05.03.2009, 19:25 | #1 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Stufen
Ach der mit den Stufen
(Man ergoogle sich zuvor folgende Gedichte: Bernd Lunghard, „Gedichtbehandlung“, Hermann Hesse, „Wanderschaft“ und „Stufen“) Warum musst du ausgerechnet in Calw wohnen, mein Irmele? Der Weg zu dir führt an dem Geburtshaus dieses berühmten Dichters vorbei, und dann kommt mir immer der Kaffee hoch, weil ich an die Stufen denken muss. Zugleich gehen mir Bernd Lunghards Knüttelverse durch den Kopf: Heut haben wir ein Gedicht durchgenommen Zuerst hats der Lehrer vorgelesen da ist es noch sehr schön gewesen... Es gab mal ein hübsches Gedicht, das mir auf den ersten Blick einging. Von blühendem Sei-delbast, herber Enttäuschung und einem Abschiedsbrief – ab damit in den See! Hermann Hes-se hatte es geschrieben. Frühlingshoffnung auf neues Glück. Dann kam das mit den Stufen. Dann sind fünf Schüler drangekommen die mussten es auch alle lesen da war es recht langweilig gewesen Dr. Nietnagel hatte uns Hesse nahe zu bringen, so stand es auf seinem Lehrplan. Also lernten wir die Stufen kennen. Dann mussten drei Schüler es nacherzählen für eine Note - sie hatten noch keine - da verlor das Gedicht Arme und Beine Sie wurden als so lehrreich empfunden, dass sie uns durchs Leben begleiten sollten wie eine Eskorte aus aufmerksamen Wachhunden. Also sorgte Nietnagel für nachhaltige Vertiefung. Dann wurde es ganz auseinandergenommen und jeder Vers wurde einzeln besprochen Das hat dem Gedicht das Genick gebrochen Die Eingeweide des Dichters mussten uns vor Augen geführt werden, denn es sprach ja etwas aus seinem Inneren zu uns. Warum tat der Dichter dies Wort wohl wählen? Warum benutzte er jenes nicht? Und schließlich: Was lehrt uns dieses Gedicht? Klar, dass man solche edlen Gepäckstücke nicht weglegen kann. Sie sind mitzuschleppen auf allen Lebenswegen, ob’s steinig wird oder morastig. Dann mussten wir in unsre Hefte eintragen: Das Gedicht ist am Montag aufzusagen. Die ersten fünf kommen Montag dran. Was bleibt einem übrig? Wir ergaben uns in unser Schicksal und nickten Bereitschaft, das Stufige im Hirn zwischen Formeln, Geschichtsdaten und Vokabeln zu platzieren. Mich hat das zwar nicht weiter gestört. Ich hab das Gedicht so oft heut gehört, dass ich es jetzt schon auswendig kann. Die Verabredung mit der aufregenden Tanzkurs-Ulrike brauchte ich also nicht abzusagen. Aber viele machten lange Gesichter und schimpften auf das Gedicht und den Dichter. Dabei war das Gedicht zunächst doch sehr schön. Bei der Abiturfeier musste ein blasser Achtklässler, dem die väterliche Krawatte gerade noch das Nötigste an Atemluft gestattete, Hesses Stufen in der Aula hinauf- und hinabkeuchen. Mir wurde klar, dass „vielleicht auch noch die Todesstunde“ mir einst den Nietnagel ans Sterbe-bett katapultieren würde. So haben wir oft schon Gedichte behandelt. So haben wir oft schon Gedichte verschandelt. So sollen wir lernen sie zu verstehn. Richtig, kurz vor meiner Pensionierung ereilte mich das Stufenschicksal von Neuem. Wozu sollte ein innovationsbesessener Institutionsleiter auch sonst greifen als zu Hesses Stufen, wenn es darum ging, den ganz neuen Kurs mit Qualitätsmanagement und organisierter Er-folgsvorausversprechung einzuläuten. „Wie jede Blüte Abschied und gesunde.“ Immer wenn mir so ein nirwanasüchtiger Siddharta, ein glasperlophiler Josef Knecht oder gar ein Werweißwaswolf aus der Steppe über den Weg läuft, versuche ich, an Seidelbast zu den-ken und all das Stufenüble auf den Bodensee hinauszuschleudern, wie jenes Brieflein, das dem jungen Hermann nicht mehr wehtut. Doch es schwimmt und schwimmt und bleibt oben und geht nie ganz unter. Bernd Lunghard "Gedichtbehandlung" aus: Hans-Joachim Gelberg (Hrsg.), Gro-ßer Ozean © 2000 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim und Basel; hier mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgruppe Beltz in den Text eingebaut. |
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