19.01.2012, 13:32 | #1 |
Von Raben umkreist
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Das blaue Tuch
Es ist drei Uhr morgens, ich schlafe mehr, als dass ich wach bin. Noch 5 Stunden, dann werde ich endlich abgelöst. Heftiger Regen schlägt gegen die Fensterscheiben und die Luft ist erfüllt von einem beängstigenden Heulen und Sausen. Mir ist, als ob die Windsbraut heute Nacht ihr Unwesen treibt. Für einen kurzen Moment reißen die Wolken auf, im fahlen Mondlicht wirken die Bäume wie mehrarmige Riesen, die sich gegen den wütenden Sturm heftig zur Wehr setzen. Seltsam, dass sich die letzten Stunden immer so entsetzlich lang hinziehen.
Tapfer wehre ich mich gegen den Schlaf und döse an meinem Tisch mit halb geschlossenen Augen vor mich hin, als ein mir wohlbekanntes Geräusch langsam immer tiefer in mein Bewusstsein eindringt und mich allmählich aus dem Halbschlaf zerrt. Draußen vor der Tür steht ein völlig durchnässtes Mädchen und läutet wie verrückt, sie ist vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Die langen blonden Haare kleben an ihrem mit Erde verschmierten Gesicht, sie weint und ist offensichtlich völlig verzweifelt. Ihre Fäuste hämmern wild gegen die Glastür und ich beeile mich, ihr zu öffnen. Sie stürzt herein und schaut mich aus weit aufgerissenen Augen flehend an. Hastig hebt sie das von den Schultern gerutschte blaue Tuch auf und wirft es sich fröstelnd über. „Kommen Sie schnell, da hinten …, ein Wagen …, er ist die Böschung hinunter gestürzt und … und auf dem Dach liegen geblieben!“ „Ganz ruhig“, höre ich mich wie in Trance sagen, „wo genau ist es passiert, wie viele Personen sind in dem Fahrzeug und wie schwer sind die Personen verletzt?“ Als Rettungssanitäter, das hat man uns schon sehr früh beigebracht, darf man sich von der allgemeinen Panik nach einem Unglücksfall nicht anstecken lassen. „Direkt hier …“, aufgeregt hüpft sie auf der Stelle und deutet mit wedelnden Armen nach draußen, „… hier vorne in der Biegung sind wir …, ist das Auto verunglückt. Zwei Menschen waren darin, alle beide sind heraus geschleudert worden und … sie .. sie bewegen sich nicht mehr. Bitte, bitte helfen Sie doch, schneeell!“ Ich alarmiere hastig unser Rettungsteam und mache mich im Laufschritt auf den Weg zur Unglücksstelle. Das Mädchen eilt vorne weg, ihr Tuch leuchtet und flattert in der nun mondhellen Nacht. Es ist, als ob es mir zuwinken und mich leiten wollte, ich stolpere ihm wie in Trance hinterher. Am Unfallort entdecke ich sofort die beiden Verunglückten, die verkrümmt und blutend im nassen Gras liegen. Die Scheinwerfer des Autos leuchten in die Nacht und aus dem Autoradio dröhnt - seltsam verzerrt - laute Musik. Schon sind auch meine Kollegen zur Stelle und wir beugen uns über die Unfallopfer. Der junge Mann atmet nur noch ganz schwach, das war wirklich Rettung in letzter Sekunde, er muss einen guten Schutzengel haben. Bei dem Mädchen kommt leider jede Hilfe zu spät, es hat sich beim Aufprall das Genick gebrochen und war sofort tot. Die rotierende Lampe des Notarztwagens taucht unsere blassen Gesichter immer wieder für Sekundenbruchteile in ein gleißendes blaues Licht, einige von uns weinen, sogar der wütende Sturm scheint für einen Moment betroffen inne zu halten. Sie war doch noch so jung und so hübsch. Als sich der schwarze Leichensack über dem durchnässten Körper schließen will, stutze ich. „Wartet einen Moment!“ höre ich mich rufen und stürze hastig noch einmal die Böschung hinunter. Außer Atem taumele ich schluchzend zurück und lege dem blassen Kind ganz zärtlich und behutsam ihr blaues Tuch um die zerschundenen Schultern.
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Alle meine Texte: © Sidgrani "Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch"
»Erich Kästner« Geändert von Sidgrani (21.01.2012 um 10:26 Uhr) Grund: Kleiner Worttausch, danke Stimme |
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