Gedichte-Eiland  

Zurück   Gedichte-Eiland > Gedichte > Strandgut > Diskussionsforum

Diskussionsforum Hier können Diskussionen, die aus einem Text entstanden sind, öffentlich weiter geführt werden

 
 
Themen-Optionen Ansicht
Alt 15.05.2011, 22:59   #28
Falderwald
Lyrische Emotion
 
Benutzerbild von Falderwald
 
Registriert seit: 07.02.2009
Ort: Inselstadt Ratzeburg
Beiträge: 9.912
Standard

Moin Erich,

ich habe trotz ausdauernden Stöberns im Internet nichts über die Ichsimulation finden können.
Nicht mal bei Amazon konnte ich Literatur darüber entdecken, so daß ich mich größtenteils auf deine Aussagen beziehen muss.

Unter einer Simulation verstehe ich die Nachbildung oder Darstellung physikalischer, biologischer, chemischer, technischer oder ökonomischer Prozesse durch mathematische oder physikalische Modelle oder eben eine Vortäuschung "falscher Tatsachen".

Ich kann dies jetzt nicht mit dem sogenannten "Ich" in Verbindung bringen, weil dies m. E. wieder eine äußere Kraft voraussetzt, die simulierend tätig wird.

Zitat:
Nach neuesten Erkenntnissen der Gehirnforschung ist eine Selbstsicht, also ein sog. "Ich", bei höheren Lebensformen deshalb entstanden, damit sie besser, abgegrenzter und also tendentiell selbsterhaltender mit ihrer Umwelt (und also auch ihresgleichen) interagieren konnten.
Das ist also einfach so entstanden, quasi aus der Notwendigkeit zur Interaktion heraus?
Wer oder was aber hielt dies für notwendig?
Kam diese Veränderung nun durch äußere Einwirkung zustande oder aus den höheren Lebensformen selbst?

Zitat:
Dieses "Ich" ist aber - so die neuesten Erkenntnisse - kein wirkliches Bewußtsein im Sinne dessen, was Philosophie oder Religion darunter verstehen (Seele, Geist, usw..), sondern eigentlich eine Art Simulation von "Selbst", die auf unterster Ebene gesteuert wird, zu 99% unbewußt und ohne sog. "logisches" Denken. Wir sind also offenbar bei weitem nicht so autark, wie wir gern hätten. Wir sind nach dieser Theorie eigentlich nicht einmal "wir".
Für die Theologie ist die Dualität und damit die Trennung von Körper und Seele unverzichtbar, sonst verlöre sie ihren Sinn.
Nicht aber für die Philosophie, obwohl Platon darauf seine Weltanschauung gründete.
Ich muss jetzt auf Schopenhauer zurückgreifen, der durchaus die Meinung vertritt, daß der Intellekt in organischen Ursachen, nämlich dem Gehirn, zu finden ist und mit dem Tode aufhört zu existieren.
Daß das "Selbst" gesteuert wird, stellt er nicht in Abrede:

Der Wille bestimmt alle Vorgänge der organischen und anorganischen Natur. Er objektiviert sich in der Erscheinungswelt als Wille zum Leben und zur Fortpflanzung. Diese Lehre vom „Primat des Willens“ bildet die zentrale Idee seiner Philosophie. Sie hatte weitreichenden Einfluss und begründet die Aktualität von Schopenhauers Werk.

Seine berühmt gewordenen These lautet:

"Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.“

Ich glaube, dazu bedarf es keiner "Ichsimulation".

Zitat:
Was diese Theorie impliziert, auch im Hinblick auf unseren Diskurs hier, kannst du wohl ohne mich nachvollziehen, und was er für die Philosophie im allgemeinen bedeuten wird, ist noch gar nicht absehbar.
Ja, die Wissenschaft müsste sich nur mal die Zeit nehmen, sich ausführlicher mit Schopenhauers Thesen auseinander zu setzen.
Sie würde dort vieles erfahren, was sie jetzt erst zu entdecken glaubt.

Zitat:
Unsere "Zellhaufen" leisten sich sozusagen den Luxus von übergeordneten Pseudochefs, die sie auch noch glauben lassen, sie allein hätten das Sagen.
Das kann ich nicht nachvollziehen, denn einer muss ja das Sagen haben und das bin eindeutig ich oder mein Wille, zumindest was meine Handlungen und Entscheidungen betrifft.
Selbst wenn diese mir selbst manchmal zweifelhaft erscheinen, so bleiben sie trotzdem meine Entscheidungen.
Ich kann mir kaum vorstellen, was mein "Zellhaufen" für ein Interese daran haben sollte, mit deinem "Zellhaufen" in dieser Form zu kommunizieren.
Es muss also der Intellekt sein, denn wir haben verschiedene Vorstellungen, Überzeugungen, Meinungen etc. Unsere bloßen "Zellhaufen" hingegen würden wohl in ihren Meinungen übereinstimmen, könnten sie denn eine haben.

Zitat:
Aber mal ehrlich - wieviele Entscheidungen treffen wir aus rein logischen oder sinnvollen Überlegungen heraus?
Also wenn ich an mich denke, und ich kann nur von mir ausgehen, dann sind dies eine ganze Menge.

Zitat:
Sind nicht die meisten solcher Argumente eigentlich nur dazu da, unsere "Bauchentscheidungen" vor uns selbst (bzw. vor unserem Egosimulacrum) zu rechtfertigen, damit die Illusion des übergeordneten Willens aufrecht erhalten werden kann?
Nein. Die meisten meiner täglichen Entscheidungen treffe ich bewusst und stets aufs Neue.
Ich will ein kleines Beispiel zur Verdeutlichung abgeben:
Wenn morgens früh um 5:00 Uhr mein Wecker geht, dann reißt es mich manchmal aus dem tiefsten Schlaf und ich verspüre den Wunsch, liegen zu bleiben und weiter zu schlafen.
Nun muss ich eine Entscheidung treffen und ich sage mir also, steh auf, das geht nicht, du musst deinen Job machen, es gibt Ärger, wenn du nicht (pünktlich) erscheinst.
Das nenne ich ein logisches Abwägen der aus meinem Verhalten resultierenden künftigen Konsequenzen.
Also stehe ich auf und handle gegen meinen Wunsch oder Willen, denn "glückseliger" wäre mein momentaner Zustand, könnte ich noch ein paar Stunden schlafen.
Manche Entscheidungen fallen auch unbewusst, weil sie sozusagen Routine sind und damit automatisch ablaufen.
Manchmal aber gebe ich auch meinem Willen einfach nach und tue das, was ihm für den Moment am besten erscheint.

Dann möche ich in diesem Zusammenhang noch die Frage stellen, was mit den Entscheidungen ist, die plötzlich getroffen werden müssen?
Wie kann es sein, daß wir auf bestimmte und veränderte Situationen sofort reagieren und uns entsprechend darauf einstellen und verhalten?

Ich will dafür wieder ein Beispiel anführen:

Als guter und sehr erfahrener Autofahrer fahre ich sowieso meistens mit der nötigen Voraussicht, d. h. ich versuche mich den äußeren Umständen und Bedingungen anzupassen, indem ich mir z. B. vorstelle, daß nasses Laub auf der Fahrbahn unweigerlich zu einem längeren Bremsweg für mein Fahrzeug führen wird, wenn ich gezwungen bin, die Geschwindigkeit plötzlich drastisch zu reduzieren. Mein Fahrzeug kann dabei sogar ins Schleudern geraten und die Gefahr eines Unfalls erhöht sich.
Ich denke also vorausschauend in die Zukunft und an die hypothetischen Möglichkeiten, die aus meinem Verhalten resultieren können.
Jetzt könnte man sagen, das sei ein erlerntes Verhalten, weil ich die Erfahrung vielleicht schon früher gemacht habe.
Das ist richtig, aber trotzdem muss ich erst einmal die Situation erkennen, sie richtig einschätzen, auf die Erfahrung in der Vergangenheit zurückgreifen, diese auf eine mögliche Zukunft übertragen und die richtige Entscheidung für die Gegenwart, also den Moment treffen.

Ich bezweifele, daß dies unser "Zellhaufen" alleine schafft.
Das vegetative Nervensystem hat alle Hände voll damit zu tun, unseren Lebenskreislauf aufrecht zu erhalten und wäre also somit vollkommen überfordert, müsste es noch abstrakte Entscheidungen treffen.
Das kann mir keiner erzählen...

Zitat:
Auf kurze Distanz und bei bloßem Gerede können "wir" was bewegen - bei wesentlichen Entscheidungen aber regieren die Primärbedürfnisse der Zellhaufen, die uns spazierenführen!
Dem muss ich entschieden widersprechen.
Ich habe sehr wohl und schon sehr oft wesentliche Entscheidungen getroffen.

Natürlich sind bestimmte Primärbedürfnisse ständig zu erfüllen, als da wären Luft-, Nahrungs- und Wasseraufnahme, die Entsorgung der Stoffwechselprodukte, Schlaf und meinetwegen auch die Befriedigung des Geschlechtstriebes etc.
Bis auf das Letztgenannte sind dies aber alles Bedürfnisse, die der Organismus, also der "Zellhaufen", unbedingt zum Überleben benötigt.

Das Wie, Wann und Wo aber bestimmt nicht er, das entscheide ich (meistens) ganz alleine und gebe es ihm dann, wenn es (mir) passt.
In der Psychologie spricht man nämlich bei sofortiger Bedürfnisbefriedigung von einem Zustand der Verwahrlosung.
Und da spielen auch äußere Faktoren eine ganz gewichtige Rolle.
Der Mensch hat gelernt, mit diesen Dingen umzugehen und das ist genau einer der wesentlichen Punkte, die ihn vom Tier unterscheidet (und selbst das Tier würde ich nicht auf einen bloßen Zellhaufen reduzieren wollen).

Wir Menschen besitzen die Fähigkeit der abstrakten Gedanken, wir können uns über Zeit, Raum, Sinn, Unsinn, Gott und die Welt unterhalten und wir verspüren das Verlangen dazu.

Welchen Sinn sollte dies aber für den "Zellhaufen" haben, dem es reichen würde, seine Bedürfnisse zu befriedigen, um zu existieren?
Wofür gibt es also die Neugier, wozu den Forscherdrang und warum überhaupt den Intellekt?

Den Menschen also auf einen elektrochemischen Selbsterhaltungsprozess auf der Basis von Aminosäuren und denkenden Zellhaufen zu reduzieren, der mit einer Ichsimulation ausgestattet ist, reicht mir nicht und bisher hat keine Wissenschaft auch nur annähernd erklären können, was das eigentliche Wesen der Dinge ausmacht (außer der bloßen Funktionsweise des Organismus').

Und deshalb möchte ich noch einmal einen der größten Denker aller Zeiten bemühen.
Immanuel Kant schrieb in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten:

Zitat:
Zitat von Immanuel Kant
Es ist eine Bemerkung, welche anzustellen eben kein subtiles Nachdenken erfordern wird, sondern von der man annehmen kann, daß sie wohl der gemeinste Verstand, obzwar, nach seiner Art, durch eine dunkele Unterscheidung der Urteilskraft, die er Gefühl nennt, machen mag: daß alle Vorstellungen, die uns ohne unsere Willkür kommen (wie die der Sinne), uns die Gegenstände nicht anders zu erkennen geben, als sie uns affizieren, wobei, was sie an sich sein mögen, uns unbekannt bleibt, mithin daß, was diese Art Vorstellungen betrifft, wir dadurch, auch bei der angestrengtesten Aufmerksamkeit und Deutlichkeit, die der Verstand nur immer hinzufügen mag, doch bloß zur Erkenntnis der Erscheinungen, niemals der Dinge an sich selbst gelangen können. Sobald dieser Unterschied (allenfalls bloß durch die bemerkte Verschiedenheit zwischen den Vorstellungen, die uns anders woher gegeben werden, und dabei wir leidend sind, von denen, die wir lediglich aus uns selbst hervorbringen, und dabei wir unsere Tätigkeit beweisen) einmal gemacht ist, so folgt von selbst, daß man hinter den Erscheinungen doch noch etwas anderes, was nicht Erscheinung ist, nämlich die Dinge an sich, einräumen und annehmen müsse...
Tja, ich befürchte, da wird uns selbst eine Ichsimulation nicht wirklich weiter bringen...


Liebe Grüße

Falderwald
__________________


Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



Falderwald ist offline   Mit Zitat antworten
 

Lesezeichen


Aktive Benutzer in diesem Thema: 1 (Registrierte Benutzer: 0, Gäste: 1)
 

Forumregeln
Es ist Ihnen nicht erlaubt, neue Themen zu verfassen.
Es ist Ihnen nicht erlaubt, auf Beiträge zu antworten.
Es ist Ihnen nicht erlaubt, Anhänge hochzuladen.
Es ist Ihnen nicht erlaubt, Ihre Beiträge zu bearbeiten.

BB-Code ist an.
Smileys sind an.
[IMG] Code ist an.
HTML-Code ist aus.

Gehe zu

Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Von Sinn und Unsinn, von Gott und der Welt Erich Kykal Denkerklause 36 23.05.2011 01:18
Lila Unsinn Blaugold Der Tag beginnt mit Spaß 3 16.05.2010 02:03


Alle Zeitangaben in WEZ +2. Es ist jetzt 18:12 Uhr.


Powered by vBulletin® (Deutsch)
Copyright ©2000 - 2024, Jelsoft Enterprises Ltd.

http://www.gedichte-eiland.de

Dana und Falderwald

Impressum: Ralf Dewald, Möllner Str. 14, 23909 Ratzeburg