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Alt 01.04.2019, 23:08   #1
Thomas
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Standard Reim und Kreativität

Reim und Kreativität

Zufällig habe ich den Aufsatz "Formstrenge als Kreativitätstechnik Überlegungen zu Sonett, Reim und Metrik zwischen Klopstock und Robert Gernhardt" von Georg Braungart gefunden und möchte einige Zitate mit Anmerkungen hier einstellen. Vielleicht regt das zum Nachdenken, oder gar zur Diskussion an.

Professor Braungart stellt in dem (meiner Meinung nach sehr interessanten) Aufsatz fest, es sei "der Gedanke in der Welt, dass formale Strenge mit freier Subjektivität nicht vereinbar sei; damit ist auch verbunden der Gedanke, dass das Dichten nach 'vorgegebenen Regeln' einer vergangenen Epoche zugehöre, so dass sich formale Kunstfertigkeit seit dieser Zäsur mit dem Verdacht der Epigonalität konfrontiert sieht."

Wie wahr! Mir selbst wurde schon der Vorwurf der "epigonenhaften" gemacht, und erklärte, dass man heute nicht mehr in Reimen schreiben könne. Nun habe ich persönlich immer wieder erfahren, wie förderlich Reime sind, wenn es darum geht, Gefühle in differenzierter Form darzustellen, und nehme deswegen den Vorwurf des "epigonenhaften" gerne in Kauf. Doch es freut mich, dass Georg Braunbart darlegt, warum dieser Vorwurf nicht gerechtfertigt ist. Er stellt nämlich fest, dieser "Gedanke" sei falsch, weil ein unzureichendes Verständnis von dem vorliegt, was es mit den "vorgegebenen Regeln" auf sich hat.

Er erklärt: "Generell kann man zwischen zwei Arten von Regeln unterscheiden, regulativen und konstitutiven. Verkehrsregeln etwa sind regulativ, denn sie kanalisieren Abläufe, die ohnehin stattfinden, und lenken sie in geordnete Bahnen. Die Regeln eines Spiels jedoch, etwa des Schachspiels oder des Fußballspiels, erzeugen erst das Phänomen, das sie zugleich regulieren. Ohne die Regel gäbe es das Spiel überhaupt nicht. Und niemand käme auf die Idee, deshalb Regeln des königlichen Spiels als 'Zwang' zu empfinden."

Mit dieser Unterscheidung im Hinterkopf untersucht Georg Braungart die Diskussion um Reim und Metrum in der Geschichte der Poesie und findet dabei Überraschendes, wie z.B. folgendes Zitat von Charles Baudelaire, auf den sich fast alle Verfechter der "freien Form" beziehen: "Ganz offensichtlich sind metrische Gesetze keine willkürlichen Tyranneien. Sie sind Regeln, die vom Organismus des Geistes selbst gefordert werden. Niemals haben sie der Originalität verwehrt, sich zu verwirklichen. Das Gegenteil ist unendlich viel richtiger: dass sie immer der Originalität zur Reife verholfen haben."

Georg Braungart kommt zu dem Schluss: "Erst durch die 'strenge' Ordnung eines Gedichts wird die Phantasie des Autors ganz besonders provoziert. Und auf dieser Basis kann das Gedicht wiederum von seiner eigenen Ordnung abweichen: Durch Durchbrechung des Metrums, durch unreinen Reim, durch extreme Versbrechungen und anderes mehr. So entstehen extreme Reime wie der von Rainer Maria Rilke in seinem Sonett Archaischer Torso Apollos, der die alltägliche Konjunktion 'aber' auf das höchst exquisite und etwas archaische Requisit 'Kandelaber' bezieht: 'Aber / sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber' ".

Dieses Beispiel ist, wie ich finde, gut geeignet zu erklären, warum der Reim kein reines "Wortgeklingel" ist, denn der "kühne" Reim von "aber" auf "Kandelaber" ist inhaltlich dadurch begründet, dass dem Wort "aber" an dieser Stelle des Gedichts eine besondere Bedeutung zukommt.

Das wird augenscheinlich, wenn man das "aber" im Zusammenhang der Strophe sieht:

"Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt."

Man sieht, dass der Torso zwar das Haupt und die Augen fehlen, ABER er dennoch dem Betrachter den glühenden Blick der Augen vermittelt. Das ist ein ganz besonderes Zeichen großer Kunstwerke, welche im Grunde nicht zerstört werden können. (Ich habe das in meinem Gedicht Torso versucht auszudrücken, Link "https://www.gedichte-eiland.de/showthread.php?t=17859&highlight=Torso" ) Aus diesem Grund ist in Rilkes Gedicht das Wort "aber" bedeutungsschwer und verdient ein Reimwort zu sein.

Wenn diese "Bedeutungsschwere" fehlt, geht es mt dem "extremen Reim" schief, oder dieser wird komisch, wie z.B. das "dies" in dem Gedicht "Warum die Zitronen sauer wurden" von Heinz Erhardt:
"Ich muss das wirklich mal betonen:
Ganz früher waren die Zitronen
(ich weiß nur nicht genau mehr, wann dies
gewesen ist) so süß wie Kandis."

Das ist auch ein "extremer Reim", aber im Gegensatz zum "aber" in Rilkes Gedicht hat das "dies" bei Erhartd keine Bedeutungsschwere und wirkt deshalb (von Dichter bewusst so gewählt) komisch.

Vielleicht vermittelt dieses Beispiel selbst den Reimgegnern einen Eindruck davon, was man mit diesem "antiquierten" Ding anstellen kann.

Abschließend möchte ich noch eine persönliche Beobachtung anfügen. Mir selbst passierte es immer wieder, dass meine Gedichte, die ich in freier Form schrieb, von Tag zu Tag mehr Form entwickelten, und mir dann zunehmend besser gefielen. Andererseits kann ich Gedichte in freie Form oft nicht genießen, weil es mich immer wieder reizt, etwas daran zu verbessern. Es gibt nur sehr wenige, die mir spontan gefallen. Wie ich es sehe. führt der lesenswerte (und im Internet zugängliche) Artikel von Gregor Braungart aus, woran das liegt: Diese freien Verse sind nicht kreativ genug, denn, so sagt Gregor Braungart: "Entgegen allgemein verbreiteter Ansicht sind – selbstauferlegte – Zwänge nicht Hindernis, sondern Herausforderungen zur Kreativität."
__________________
© Ralf Schauerhammer

Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft. Friedrich Schiller
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