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Alt 23.12.2011, 15:06   #1
Friedhelm Götz
Schüttelgreis
 
Registriert seit: 02.11.2011
Beiträge: 954
Standard Yesterday - Begegnung mit der Vergangenheit

Als ich nach vielen Jahren mal wieder zu einem Besuch in Heidelberg war, wo ich einen Teil meiner Schul-, Studien- und Berufszeit verbracht hatte, und gerade so in Gedanken durch die altvertrauten Gassen schlenderte, spürte ich plötzlich, wie sich eine Hand auf meine Schulter legte. Ich befürchtete schon, Opfer einer kriminellen Gewalttat zu werden, doch als ich mich umdrehte, blickte ich nicht in das Gesicht eines Schlägers, sondern in die strahlenden Augen eines älteren Herrn, der zu mir sagte: „Entschuldigung, aber ich glaube, ich kenne Sie!“

Ich zögerte, vielleicht war das so eine Masche, mir was anzudrehen. Aber nichts dergleichen. Er fuhr fort, nun das vertrauliche „Du“ verwendend: „Du bist doch Fridolin, der Schnelldichter! Dir verdanke ich, dass ich die große Liebe meines Lebens gefunden habe.“

„Mein Gott, Walter“, lachte ich, mich erinnernd, „das ist ja fast schon nicht mehr wahr, so lang ist das her. Aber wieso hast du mir die große Liebe deines Lebens zu verdanken?“ fragte ich und fügte hinzu: „Lass uns doch in ein Café gehen, dann können wir in Ruhe in Erinnerungen schwelgen.“

„Ich habe eine bessere Idee“, meinte er, „komm, ich wohne hier um die Ecke, dann mache ich zur Feier des Tages ein Fläschchen auf. Oder bist du sehr in Eile?“ Ich sagte ihm, dass ich gegen Abend wieder mit der Bahn heimfahren wolle.

Nach einem Fußweg von etwa zehn Minuten standen wir vor einem Haus im Jugendstil, und mein Begleiter führte mich in eine Maisonettewohnung, eine Wendeltreppe hinauf in ein großes Musikzimmer, in dessen Mitte ein weißer Konzertflügel stand. Ich erinnerte mich, Walter war damals in einem Trio der Pianist und Leadsänger. Die drei nannten sich die „Repeiros“, eine Verballhornung eines nach dem Krieg sehr bekannten Trios, das sich die „Die drei Peheiros“ nannte.

An der Wand gegenüber dem Flügel hing ein großes Gemälde mit dem Bildnis einer ebenso attraktiven wie elegant gekleideten Frau.

„Vor zwei Jahren ist sie gestorben“, sagte Walter, „aber sie ist immer bei mir und freut sich, dass ich dich getroffen habe.“ Ich nickte, denn ich habe schon oft erlebt, dass Menschen mit ihren verstorbenen Angehörigen auch nach dem Tod noch zu sprechen pflegen.

„Jetzt will ich dir aber etwas zeigen, ich sehe dir an, dass du darauf brennst, zu erfahren, wie das damals war“, sagte er und holte aus einem Schrank eine kleine Mappe, die er mir überreichte: „Mach mal auf, dann weißt du Bescheid“, sagte er. Ich öffnete die Mappe und fand darin eine Serviette und darauf einen Text, unverkennbar in meiner Handschrift geschrieben:

Gestern noch
war die Welt für mich so öd und leer,
ringsumher ein graues Nebelmeer,
denn ich vermisste dich so sehr.

Heut jedoch
kam das große Glück mit dir zurück.
Der Himmel öffnet sich ein Stück
mit dir in jedem Augenblick.

Denn die Sonne, die so hell mir scheint,
bist du.
Und mein Herz, vereint,
schlägt im Liebestakt dazu.

Heut ist heut.
Gestern - heute schon Vergangenheit.
Nun öffnet ihre Pforten weit
uns eine Zeit voll Seligkeit.



Jetzt fiel es wie Schuppen von meinen Augen. „Ja“, sagte ich, „der Text ist von mir, ich habe damals öfter auf Servietten geschrieben, wenn mir plötzlich etwas einfiel, nahm ich, was grade zur Hand war. An viele solcher Niederschriften kann ich mich gar nicht mehr erinnern, auch an diese nicht.“

„Du hättest sie sammeln sollen, dann könntest du einen Band herausgeben mit dem Titel „Fridolins Serviettengedichte“, lachte er.

„Aber du weißt sicher, was für eine Bewandtnis es mit dem Text hat“, fragte er mehr rhetorisch und gab gleich die Antwort: „Das ist dein Text auf den damals ganz aktuellen Titel „Yesterday“ von den Beatles; leider hatte ich kein Englisch gelernt, und ausgerechnet dieses Lied wurde vom Publikum immer wieder gewünscht, besonders von einer jungen Dame, die mir sehr gefiel und der zuliebe ich die Mühe mit der englischen Sprache auf mich nahm. Als ich dann deinen Text sang, war meine Angebetete ebenso überrascht wie beeindruckt. Wenige Monate später haben wir geheiratet. Gerne hätten wir dich dazu eingeladen, aber du warst nicht aufzufinden. Unsere Liebe hat ein ganzes Leben gehalten und ist über den Tod hinaus nicht erloschen“, sagte er und fügte hinzu: „Komm, mach mir die Freude, sing das Lied für mich, ich bin nicht mehr so gut bei Stimme mit meinen bald 80 Lenzen.“

Er setzte sich ans Klavier, ich nahm die Serviette und wartete auf meinen Einsatz. Wie von Geisterhand verlöschte das Licht, nur der Flügel wurde von einem Licht an der Decke angestrahlt, und als dann der Raum vom Klang dieses wundervollen Instruments erfüllte wurde, fing plötzlich das Bild an der Wand an zu leuchten und es schien, als trete die Frau aus dem Rahmen und wäre mitten unter uns.

Ich blieb dann noch über Nacht bei meinem Freund, denn aus dem einen Fläschchen wurden zwei oder waren es drei? Jedenfalls war mir, als würde die Frau auf dem Gemälde mir zulächeln und sagen: „Vielen Dank, mein Freund.“

Natürlich haben wir auch darüber gesprochen, was ich so mache. Ich fragte ihn, ob er Internet habe und er sagte, er hätte es gekündigt, weil er in Kürze an seinen Alterssitz in der Algarve ziehe. Ich riet ihm, sich an der Algarve Internet einrichten zu lassen, dann könnten wir weiter in Verbindung bleiben.

Am anderen Morgen sagte er mir nach dem Frühstück, gerne würde er mich zum Bahnhof begleiten, aber er müsse zum Arzt und hätte für mich ein Taxi bestellt, das auch kurz darauf schon vorfuhr. Nachdem wir uns noch einmal herzlich umarmt hatten, reichte er mir durch das offene Autofenster ein Päckchen. „Ich hab dir da noch ein paar Erinnerungen an früher eingepackt“, winkte dem davonfahrenden Taxi nach und ging ins Haus zurück.

Da das Päckchen fest verpackt und mein Zug brechend voll war, musste ich meine Neugier zügeln, bis ich zuhause war.

Was ich dann fand: Eine CD mit Klaviermusik von meinem Freund, eine Art Tagebuch mit dem Titel „Erinnerungen“ und ein Oktavheft, auf dem stand „Fridolins Serviettengedichte“.

Erschüttert las ich dann seine Zeilen an mich:

Lieber Fridolin, ich habe dir gestern nicht die ganze Wahrheit gesagt, als ich von meinem Alterssitz in der Algarve sprach. Es handelt sich um ein Hospiz; meine Reise dorthin ist eine Reise ohne Wiederkehr. Ich habe nur noch wenige Monate. Für mich war es ein Geschenk, dir noch einmal zu begegnen. Unter dem Einfluss meiner verstorbenen Frau habe ich die Mucke aufgegeben, habe der seichten Schlagerwelt den Rücken gekehrt und bin Korrepetitor geworden. Ich bin weit in der Welt herumgekommen, meine Frau war eine bekannte Cellistin. Einzelheiten kannst du in meinen Erinnerungen nachlesen. „Fridolins Serviettengedichte“ verdanke ich mehreren Freunden, die mir Abschriften von deinen Schnelldichtungen ermöglicht haben.

Lebe wohl mein Freund
Dein Walter

Walter ist wenige Wochen darauf gestorben.

Geändert von Friedhelm Götz (31.01.2012 um 10:02 Uhr)
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Alt 23.12.2011, 16:03   #2
Erich Kykal
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Hi, Fridolin!

Normalerweise bin ich kein Fan von Kurzgeschichten - oft zuviel Pathos und zuviele erhobene Zeigefinger.
Diese Geschichte aber hat mich ergriffen. Was mich natürlich brennend interessiert: Ist sie autobiographisch? Wirklich so erlebt? Mein Gefühl sagt leider - eher nein.
Einiges wirkt gestellt, zB, dass Walter sich tatsächlich die Mühe gemacht haben soll, Fridolins Schnellschüsse ohne dessen Wissen zu sammeln und dann über Jahrzehnte hinweg (!) aufzubewahren, nur auf die vage Möglichkeit eines zufälligen Treffens in Heidelberg hin? Sehr unglaubwürdig. Hätte Walter vorher geschrieben und Fridolin eingeladen, wäre das so zumindest etwas glaubhafter (...wenn auch nicht sehr!).
Und dann diese Theatralik mit dem klärenden Brief: Jeder normale Mensch hätte dem Freund Aug in Auge sein Herz ausgeschüttet!
Aber, wie gesagt, trotz dieser Ungereimtheiten war die Story ergreifend, weil gut erzählt und mit gut platziertem Spannungsbogen.

LG, eKy
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen.
Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen!
Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind.
Dummheit und Demut befreunden sich selten.

Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt.
Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit.
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Alt 23.12.2011, 21:15   #3
Friedhelm Götz
Schüttelgreis
 
Registriert seit: 02.11.2011
Beiträge: 954
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Lieber Erich,

ich habe die Erzählung schon vor einem Jahr auf Poetry und bei den Lyrikern vorgestellt. Keiner der Leser hat mir gegenüber Zweifel geäußert, wie du das tust. Ich kann dir versichern, dass - bis auf ein paar Ausschmückungen - alles so erzählt ist, wie ich es in Erinnerung habe. Natürlich habe ich mich auch gewundert, dass Walter meine Gedichte gesammelt hat. Er sagte mir, er hätte die Sachen einfach weiter aufbewahrt, sogar noch, als er selbst nicht mehr damit rechnen konnte, mir jemals wieder zu begegnen. Zu seinem Gesundheitszustand wollte er nichs sagen, so blieb mir seine schwere Krankheit verborgen. Ich vermute, er wollte die fröhliche Stimmung, die wir erlebt hatten, nicht zerstören. Eine andere Erklärung habe ich nicht.


LG Fridolin

Geändert von Friedhelm Götz (01.02.2012 um 09:19 Uhr)
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Alt 23.12.2011, 22:26   #4
Erich Kykal
TENEBRAE
 
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Ort: Österreich
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In diesem Fall streue ich gern Asche auf mein Haupt!
Gewisse Handlungen und Dynamiken ließen mich - zu Unrecht, wie sich erweist - vermuten, die Geschichte könnte zumindest irgendwie aufgehübscht worden sein.
Natürlich hätte ich mir für dich und Walter in diesem Lichte ein besseres Ende gewünscht.

LG, eKy
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