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Alt 04.02.2017, 18:35   #1
Thomas
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Standard Das ewige Nun

Das ewige Nun

Zyklus mit einigen Überlegungen zur Philosophie der Komposition



Augenblick
Καιρός

Dein Augenblick, ein Blitz von dir
veränderte in mir
Gefühle, Denken und den Sinn,
zog alles zu dir hin.
Ein Paulus bin ich und verliebt,
weiß, dass es Wunder gibt
und eine Ewigkeit in dir.

Auf Pfaden der Vergänglichkeit
verging ich in der Zeit;
in Einsamkeit und steter Hast
war ich nur wie zu Gast
bei mir; ein Taumel ohne Sein
im Hier, mit einem Bein
im Grabe der Unendlichkeit.

Nun ist mir plötzlich alles licht
durch dich, von Angesicht
zu Angesicht erscheint die Welt
durch dich allein erhellt.
Es sind mein Körper und mein Geist
verloren und verwaist,
bin ich in deiner Nähe nicht.



Auf der Brücke

Noch einmal wende ich mich um,
auf dieser Brücke, sehe stumm,
wie Tränen dir im Auge stehen,
doch muss ich trotzdem weitergehen
den Weg, den Herbstlaub gnädig barg.
Die Stadt erscheint mir wie ein Sarg
und aus den Gullideckeln steigt
ein Atem der Vergänglichkeit,
worin sich Raum verliert und Zeit.



Geburtsmomente

Seit Ewigkeiten kreist der Himmel seine Bahnen,
plötzlich erscheint
herrlich und klar
der neue Stern.

Wie lange herrschte Aug um Auge, Zahn um Zahn?
Plötzlich erscheint
göttlich und mild
das Liebekind.

Seit Menschen aufwärts blickten, ruhte fest die Erde,
plötzlich erscheint
denkendem Geist
die neue Welt.

Wie lange treiben melancholische Gefühle?
Plötzlich entspringt
tränendem Stift
das Lobgedicht.





Überlegung zur Philosophie der Komposition

Da es mich immer interessiert, wie Gedichte zustande kommen, möchte ich nun meinerseits versuchen, möglichst genau zu erklären, wie dieser kleine Zyklus entstanden ist. Vielleicht kann ich dabei auch einen Punkt klären, der mir bei der Lektüre von Edgar Allan Poes "Philosophy of Composition" bisher unklar war. Poe beschreibt in diesem wunderbaren Aufsatz die Entstehung seines Gedichtes "The Raven". Bei aller Exaktheit der Schilderung hat mir jedoch immer etwas gefehlt. Ich vermutete, dass das in Poes Absicht seines Essays begründet liegt, der Vorstellung der romantischen Gefühlspoesie möglichst deutlich entgegenzutreten. Poe sagt, er wolle dem Leser klar machen, dass keine Zeile des Gedichtes einer Intuition entsprungen sei, sondern dass die Entstehung stufenweise, wie die Lösung eines mathematischen Problems voranschritt.

Jedes einzelne Gedicht meines kleinen Zyklus' ist in einer Weise entstanden, die der von E. A. Poe in "Philosophy of Composition" beschrieben sehr ähnlich ist. Aber es gab "vorgeschaltete" Schritte, welche Poe nicht erwähnt. Das Zustandekommen der Gedichte beruhte nicht einfach auf einem Entschluss, ein wirkungsvolles Gedicht zu schreiben und dafür ein entsprechendes Thema zu suchen – wie in Poes Aufsatz beschrieben. Sondern das Thema zweier der drei Gedichte entsprang auf eine ganz andere Weise, nämlich aus Gedanken über die Frage der Zeit und den Begriff "Kairos". Dieses Denken war gar nicht auf Poesie gerichtet, aber es erzeugte in mir einen Gefühlszustand, aus welchem die Idee für diese Gedichte entsprang, und zwar in einer Kombination von Inhalt und Form, wobei die Form direkt mit dem Gefühlszustand verbunden war und nicht mit dem Inhalt.

Zuerst entstand auf diese Weise das Gedicht "Augenblick", dem ich als Arbeitstitel "Liebe" gab. Es handelt sich nicht primär um erotische Liebe. Das beim Nachdenken über Kairos entstandene Gefühl hatte in mir eine Situation aus meiner Jugend wieder wach gerufen, welche mit einem tiefen religiösen Empfinden verbunden war, von dem ich nun im Nachhinein merkte, dass es dem Gefühl tiefer Liebe sehr ähnlich ist, das auch Menschen ganz ohne Religion kennen. Ab diesem Zeitpunkt verfuhr ich so mechanisch, wie es Poe in seinem Aufsatz beschreibt. Aber die Metrik und die Form der Reime musste ich mir nicht auswählen, da diese Form bereits mit der Idee des Gedichtes entstanden war. In der Tat wäre es mir unmöglich gewesen, diese Form (wie Poe es beschreibt) auszuwählen, da es diese Form der siebenzeiligen Strophe bisher nicht gab. Ich habe jedenfalls auch bei meinen späteren Nachforschungen nichts derartiges gefunden.

Nachdem ich das Gedicht "Augenblick" fertiggestellt hatte, kreisten meine Gedanken weiter um den Begriff "Kairos", und aus einem ganz anderen, ja fast entgegengesetzten Gefühl wurde mir die furchtbare Situation des plötzlichen Herzstillstands meiner ersten Frau gegenwärtig. In diesem Augenblick erschien mir die Idee von "Auf der Brücke", wobei wieder Inhalt und grundlegende Form in Verbindung erschienen. Trotz des emotionalen Gegensatzes verband beide Gedichte der Begriff "Kairos".

Nun erst, nachdem dieses beiden Gedichte fertig waren, lernte ich den Begriff "Das ewige Nun" von Meister Eckehart kennen und dabei kam mir der Gedanke, dass zu diesen beiden Gedichten im Grunde noch der "unendliche" Moment der Geburt hinzukommen müsse, um den emotionalen Bogen vollständig zu spannen, d.h. die ganze Sache poetisch "rund" zu machen. Jetzt war ich tatsächlich an dem Punkt, an dem Poe seinen Aufsatz beginnt, d.h. ich begann das letzte Gedicht des Zyklus vom Standpunkt der zu erzielenden Wirkung und des dazu nötigen Tons. Die Situation empfand ich als schwierig und kam erst nach Tagen damit voran, als ich mich an das erhabene Gefühl erinnerte, welches ich beim Schreiben einiger meiner Gedichte empfand und zu Tränen gerührt wurde. In solche einem Moment stand das Gedicht als Ganzes vor mir, nicht in der zeitlichen Abfolge der Strophen, in der es später aufgeschrieben werden muss, sondern in einem einzigen Augenblick. Nun hatte ich die Grundlage gefunden, auf der ich schrittweise weitergehen konnte.

Als ich darüber nachdachte, kam mir etwas in den Sinn, welches zur ersten Strophe wurde, nämlich der Schluss des Dialogs "Die Macht des Wortes" von Edgar Allan Poe. Dort wird nämlich etwas dargestellt, was dem gerade erwähnten Gefühl bei der "Geburt" eines Gedichtes gleicht. Poe beschreibt es in dem Dialog mit der Geburt eines Sternes. Weil diese Stelle so schön ist, führe ich sie hier (von mir aus dem Englischen übertragen) an.

Der Dialog endet mit der Frage: "Warum weinst du plötzlich und warum, warum nur lässt du die Schwingen sinken, während wir über diesem schönen Stern dahinschweben – den grünsten und zugleich zerklüftetsten, dem wir auf unserer ganzen Reise begegneten? Seine strahlenden Blumen erscheinen wie Feenträume – jedoch seine wilden Vulkane wie die Leidenschaften eines stürmisch bewegten Herzens."

Die Antwort lautet: "Sie sind es! – Sie sind es! Dieser wilde Stern – es ist nun dreihundert Jahre her, als ich händeringend mit tränenüberströmten Augen zu Füßen meiner Geliebten – als ich ihm – mit wenigen leidenschaftlichen Sätzen – als ich ihm sein Dasein gab. Seine strahlenden Blumen sind die lieblichsten aller unerfüllten Träume und seine tosenden Vulkane sind die Leidenschaften des stürmischsten, verstoßenen Herzens."

Dieser Dialog scheint mir übrigens zu bestätigen, dass Poe in "Philosophy of Composition" einige Aspekte des Entstehens seiner Gedichte nicht beschreibt.

Danach fielen mir vergleichbare Momente ein, woraus die beiden mittleren Strophen entstanden. Da mir in diesem Fall die Form nicht sofort gegenwärtig war, entschloss ich mich, den "unendlichen Moment", um den es geht, allein durch den Rhythmus des Gedichtes auszudrücken. Nachdem es fertig da stand, meinte ich, dieses Gedicht, der Entstehungsgeschichte folgend, an das Ende des Zyklus stellen zu müssen, obwohl es "logisch" eigentlich an den Anfang gehört.
__________________
© Ralf Schauerhammer

Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft. Friedrich Schiller

Geändert von Thomas (05.02.2017 um 23:43 Uhr)
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