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Alt 17.02.2009, 12:49   #1
Klatschmohn
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Standard Bertrand

Bertrand

Vielleicht hatte ich am Abend ein bisschen schwer gegessen, vielleicht war es einfach zu spät geworden, gestern Abend. Vielleicht aber, sind alle Dinge auch wirklich geschehen.
Jedenfalls werde ich diese Nacht nicht vergessen und als ich am anderen Morgen aufstand war ich ein anderer Mensch.
Wir verbrachten doch mit Helene und Karl einen schönen Abend, unterhielten uns angeregt, verspeisten mein gut gelungenes Abendessen, tranken einen hervorragenden Ahrtwein und redeten über frühere Zeiten. Früher Zeiten!
Sprachen wir auch über Bertrand? Normalerweise reden wir nicht darüber, was damals geschehen ist. Ich weiß es nicht mehr. Wieso habe ich dann von ihm geträumt?
Ich muss mich jetzt hinsetzten, meine Knie fangen an zu zittern und mein Herz schlägt einfach zu schnell. Ich sollte ein paar Beruhigungstropfen nehmen.

Bertrand, blond, schüchtern, hatte immer sehr merkwürdige Ansichten für unseren Geschmack, aber die Lehrer fanden gut was er sagte. Seine Augen: in ihnen spiegelte sich seine ganze Unsicherheit, er schaute uns nie direkt an, verhaspelte sich oft wenn er sprach - wenn er sprach. Irgendwann hatte er es wohl aufgegeben mit uns mitzuhalten, wenn es nicht unbedingt sein musste. Von uns sah auch selten irgend jemand die Notwendigkeit, mit ihm zu reden.
Wären wir nur dabei geblieben. Wäre ich nur dabei geblieben.

Ich sehe meinen Heimatort noch vor mir, den Weg auf dem ich jeden Morgen zur Schule gegangen war, gemeinsam mit den anderen Kindern. Ein dichter Pulk, die braunen Lederranzen auf dem Rücken, stapfte der Schule zu. Die Gruppe vergrößerte sich immer mehr, je näher wir dem weißen Gebäude kamen, das etwas außerhalb auf einem Hügel lag. Es herrschte ein wildes Gerenne, Geschubse und Gejohle.
Wir Mädchen in unseren Röcken, in der kalten Jahreszeit mit den kratzigen Wollstrümpfen, die mit Strumpfbändern am Leibchen fest saßen. Später im Jahr mit Kniestrümpfen, im Sommer mit Söckchen und Sandalen. Die Jungen in ihren kurzen schwarzen Hosen und den genagelten Schuhen.
Bertrand hielt immer einigen Abstand, er schien ständig über etwas nachzudenken und manche behaupteten, dass er Selbstgespräche führe.
Ein paar Male wurde er verprügelt, gewehrt hat er sich nicht.
Als er in die Schule kam, daran erinnere ich mich genau, konnte er schon lesen und schreiben. Während wir uns alle mühten die Buchstaben zu erlernen, las er schon Geschichten.
Besonders beliebt hat ihn dies auch nicht gemacht.

Eines Tages war er weg und wir nahmen es kaum zu Kenntnis.
Seit heute Nacht muss ich immer an ihn denken, denn heute Nacht habe ich von ihm geträumt. Die alten Bilder sind wiedergekommen.
Vielleicht tat er mir damals leid, oder ich war neugierig, ich weiß es nicht mehr.
Eines Tages mußte er sich auf dem Pausenhof übergeben und er sollte nachhause gehen. Ich habe mich gemeldet um ihn zu begleiten, da ihm nun auch schwindelig war.
Ich fand es ziemlich eklig, dass er sich übergeben hatte. Der Hausmeister kippte nachher einen Eimer Wasser darüber. Die Brühe hatte dann einen deutlichen Fleck auf dem Schulhof hinterlassen, den man noch tagelang sehen konnte.
So gingen wir zusammen zu seiner Wohnung, schweigend in einigem Abstand. Ich, mit meinem bunten neuen Rock und Bertrand in seinen kurzen schwarzen Hosen, die ihm zu groß schienen.
Ich wusste, dass er mit seiner Mutter und seiner Oma zusammenwohnte. Das war damals gar nicht so selten, weil so viele Väter im Krieg geblieben waren.
Angeblich sollte auch noch jemand da wohnen, den man aber noch nie gesehen hatte.
Wir kamen zu dem Haus in dem sie zur Miete wohnten. Ein grauer Sandsteinbau mit Stuckresten, und Verzierungen in meiner Augenhöhe, die mich an einen Streuselkuchen erinnerte und animierte, daran herumzupiddeln.
Er klingelte.
Eine ältere Dame machte auf. Sie sah gar nicht so aus wie eine Oma. Sie hatte ihr blondes Haar in der Mitte gescheitelt und am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden.
Sie trug einen grauen Faltenrock und eine weiße Bluse. Ich fand, sie sah ein wenig traurig aus.
Die Dame hob erstaunt die Augenbrauen, als sie uns vor der Türe sah und Bertrand erklärte ihr, dass ihm schlecht gewesen sei und ich ihn nach Hause bringen sollte. Die Dame bedankte sich bei mir und, gerade als ich mich umdrehen und wieder gehen wollte, hörte ich von drinnen etwas, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ein schrecklicher Schrei, dann ein Wimmern: "Sie kommen, sie kommen, Mutter, sie kommen und holen mich! "
Ich starrte die Dame entsetzt an. Sie wandte sich um und rief " Erika, schau bitte nach Dieter".
Die Dame blickte eine Weile auf mich herunter. Sie schien zu überlegen, ob sie mir eine Erklärung geben solle.
"Was war das"? fragte ich, immer noch erschrocken, aber mittlerweile mehr und mehr neugierig. Sie räusperte sich. Offenbar hatte sie sich entschlossen mir eine Erklärung für den Schrei zu geben: "Das war mein Sohn, er ist sehr krank und hat Schreckliches erlebt". "Was denn"? fragte ich einigermaßen erstaunt, denn ich war auch schon krank gewesen, meine Eltern auch und ebenso die Großeltern. Da hatte keiner so geschrienen.
"Er hat eine Krankheit in seinem Kopf und er sieht manche Sachen, die wir nicht sehen und deshalb hat er manchmal große Angst."
"Ach so", sagte ich, "Ja, ich geh dann mal besser, auf Wiedersehen".
Ich drehte mich um und hüpfte ein bisschen auf den Steinplatten. So kam ich schneller weg und es sah nicht so aus, als wollte ich wegrennen.
"Ein Verrückter, die haben einen Verrückten zu Hause".

Am Nachmittag habe ich den Anderen davon erzählt, dass da ein Verrückter bei denen wohne und dass er schreien würde.
Den ganzen Nachmittag hingen wir dann in der Nähe des Hauses herum, die anderen Kinder wollten auch gerne hören, wenn er schreit.
Er schrie leider nicht mehr und bald hieß es, ich wolle ja nur angeben.
"Er schreit nur, wenn man klingelt", sagte ich.
Gerd, der Mutigste, klingelte. Wir standen hinter der Hausecke und lauschten. Die Türe wurde geöffnet und wieder geschlossen. Nichts.
In der nächsten Zeit klingelten wir noch öfter, manchmal konnten wir ihn schreien hören, manchmal nicht.

Bertrand sagte dazu nichts, er wurde aber noch stiller und noch besser in der Schule.
Einer fing dann irgendwann an: "Bertrand hat nen Verrückten, Bertrand hat nen Verrückten"
So liefen wir hinter ihm her, gaben aber acht, dass die Erwachsenen dies nicht mitbekamen.
Eines Tages kam Bertrand nicht mehr zur Schule. Der Lehrer sagte nur, dass er krank geworden sei und in eine Klinik müsse.
Ich habe nie wieder etwas von Bertrand gehört, geschweige an ihn gedacht, oder ihn gar gesehen.
Ja - wir haben gestern über ihn gesprochen, ich erinnere mich wieder. Aber nur ganz kurz.

Wieder wird mir elend. Wieder sehe ich sein Gesicht vor mir. Mein Alptraum wiederholt sich. Ich fürchte mich davor, verrückt zu werden.
Sein bleiches Gesicht, blond, schüchtern, die Augen, in denen sich seine ganze Unsicherheit spiegelte. Er kommt auf mich zu und will mir etwas sagen, aber ich kann ihn nicht verstehen, er spricht einfach zu leise. Seine wasserblauen Augen sind aufgerissen und voller Angst. Er kommt immer näher und näher und ich kann ihn einfach nicht verstehen. Ich spüre seinen Atem, seine blauen Augen dicht vor meinem Gesicht. Weit aufgerissen sind seine Augen mit diesem eigentümlichen Schimmer, der mir Angst macht.

Ich gebe mir einen Ruck ! Was soll´s. Schnee von gestern. "Koche Kaffe, dann wirst Du diesen Alptraum gleich los sein", befehle ich mir.
Ich mache das Radio an, Nachrichten !
Jetzt wird mir schwarz vor Augen. Ich erleide einen erneuten, äußerst heftigen Schwächeanfall.
Mein Mann findet mich auf dem Boden liegend. Ich rede wirres Zeug.
Im Krankenhaus bekomme ich ein Beruhigungsmittel. Zum Glück! Denn wieder höre ich die Nachrichten, die meine Bettnachbarin im Fernsehen eingestellt hat.
"Der bekannte Physiker Bertrand Schleiden ist am Morgen erschossen aufgefunden worden. Die näheren Umstände sind noch ungeklärt".
Gerade wird mir bewußt, was er in der Nacht, in meinem Traum, zu mir sagte: Ich solle mit ihm gehen, ihm sei schwindelig.
Ich will nicht !
__________________

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