der Felskante. Nur seine Hände verkrampfen sich noch, halten ihn mühsam fest.
Ich stehe auf, schaue auf ihn, wie er da hängt, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht bleich.
Er schaut mich an, wartet wohl, dass ich jetzt auf seine Hände trete.
Ich gehe etwas zurück, lege mich auf den Bauch und umklammere seine Arme.
Fassungslos schaut er mich an. Öffnet den Mund, als wenn er etwas sagen will.
Ich sehe, wie sich seine Hände vom Rand des Felsen lösen. Er kann sich nicht mehr halten.
Ich versuche ihn hoch zu ziehen, aber er ist zu schwer für mich. Der Boden, auf dem ich liege ist sandig, ich fange langsam an zu rutschen in Richtung Felskante.
Er sieht mich an und sagt: „Danke. Vielleicht können Sie mir verzeihen! Lassen Sie los!“
Ich schwitze, meine Hände sind feucht, ich merke, dass ich ihn nicht mehr viel länger halten kann.
Ich fange wieder an zu rutschen, hänge jetzt schon zum Teil mit dem Oberkörper über der Felskante, sehe tief unten die Felsen, die das Meer umspült.
„Lassen Sie los“, sagt El Pato noch einmal. Und ich denke an das Fußballspiel vor vielen Jahren und an den Kiosk. An Claudia denke ich in diesem Moment nicht.
Und dann reißt sich El Pato los, stürzt nach unten, überschlägt sich mehrere Male und bleibt auf dem untersten Felsen liegen. Seine Füße bedeckt das Meer.
Ich klettere nach unten. El Pato liegt auf dem Rücken und schaut in den Himmel, als wenn er da etwas sehen würde. Er lächelt. Blut läuft aus seinem Mund. Er schaut mich noch einmal an, als wenn er etwas nicht fassen könnte, noch ein Atemzug, dann fällt sein Kopf zur Seite.
Ich hätte zu gern gewusst, was El Pato gesehen hat, was er gedacht hat, dass er noch lächeln konnte.

Das Leben, mein Leben, hat einen Moment angehalten, und etwas bleibt in dem angehaltenen Augenblick zurück, geht nicht mehr weiter mit.
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Alt 09.05.2010, 05:21   #18
Pedro
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26

Habe heute Morgen einen Teil vom Kies auf die Gartenwege verteilt. Ihn zu bekommen war mit Theater verbunden.
Ich bestellte ihn in Tomé, versprochen wurde, ihn am Nachmittag zu liefern. Er kam erst nach drei Tagen, nachdem ich reklamiert hatte, nachgefragt hatte, ob die Firma bereit sei, einen Teil der Arbeitslöhne derer zu übernehmen, die auf die Anlieferung warteten und deren Löhne ich bezahlen müsse.
Ich gehe den Berg hinunter, komme ans Meer. Direkt am Strand stehen Hütten, in denen die Ärmeren wohnen. Einfach dahin gebaut, teilweise recht schief, Schwemmholz wurde verwendet. Alles wurde in der Farbe angestrichen, die gerade verfügbar und billig war.
Irgendwann wird eine Welle kommen und alles wegspülen. Die Menschen da wissen das, haben aber kein eigenes Land, auf dem sie ihre Hütten bauen könnten.
Etwas abseits steht eine kleinere Hütte, die Farbe hat der Regen abgewaschen, hier wohnte Claudia.
Ich klopfe an die Tür, höre nach längerer Wartezeit schlurfende Schritte. Eine Frau macht die Tür einen Spalt auf, erkennt mich dann und lässt mich herein.
Claudias Mutter, sie ist in diesem Jahr sehr viel älter geworden. Sie schaut mich an und schüttelt den Kopf, ihre Haare hängen ihr ins Gesicht. Ihre Augen fallen auf, sie sind blau, genauso blau wie Claudia sie hatte.
Küche und Wohnzimmer sind ein Raum, alles sehr sauber. Auf dem Herd stehen Töpfe. Am Tisch ist nur ein Stuhl. Sie geht in einen Nebenraum und holt einen weiteren. Wir setzen uns an den Tisch.
„Möchten Sie einen Kaffee?“ fragt sie, nachdem sie mich längere Zeit angesehen hat.
„Ja, gerne.“
Sie steht wieder auf, bringt eine kleine Dose Nescafé an den Tisch, Milch und Zucker, gießt heißes Wasser in zwei Tassen.
Ich rühre in dem Kaffee herum, als wenn es da etwas gäbe, was sich nicht auflösen würde. Ich versuche Zeit zu überbrücken. Mir fehlen die Worte, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, was ich sagen soll. Vielleicht hätte ich gar nicht herkommen sollen.
„ Werden Sie wieder bis Ende Februar hier bleiben ?“fragt sie.
„Ja, in Deutschland ist es jetzt sehr kalt.“
Sie schaut mich an, steht vom Stuhl auf , geht ans Fenster und schaut längere Zeit hinaus. Dann dreht sie sich zu mir um.
„Claudia hat viel von Ihnen erzählt, fast kenne ich Sie.“
Ich schaue die Bilder an, die an den Wänden hängen. Bilder von berühmten Malern, aus Zeitungen herausgerissen.
In einer Ecke klebt ein Zeitungsausschnitt an der Wand. Von meinem Stuhl aus kann ich die fett gedruckte Überschrift lesen:
Junge Frau nimmt sich das Leben, nachdem sie vergewaltigt wurde.
Ich frage mich, warum hat ihre Mutter das aufgehängt, als Hilfe zur Erinnerung braucht sie das wohl nicht.
Frau Palma hat meinen Blick verfolgt.
„Ja, das ist jetzt auch schon wieder ein Jahr her, aber mir ist es, als wenn es gestern gewesen wäre“, sagt sie und streicht ihre Schürze glatt, „ ich glaube nicht, dass sie sich umgebracht hat. Sie hätte mich niemals alleine gelassen.“
Ich weiß immer noch nicht, was ich sagen soll, wie ich die Frau trösten könnte. Sie merkt, dass ich aufstehen und gehen will.
„Bitte bleiben Sie noch ein bisschen hier“, sagt sie, „es tut mir gut, wenn ich mit jemanden sprechen kann, der Claudia gekannt hat.“
Ich bleibe sitzen und schaue auf den Tisch. Die Frau legt immer wieder den Kaffeelöffel von einer Seite auf die andere, rückt die Zuckerdose hin und her.
„Ja, die Claudia hatte es nie leicht. Alles fing an, als sie etwa 14 Jahre alt war. Ich habe sie auf das Gymnasium nach Tomé geschickt, sie sollte es einmal besser als ich haben. Aber da hat sie sich nicht wohl gefühlt. Mit Jungen wollte sie keine Kontakte haben, konnte wohl auch keine normale Beziehung zu männlichen Jugendlichen aufbauen. Als sie vierzehn war, hat sie ihr Vater vergewaltigt. Ich hätte ihn fast umgebracht. Er ist dann weggegangen. Mit sechzehn hat sie ein Nachbar vergewaltigt, wir haben ihn nicht angezeigt, nie mit anderen darüber geredet, hatten Angst, dass man uns nicht glauben würde, der Claudia die Schuld geben würde.
Sie war einfach zu schön. Die Leute haben gesagt, dass sie wohl glaube, etwas Besseres zu sein, eingebildet und arrogant sei. Dabei hat sie nur Angst gehabt. Ich glaube, dass sie nie freiwillig mit einem Mann geschlafen hat, schlafen konnte.“
Mir wird jetzt so manches klar, „Schlaf bitte mit mir, alter Mann“, hat Claudia gesagt. Sie hatte noch nie freiwillig mit einem Mann geschlafen und wollte wissen, wie das ist.
Und „zwei Mal hat mir Gott nicht geholfen“, hat sie gesagt. Jetzt sind es drei Mal.
„Und so hat auch alles aufgehört. Ich glaube, dass die Nachbarn wissen, wer sie vergewaltigt hat, dass sie meinen, die Claudia sei schließlich selbst an allem schuld“, sagt Frau Palma.
Fast ohne Unterbrechung hat Frau Palma ihre Anklagen und ihren Kummer herausgestoßen. Sie schaut mich jetzt verzweifelt an.
„Sie waren der erste Mann, mit dem sie eine Beziehung begonnen hat, den sie als Freund gesehen hat. Hat sie mit Ihnen geschlafen?“
Ich zögere meine Antwort hinaus. Wird sie es verstehen, wenn ich ihr erkläre, dass ich im Normalfall alle Möglichkeiten und meine Erfahrungen benutzt hätte, um mit so einer Frau ins Bett zu kommen? Wird sie mich nicht für einen alten geilen Bock halten, der die Gelegenheit ausgenutzt hat, mit einer jungen, attraktiven Frau Geschlechtsverkehr zu haben? Wird sie mir glauben, dass alles ganz anders war? Dass Claudia zu mir gesagt hat: „Ich möchte jetzt mit dir schlafen?“
„Ja, ich habe ein Mal mit ihr geschlafen. Sie hat es gewollt“, sage ich dann.
„Ich glaube Ihnen.“ Sie rührt in ihrer Kaffeetasse herum.
„Glauben Sie an Gott?“ fragt sie mich.
Das Gleiche hat mich Claudia einmal gefragt.
„Nein“, sage ich, „ich bin Atheist“!
„Ich glaube, Claudia hat an Gott geglaubt, darum ist sie auch immer wieder zur Jungfrau gegangen.
Ich habe auch einmal an Gott geglaubt“.
„Und jetzt?“
„Jetzt nicht mehr!“ sagt sie leise.
„Ihre Tochter hat mich als arm bezeichnet, weil ich nicht an Gott glaube, da hast du ja keinen, der dich trösten kann, hat sie gesagt.“
„Mich hat kein Gott getröstet, mich tröstet kein Gott, mir hilft kein Gott und Claudia hat auch kein Gott geholfen!“
Ich stehe auf, gehe zur Tür. Sie begleitet mich. Ich nehme sie in den Arm, sie weint und meine Augen sind feucht.
„Danke, dass Sie die Mörder gefunden haben,“ sagt sie, „aber das hilft jetzt auch nichts mehr.“
Ich wundere mich, dass sie weiß, dass ich die Täter gesucht habe.
Ich hatte sie vor Claudias Tod nur einmal gesehen, sie sieht anders aus, ist hagerer, ihr Gesicht hat sich versteinert. Da ist wohl nie mehr ein Lachen darin, nicht einmal die Spur eines Lächelns.

Und dann sehe ich wieder diese typische Bewegung. Genau wie Claudia zieht sie die Schultern hoch, lächelt mühsam, als wollte sie sagen: „Da kann man nichts machen“.
Ihr Blick streift mich wie der Wind das Gras.
Sie steht einfach nur da, der traurigste Mensch, den ich je gesehen habe.
Ich sehe sie an und denke, ja, eigentlich kann man nichts machen.
Ich gehe aus dem Haus und drehe mich nicht mehr um.



27

Ich stehe auf dem Flugplatz, alleine. Ich sagte ja schon, dass ich Abschiede hasse. Ich gehe zum Flugschalter, um einzuchecken. Ausgang 4, 10.30 Uhr.
Ich laufe in Richtung Ausgang. Da steht einer, der auch in diesem Jahr viel älter geworden ist: Rubén.
Er umarmt mich. Wir sagen beide nichts.



Ende
__________________
>Die Kritiker nehmen eine Kartoffel, schneiden sie zurecht, bis sie die Form einer Birne hat, dann beißen sie hinein und sagen: „Schmeckt gar nicht wie Birne.“< (Max Frisch)
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