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Alt 04.01.2017, 11:33   #1
Walther
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Standard 2016: Jahr 1 im Zeitalter des Hasses

2016: Jahr 1 im Zeitalter des Hasses



Eigentlich gehört man als durch und durch bürgerlich sozialisierter Mensch zu dem naiven Teil unserer Art, die man als Gutmensch bezeichnet und das durchaus nicht besonders nett meint. Das ist der Teil den Menschheit, der glaubt, die wesentliche Triebfeder des Menschseins sei die Liebe. Diese positive Grundmotivation verführt zum prinzipiellen Pazifismus und dazu, die Umwelt nicht als Gegenstand des Verbrauchs sondern als schützenswert zu behandeln.

Wer sich heute aufmerksam umschaut, dem könnten durchaus Zweifel an dieser Weltsicht kommen. Dass vielleicht etwas nicht ganz in Ordnung sein könnte, fuhr blitzschlaglichtartig in mich, als ich das geflügelte Wort „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!“ einer näheren Betrachtung unterzog. Dabei handelt es sich übrigens um zwei Verse des Goethe-Gedichts „Das Göttliche“.

Das wirklich Bedeutsame dieser beiden Verse ist ihr (Auf-)Forderungscharakter. Das Verb „Sein“ wird in der Form „sei“ gebraucht, was darauf hinweist, dass schon Goethe zu der Auffassung gelangt war, dass der Mensch eine Menge „ist“, aber eben (noch) nicht „edel, hilfreich und gut“, und, wenn dem zufälligerweise, gelegentlich bzw. einmal der Fall sein sollte, dann ist das durchaus eher eine Ausnahme als die erhoffte und erstrebenswerte Regel.


Wieder auferstanden I: Der Pranger


Seitdem die Social Media die Herrschaft über den virtuellen Stammtisch übernommen haben, ist der Pranger wieder in unsere Mitte zurückgekehrt. Früher hat man auf dem Marktplatz diejenigen an den Pranger gefesselt, deren Verhalten einer gewissen Obrig- bzw. Öffentlichkeit nicht als genehm, also nicht als gesellschaftlich kompatibel angesehen wurde. Der oder die an den Pranger Gestellte wurde bespuckt, beworfen und – das war der wichtigste Teil des Vergnügens – zur Delektierung des Pöbels bloßgestellt.

Heute übernimmt das der sog. „Shitstorm“, der nichts anderes ist, als an den Pranger und damit bloß zu stellen. Im globalen Dorf des Internets ist der Marktplatz nicht mehr ein fester Ort und der Prangerpfahl virtuell. Wenn über einem der Güllekübel ausgeschüttet wird, dann ist es ziemlich unerheblich, ob die Scheiße nun echt oder virtuell ist.

Es gibt durchaus Menschen, die der Ansicht sind, dass es ein zivilisatorischer Fortschritt war, als mit dem Mittelalter der Pranger unterging.


Wiederaufstanden II: Der Religionskrieg und die Verfolgung Andersgläubiger


Ebenso geschichtlich abgehakt hatte man Pogrome, die Verfolgung Andersgläubiger und den erdumspannend auftretenden Religionskrieg. Leider war das eine fromme Selbsttäuschung. Hatte man früher das Pogrom allein mit dem Judentum in Verbindung gebracht, sehen sich jetzt Christen, Jesiden, Juden und alle anderen Andersgläubigen durch die Entartung der Sunna ausgesetzt, die man meist unter den Begrifflichkeiten Boko Haram, Islamischer Staat und al-Qaida zusammenfasst.

Der weltumspannende Religionskrieg findet insbesondere zwischen der Sunna und der Schia statt, den beiden größten und durchaus verfeindeten Strömungen des Islam. Beide Glaubensströmungen befehden sich durchaus nicht nur in Syrien und im Irak. Sie tun das im Libanon, im Jemen, in Bahrain, in Saudi Arabien und in Qatar. Dabei sieht der radikalisierte Teil der Sunna sich durchaus auch im Religionskrieg mit den Kreuzrittern; darunter subsummiert diese Strömung das gesamte, nicht nur westliche, Christentum.

Inzwischen, Zahlen belegen das nachhaltige, ist das Christentum die Religion, die weltweit am nachhaltigsten der Verfolgung ausgesetzt ist. Wie weit das inzwischen geht, ist bis in die Türkei sichtbar.


Wieder auferstanden III: Der nationalistische Populismus


Religionskriege und Verfolgung lösen immer Reflexe bei den Verfolgten aus. Man kann mit Fug und Recht aus der Geschichte ableiten, dass radikale Bewegungen sich regelrecht spiegeln.

Die Entwicklung finden wir in den Niederlanden mit dem Anti-Islam-Programm des Geert Wilders, in Österreich mit dem FPÖ, in Deutschland mit der Pegida und der AfD, in Frankreich mit der Front Nationale und in Italien mit der Fünf-Sterne-Bewegung und der Lega Nord wieder. Selbst in Israel ist die Radikalisierung der Politik in der Siedlerbewegung erkennbar, die bis in die strenggläubige Bevölkerung hineinreicht. Die aktuelle Siedlungspolitik passt in nationalistische Reflexe, die bis in das Ergebnis des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs reichen.

Die Islamfeindlichkeit verbindet sich mit einer zunehmend nationalistischen und völkisch-rassistischen Grundströmung, die sich in der sog. „identitäre“ Bewegung zusammenfasst. Diese Bewegung versteht sich als Abwehrbollwerk gegen alles Fremde, insbesondere der Zuwanderung aus islamischen Ländern.

Der Populismus greift die Ängste auf, die durch eine nicht verarbeitete Globalisierungs- und Technologieangst verstärkt werden, und vermischt die Strömungen mit explosiven Auswirkungen, deren heftigste der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ist. Auch in anderen europäischen Staaten gibt es populistische Parteien, die den Zusammenhalt ganzer Mitgliedsstaaten bedrohen.


Wieder auferstanden IV: Die Herrschaft der Autokraten


Es schien vor kurzem noch, als wäre der Siegeszug der Demokratie nicht aufzuhalten. Durch den arabischen Frühling sah es so aus, als wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis der letzte Autokrat durch eine demokratische Wahl abgelöst werden würde.

Das Gegenteil ist eingetreten: Erst hat Putin sein Land autoritär umgewandelt, so dass man heute von einer Mischung zwischen gelenkter Demokratie und national ummantelter Diktatur sprechen kann. Nach dem Putsch geht Erdogan einen ähnlichen Weg, und auch in Ägypten ist der Zustand einer autoritären Herrschaft erreicht.

Putin und der Iran haben alles getan, damit Assad in Syrien an der Macht bleibt. Wenn man die aktuelle Lage richtig analysiert, dürfte es kaummehr möglich sein, ein Syrien nach dem Bürgerkrieg ohne die Herrschaft des Assad-Clans sich vorzustellen.

Auch in Europa finden wir Regierungen in Ungarn und Polen, deren Demokratieverständnis – wenn man es vorsichtig formuliert – „spannend“ ist. In beiden Ländern betrachtet die Regierung ihre Mehrheit als sakrosankt und als Legitimierung einer staatlichen Umgestaltung zur Festigung und Verewigung der eigenen Herrschaft, bis hin zur Umerziehung der Bevölkerung durch Eroberung des Informationsmonopols via Zentralisierung und Übernahme der Medien. Das geht soweit, dass man versucht, sich der Justiz und der Verfassungsgerichte zu bemächtigen.


Wiederaufstanden V: Die Wiederkehr des Krieges als Mittel der Politik in Europa


Was mit dem Einsatz der NATO-Luftwaffe im jugoslawischen Bürgerkrieg durchaus zögerlich begann, hat in der Besetzung der Krim durch die russische Armee sein Höhepunkt dahingehend genommen, dass zum ersten Mal nach 1945 ein europäischer Staat seine Grenzen zu seinem Vorteil mit den Mitteln des Krieges verändert hat. Auch der Bürgerkrieg in der Ost-Ukraine ist in Wahrheit kein Bürgerkrieg. Der Aufstand wäre ohne russische Waffenlieferungen, russische Logistik und das aktive Eingreifen russischer Soldaten längst zusammengebrochen.

Betrachten wir zusätzlich den nicht erklärten Informationskrieg Russlands in allen Medien gegen Europa und in den jeweiligen Öffentlichkeiten aller europäischen Staaten, so ist die Diagnose, dass wir keinen Friedenszustand haben, sondern uns tatsächlich irgendwo in einer Phase eines vorkriegsähnlichen Zustands befinden, sicherlich nicht überzogen. Es hat sich also qualitativ etwas verändert. Miteinander Reden und aktives Verhandeln als Interessensausgleich werden zunehmend durch aggressive Mittel ersetzt. Der Krieg ist wieder ein Mittel der Politik geworden. Die Drohung mit Waffen ist jetzt wieder salonfähig. Der Hass ist wieder in die Auseinandersetzung von Staaten und zur Vertretung und Begründung der eigenen Interessen zurückgekehrt.


Zusammenfassung: Der Hass ist das beherrschende Gefühl unserer Zeit

Die Verrohung der politischen Auseinandersetzung reflektiert die Angst, die in die Gesellschaften und in unser Nachdenken über die Zukunft eingekehrt ist. Sie ist zugleich ein Ergebnis der Sozialen Medien, in den die Auseinandersetzung unter dem Deckmantel der Anonymität ausgetragen werden können. Es ist zudem allemal leichter, extrem zu argumentieren und zu formulieren, wenn man dem Gegenüber nicht Aug in Aug seine Argumente vortragen muss.

Distanz und mangelnde Gleichzeitigkeit lassen darüber hinaus den Respekt voreinander schwinden. Politik und staatliches Handeln, die als ungerecht und nicht gut gemacht empfunden werden, delegitimieren den Staat und seine Organe. Viele Menschen fühlen sich mit ihren Ängsten allein gelassen. Zuwanderung, Diebstähle, soziale Spaltung, Generationenkonflikte und Überalterung: Die Politik findet kein Mittel und zeigt keinen Mut und keine Führung.

Angst ist ein sehr schlechter Ratgeber. Je tiefer die Verunsicherung, desto stärker die Gefühlsausschläge: Der Hass ist über die Respektlosigkeit und den Eindruck, der Staat sei ein Selbstbedienungsladen der Herrschenden und der Reichen, in die gesellschaftliche Debatte zurückgekehrt. Die Auseinandersetzungen entgleisen ständig und werden zunehmend unsachlicher.

Auch der Wettbewerb der Religionen und Glaubensrichtungen wird seit einiger zunehmend hasserfüllt geführt. Die Gewalt wird mit der Überlegenheit und der Richtigkeit der eigenen Einstellung begründet; der Andersgläubige ist ein Feind, dessen Beseitigung etwas Gutes ist.

Das Jahr 2016 wird möglicherweise als erstes Jahr im Zeitalter des Hasses in die Geschichte eingehen. Das wird letztlich dann endgültig der Fall sein, wenn es uns nicht gelingt, im kommenden Jahr eine Wende im Ton von Diskurs und Politik zu erreichen. Leider sieht es im Moment so gar nicht danach aus, dass Gespräch, Vernunft, Sachlichkeit und wechselseitige Achtung wieder eine Chance bekommen, sich gegen Gewalt, Angst, Hass und Respektlosigkeit durchzusetzen.

Und das wird sich solange nicht ändern, wie brutale Gewalt ein erfolgreiches Mittel bleibt, um seine Interessen rücksichtslos durchzubringen, ohne dass man dafür zur Rechenschaft gezogen werden kann oder wird.

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Dichtung zu vielen Gelegenheiten -
mit einem leichtem Anflug von melancholischer Ironie gewürzt
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Geändert von Walther (04.01.2017 um 18:08 Uhr)
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