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11.04.2009, 15:07 | #1 |
Neuer Eiland-Dichter
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Sean Penn und seine Lippen – ein paar nächtliche Gedanken
Die Filmtitel stiegen noch zur Decke wie der letzte Rauch über verglühendem Feuer als sie sich draußen schon eine Zigarette anzündete. Ihr Ehemann war noch auf der Toilette und das gab ihr die paar Minuten, um sich einfach gedankenlos den milden, noch warmen abendlichen Wind ins Gesicht wehen zu lassen. Sie hatte mal irgendwo gehört, dass Wind die Aura reinigen würde. In diesem Moment wäre sie am liebsten in die Mitte der Brücke hinaufgegangen, die zu ihrer rechten war, und hätte die Arme ausgestreckt, dem Wind entgegen, die Augen zu und die Lunge auf. Stattdessen warf sie die Zigarette in die Ecke. Bloß nicht auffallen, immer schön adäquat sein. So war sie. Obwohl sie sich schon desöfteren die Frage gestellt hat, was den Begriff „adäquat“ denn eigentlich ausmacht, wenn ein Verhalten, bei dem man sich eine Zigarette anzündet, anstatt lauthals zu schreien, wie es der innere Zustand eigentlich verlangte, adäquates Verhalten genannt wird. Dennoch, was nicht als adäquat empfunden wurde, wurde normalerweise gar nicht empfunden. Außer heute.
Auf dem Heimweg wurde kaum gesprochen. Was sollte sie, die sonst sehr gern fast ununterbrochen quasselte, jetzt auch sagen? Daß ihr im Bauch so mulmig war, als wollte sie sich permanent übergeben? Daß sie die Kräfte, die den Menschen die Demut lehren, noch nie als so belastend empfunden hatte wie heute? Daß ihre Eingeweide unter dieser Ungerechtigkeit zu platzen drohten? Ihr Ehemann, so liebevoll und fürsorglich er immer war, hätte sofort gefragt, was los sei und auf diese Frage hätte sie selbst keine Antwort gewusst. Sie wusste nur, sie kannte dieses Gefühl irgendwoher und sie wusste, dass sie schon damals damit nicht zurecht gekommen war. Gefühle verstand sie immer gern als Exekutive ihres Verstands. Jedes Mal, wenn die Gefühle ihren Imperativ über ihre sonst streng kontrollierte Physiologie behaupteten, war sie, gelinde gesagt, entsetzt. Daß es offenbar Dinge gab, die sich ihrer Kontrolle schlicht weg entzogen, machte ihr irgendwie Angst und beschämte sie auf einer ganz tiefen Ebene. Und doch spürte sie, dass genau da die Antwort auf solche Fragen war, wie „Warum?“, „Woher?“ und „Wofür?“. Fragen, die ihr überbewerteter Verstand in all den Jahren einfach nicht zu beantworten wusste. Erst später am Abend, nachdem sie eine ganze Weile hellwach im Bett gelegen hatte, war sie soweit, zu ihrem Tagebuch zu greifen und sich einfach vom Kugelschreiber führen zu lassen, denn ihr Verstand hatte die Führungsfunktion für heute endgültig aufgegeben, und ein Stück weit ahnte sie bereits, dass dieses seltsame innerliche Geschehen von einer Tragweite sein würde, die weit über eine Nachwirkung im heute und „dem morgen danach“ hinausging. Hin und wieder sah sie verstohlen zu ihrem Ehemann herüber, wie er mit offenem Mund da lag und vor sich hin schnaufte und schrieb, schrieb. Die Worte bedurften keiner Formulierung, sie legten sich einfach aufs Papier und malten selbständig ein Bild einer Seele, die von einer wahnsinnigen, so gnadenlos wie plötzlich ins Bewußtsein gestiegenen Sehnsucht vollkommen verwüstet war. Der Kugelschreiber riß das, was sie als Individuum ausmachte, fort, und trug sie rasant hinunter, ins Innerste ihres Wesens, in eine Tiefe, in der seine Grenzen nicht mehr klar definierbar waren. „Das sind keine Lippen – es ist der fleischgewordene Inbegriff der Lust. Seine Unterlippe mit dem Daumen herunterziehen, so dass die untere Zahnreihe offen gelegt wird und dabei spüren, wie man sich selbst so stark in die Unterlippe beißt, dass sie blutig wird. Das Blut nach innen rinnen spüren, wie es den Mund mit seinem urigen salzigen Geschmack füllt, und feststellen, dass es gar nicht wehtut, denn niemals könnte etwas mehr wehtun, als die Vorstellung, dass es diese Lippen gibt und sie nicht berührt, nicht geküsst werden können, sie nie eine feine feuchte Spur auf der Haut hinterlassen könnten, auf ihrem langen Weg in die Untergründe, wo keine Regeln mehr gelten, wo oben und unten gleich sind, von wo man in eine Dimension gelangt, in der räumliche und gesellschaftliche Distanz keine Rolle mehr spielen, wo nur der einende Geist zuhause ist und der scheidende, dem wir all die Schmerzen der Entzweiung verdanken und all das Streben nach der Vereinigung, keinen Zutritt mehr hat. Ein Blick auf seine Oberlippe und die beiden Kräfte schmelzen zu einander hin als wollten sie sich auch vermählen und zermahlen und in einander hineinmengen und sich die Seele verbrennen. Oh, Gott, meine Seelenhaut brennt wirklich! Vermaledeites Defäkat, ruft mal jemand die Feuerwehr?! Gott, warum erlegst Du einem Menschen so etwas auf? Bist Du göttlich gnädig, weil Du uns diesen Anblick überhaupt gewährst oder doch teuflisch ungnädig, weil Du das sündhafteste der Verlangen nach etwas weckst, was Du einem eh vorenthalten willst? Wenn diese Lippen von ihrem Besitzer nur nicht untrennbar wären, dann hätten die Menschen sie wahrscheinlich längst konfisziert und aufgeteilt, weil sie es nicht ertragen könnten, dass jemand ganz alleine im Besitz solch einer Kostbarkeit ist. Welch eine Macht dahinter steckt! Welch Energie, von der schleimtriefende Motten angezogen werden und sich verbrennen, verbrennen wollen, immer und immer wieder! „Denk ich an Lippen in der Nacht, dann bin ich um die Scham gebracht!“… Wie ist es nur möglich, dass ein lebendiger Mensch so nah und doch in Wirklichkeit so fern ist? Es schien, als könnte ich meine Hand ausstrecken und seine Falten berühren, mit den zitternden Fingern die feinen Pinselstriche der Zeit nachzeichnen. Wie ist da wohl die Chronologie? Vom Grübchen aufwärts zu der frechen Nase oder aus der Nasennebenschlucht hinunter, hin zum Mundwinkel, der Laufbahn einer Träne – vielleicht einer Träne der unerfüllten Sehnsucht - folgend, die den Bach der Wange hinunter rollt und sich vom Kinnrand in die Tiefe stürzt, so tragisch im diesem glanzvollen, stolzen Schweigen - der Selbstmord der Träne, noch eben schimmernd in tausendfachem Licht und dann plötzlich nur noch ein kleines dunkles Fleckchen auf der Brust. Laß mich auf deine Brust tropfen, Sean! Ich will die Nässe sein, die dich umspült, ich will dich auch mit meinem Feuer trocknen!“ In diesem Moment schnarchte ihr Mann plötzlich laut auf und drehte sich zur Seite. Da biß sie sich in den Daumennagel und legte den Kugelschreiber weg. Dann schaute sie ihn noch eine Weile lang an, wie er da angestrengt im Land des Morpheus wandelte, schaltete das Licht aus, legte zärtlich ihren Arm um seinen trauten Körper und lag noch stundenlang da, weder wach noch schlafend, weder gedankenfrei noch nachdenklich. Und über dem Ganzen - Seans magisches Antlitz mit seinen schicksalhaften Lippen. Geändert von wrath_nase (11.04.2009 um 19:26 Uhr) |
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