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Alt 18.10.2009, 14:01   #1
Elly
Eiland-Dichter
 
Registriert seit: 24.08.2009
Ort: Köln
Beiträge: 63
Standard Alles wird anders

Heute fühlt er sich extrem mies. Er hatte schon so schlecht geschlafen, Alptraum behaftet und Schweiß durchnässt. Nun hat er wieder diesen Druck im Schädel und dieses Sirren. So beginnt er denn auch bereits am Vormittag, dieses Sirren konsequent mit verschiedenen Sedativa zu bekämpfen. Bald ist alles Watte, aber das Geräusch bleibt. Es ist erst früh am Abend, doch er ist schon reichlich verwirrt. Irgendwann hält er es zu Hause nicht mehr aus. Er braucht jetzt Stille durch Geräusche. Geht das Sirren nicht weg, muss es übertönt werden.

Er zieht los. Geht hierhin und dorthin, aber hält es nirgendwo lange aus und landet irgendwann im Blue Hell. Er hat keine Ahnung, wie spät es mittlerweile ist. Er platziert sich direkt am äußersten Ende der Theke und ist eigentlich vor allem froh sein Bier vor sich gestellt zu bekommen und in Ruhe gelassen zu werden. Nur dieses ätzende Neonlicht. Er mag die Augen gar nicht offen halten. Dieses Licht geht direkt ins Rückenmark. Auch die üblichen, vor sich hin gemurmelten Beschwörungsformeln nutzen hier nichts. Aus der Tiefe wächst seine Verwirrung, wird größer und presst von innen gegen seine Körperhülle, bis die zu platzen droht.

Er steht auf, geht rüber zum Billardtisch, setzt sich dort auf die Bank, da ist das Licht nicht so grell, zieht die Kapuze seines Pullovers über, vielleicht hilft das ja den Kopf am Zerspringen zu hindern und dann am besten Augen zu.
Wenn er sie mal öffnet, sieht er Knie, Beine und Ärsche, die sich um den Billardtisch schieben oder Ärsche, die nach hinten gestreckt werden, wenn sich Oberkörper über den Tisch beugen. Außerdem scheint er ständig im Weg zu sitzen. Immer wieder schiebt sich jemand vor ihm vorbei. Gerade jetzt taucht wieder ein fetter Arsch vor ihm auf. Dann dreht sich der Arsch um. Er sieht hoch und ist sich gar nicht sicher, ob es stattdessen besser ist, in dieses Gesicht zu sehen. Dieses lächerliche lila-gemusterte Kopftuch macht das Ganze auch nicht besser.

Jetzt quatscht ihn die Milka-Kuh auch noch an: „Ey Mann, du stööörst! Wir sind hier am Spiiieelen.“
„Quatsch mich weiter blöd an und ich steche dir die Augen aus“, spuckt er ihr entgegen.
„Waaaas? Habt ihr gehört, was der Psycho zu mir gesagt hat?“ keift das Fresen los, „Wenn du keine Drogen verträgst, solltest du es besser bleiben lassen!“ Scheiße, wenn die Droge, die so was erträglich macht, wenigstens schon erfunden wäre.
Er steht auf und stellt sich genau vor sie. Diese bleichen, wabbeligen Oberarme verursachen ihm Brechreiz. Der Schweißgeruch, der jetzt in seiner Nase sticht, macht es auf keinen Fall besser. Dazu quäkt es unablässig weiter. Widerlicher Mundgeruch schlägt ihm entgegen. Das Bild einer verwesenden Zunge drängt sich ihm auf. Am liebsten möchte er sie herausreißen.

„Vielleicht schneide ich dir auch besser den Hals durch, damit du endlich still bist.“
Die Milka-Kuh dreht sich empört nach Luft japsend um und rauscht in Richtung Tresen ab. Nun fühlt sich dieser langhaarige Spinner gemüßigt das Wort an ihn zu richten: „Komm, lass gut sein! Wir wollen keinen Stress! Setz dich doch einfach woanders hin!“
Ja klar, er soll immer abhauen, damit die anderen ihre Ruhe haben. Die Milka-Kuh kommt zurück mit einem dämlich zufriedenen Grinsen auf dem Gesicht. Das ist ja nicht zum Aushalten. Er geht zurück zur Theke.

Dort stellt er sich neben eine junge Frau. Er hat das unbändige Bedürfnis sie anzusprechen, weiß aber nicht, was er sagen soll, fängt also einfach an. Tausend Dinge gehen ihm gleichzeitig durch den Kopf und genauso wirr fallen die Sätze aus seinem Mund. Er traut sich nicht, sie dabei anzusehen. Aber sie schnauzt ihn auch nicht gleich an. Das ist schon mal ein gutes Zeichen. Sie redet auch mit ihm, er bekommt nicht wirklich mit, was sie sagt, lacht sogar, aber nicht über ihn. Also erzählt er weiter. Was, weiß er selber nicht genau, aber er kann zumindest die Kapuze wieder abziehen. Wenn er nur mal irgendwo richtig hinschauen könnte. Sein Blick flattert herum.

„Ich glaube, du gehst jetzt besser“, herrscht der Bulle hinter der Theke ihn plötzlich an. Er ist völlig perplex. Was ist denn jetzt los? Das will er den Bullen auch noch fragen, aber der ist schon hinter dem Tresen hervorgekommen und packt ihn einfach bei den Oberarmen, dreht ihn um und schiebt ihn Richtung Tür. Dabei tönt er auf ihn ein: „Du gehst jetzt! Ich hab keinen Bock auf Psychos in meiner Kneipe!“ Alles geht ganz schnell und dann schlägt die Tür hinter ihm zu.

Er stolpert los, weiß gar nicht in welche Richtung. Er begreift kein Stück, was da eigentlich passiert ist, rennt einfach die Straße hinunter. Wohin? Keine Ahnung, kann nicht nachdenken. An seinen Oberarmen spürt der noch die Hände von dem Bullen. Das Sirren in seinem Schädel sagt: Psycho. Jetzt weiß er auch, warum die Milka-Kuh so dämlich gegrinst hat. Der hatte er das zu verdanken. Oh, wie er sie alle hasste!
Seine Beine bewegen sich einfach weiter, während sich seine Gedanken überschlagen. Plötzlich nimmt er wahr, dass er in der Straße ist, in der er wohnt. Sehr gut, nichts wie nach Hause. Er stürmt in seine Wohnung und schließt schnell die Tür hinter sich, muss sich erstmal anlehnen, nur langsam beruhigt sich sein Atem.
Seine Gedanken routieren, dann plötzlich hat er es. Gut, sollen sie ihren Psycho haben.
Auf einmal ist Stille in ihm, völlige Ruhe. Dann geht er ins Badezimmer.

Er knipst das Licht an und schaut in den Spiegel. Den, der zurückschaut, hat er noch nie gesehen. Regungslos blickt er in zwei dunkel umschattete, kalte Augen, die den Blick ebenso regungslos erwidern. Es dauert etwas bis er versteht, dass er das selber ist, den er da sieht.
Er konnte seinem Blick früher nicht standhalten.
Zwei Falten, tief neben dem Mund eingraben, die Mundwinkel nach oben verzogen wie zu einem Lächeln. Doch die Augen lächeln nicht mit.
Ungewöhnlich gelassen betrachtet er sich, er öffnet den Badezimmerschrank und holt die Haarschneidemaschine heraus. Diesmal verzichtet er auf den Aufsatz.

Im Spiegel taxiert er noch mal und setzt an der Schläfe an. Das knisternde Geräusch der Haare, die abgeschnitten werden, und das dumpfe Vibrieren der Maschine auf der Kopfhaut und in seiner Hand fließen durch seinen Körper, als er in einem langsamen Bogen über seinen Schädel zum Nacken fährt. Haare fallen wie Flocken ins Waschbecken.
Er setzt neu an und schert langsam den nächsten Streifen weg. Die Haarflocken streifen seine Schulter. Immer wieder setzt er die Maschine an, nicht ohne die Zwischenergebnisse zu begutachten, bis nur noch in der Mitte ein Haarstreifen übrig ist und endlich betrachtet er sich zufrieden. Ganz langsam streicht er sich mit den flachen Händen über die kratzige Kopfhaut.
Er versucht ohne Erfolg, sich abgeschnittene Haare von Schultern und Oberarmen zu streifen. Das hat keinen Sinn, er muss unter die Dusche.
Zuerst kalt, dann wärmer werdend prasselt das Wasser auf seinen rasierten Schädel und fließt an ihm herunter. Er fühlt sich klar im Kopf. Wie schon lange nicht mehr. Kein Sirren, keine Stimmen. Ihm ist, als sei er von einer Erkenntnis getroffen, er weiß nur noch nicht von welcher. Die Ereignisse von eben sind in weite Ferne gerückt. Das muss jemand anders gewesen sein, dem das passiert ist.
Er kommt aus der Dusche und trocknet sich ab. Dabei betrachtet er sich im Spiegel. Was er sieht, missfällt ihm nicht. Das erste Mal, dass er das Gefühl hat, der Kopf passt zum Körper.
Ein Blick auf die Uhr - halb elf. Der Abend ist noch jung, da kann er auch noch mal vor die Tür gehen und der Welt seine neue Persönlichkeit vorführen.
Er geht ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.
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