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Alt 01.01.2014, 21:19   #1
Walther
Gelegenheitsdichter
 
Registriert seit: 09.11.2009
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Standard Es kommt ein Drache geflogen

Es kommt ein Drache geflogen


Hänschen hasst es, wenn er Hänschen gerufen wird. Er findet das total uncool. Schließlich ist er zwölf. Naja, bald, nach seinem nächsten Geburtstag, den er aber nicht feiern will. Keinen Bock drauf, gar keinen. Es gibt Sachen, auf die man verzichten kann, denkt er. Kindergeburtstage sind so was. Total langweilig. Total überschätzt.

Und außerdem ist Hänschen der Mann im Haus, seit sein Vater ausgezogen ist. Er wohnt mit seiner Mama Edith allein in dem großen Haus mit viel Garten. Er hat im ersten Stock ein großes eigenes Zimmer, in das die Bombe eingeschlagen hat. Sagt wenigstens seine Ma. Sie findet das weder gut noch komisch. Hänschen findet es schon komisch, dass man sich darüber so künstlich aufregen kann. Erwachsene regen sich dauern auf, über was auch immer. Aber lachen kann er nicht mehr drüber, obwohl sein Pa Frank das auch immer wieder mit vorwurfsvollem Blick sagt, das mit der Bombe. Ist so gut wie alles, bei dem sich Ma und Pa einig sind. Sonst streiten sie sich immer.

Inzwischen fragt Hänschen sich, ob das Zimmer und er schuld sind an der Trennung. In seiner Klasse kommt das öfter vor, aber sie waren doch die ganze Zeit ein tolles Team. Bis Ma Pa gesagt hat, dass er zu viel arbeitet und nie für die Familie Zeit hat. Wobei sie sich gemeint hat. Denn so ganz stimmt es nicht. Pa hat immer Zeit gehabt, wenn es gebrannt hat. Er hat Fußball mit Hänschen gespielt, einen Drachen gebastelt und mit ihm steigen lassen. Hat den Laptop für Hänschen gekauft und mit ihm eingerichtet. Und ans Internet angeschlossen. Mit dem Sohn Spiele gezockt. Hänschen hat eine superschnelle Breitbandverbindung. Geil, seine Kumpels beneiden ihn und wollen immer zum Online-Games-Spielen kommen. Und zum Videogucken.

Aber dann hatte die Ma einen neuen Job bekommen in der Schule, bei der sie arbeitet, und jetzt hatte sie auch keine Zeit mehr. Und Hänschen bekam irgendwie das Gefühl, dass er im Weg ist. Dass die Alten nur sauer auf einander sind, weil er da ist und den Ablauf stört. Deswegen will er auch nicht Geburtstag feiern. Auch, weil er Angst hat, dass sie an dem Tag sich wieder zoffen. Und seine Kumpels mitkriegen, dass bei ihnen ebenfalls alles am Arsch ist zuhause.

Hänschen schämt sich deswegen. Und hasst darum seit kurzem Geburtstage, besonders den seinen. Obwohl er sie vorher tierisch gut gefunden und sich wie Bolle drauf gefreut hat. Erst gestern Nachmittag hat er die alten Videos im Laptop angesehen und dabei geheult wie ein Schlosshund. Danach hat er sich noch mehr geschämt, weil ein Mann nicht weint. Er will kein Kind mehr sein, weil er doch der Mann im Haus ist.

Das Schlimme ist, dass Ma und Pa seit kurzem eine zweite Sache haben, bei der sie sich total einig sind. Neben der Bombe, die in meinem Zimmer eingeschlagen hat, so dass er die Hausaufgaben auf dem Bett machen muss, weil es auf dem Schreibtisch einfach keinen Platz hat. Eigentlich kein Problem, ging vorher auch immer gut. Aber jetzt sind das seine saumäßigen Noten. Er kann sich einfach nicht richtig konzentrieren, weil ihm die ganze Zeit diese komischen Fragen im Kopf rumsausen. Weil er Hummeln in der Hose hat und nicht stillsitzen kann. Und weil er die Nachmittage verträumt und dauernd die Hausis verbummelt.

Sie sagen alle, er sei faul. Hänschen sagt sich: Das stimmt nicht. Ich bin nicht faul. Ich kann es einfach nicht mehr. Auch schlafen ist gerade nicht so richtig dolle angesagt. Ma fragt ihn morgens immer, warum er das Bett zerwühlt und total verschwitzt durch das Treppenhaus tapse nachts, wenn er aufschreckt. Morgens beim Frühstück gähnt er die ganze Zeit und sieht aus wie ein ausgelatschter alter Turnschuh. Sagt Luca, sein bester Freund.

Hänschen traut sich nicht, seiner Ma Edith zu sagen, dass ihm der Pa fehlt. Und wenn er bei seinem Pa Frank am Wochenende ist, dass ihm dann die Ma fehlt. Es ist alles irgendwie nicht richtig. Nichts passt zusammen. Er denkt sich, das ist uns Dreie was verloren gegangen, und manchmal fühlt es sich so an, als sei in ihm was zersprungen, was nicht mehr ganz gemacht werden kann.

In Mathe bekommt er inzwischen Nachhilfe bei Günther, Pas bestem Freund. Onkel Günnie mag er sehr. Er ist immer super drauf und kann super toll zuhören. Er hat immer gute Laune und wird nie laut. Auch bei Physik hilft er ihm und haut ihm freundlich auf die Finger, wenn er in Bio und Chemie schlampt. Seitdem er mit Hänschen lernt, schreibt der wenigstens wieder Dreibisvieren und keine Fünfen. Und in Physik kriegt er sogar einen Dreier hin. Bio und Chemie schafft er so gerade mit Vier. Lernfächer, sagen die Eltern. Ätzend, sagt Hänschen.

Aber Englisch, das ist wirklich „a catastrophy, really“. Da haut er eine Fünf nach der anderen raus, und Ma ist doch Englischlehrerin. Aber mit ihrem Sohn kann sie nicht lernen, sagt sie. Stimmt. Sie kriegt immer gleich einen Schreikrampf, und dann heult sie, und dann heult Hänschen auch. Es muss vor der Tür klingen, als wären rollige Kater unterwegs. Das sagt Onkel Günnie mit einem schrägen Grinsen, wenn er wieder mal an der Tür klingelt, wenn sie beide heulen. Schrecklich. Nicht zum Aushalten.

Hänschen schämt sich sehr, aber die Fünfen wollen nicht verschwinden. Manchmal werden es sogar Sechsen. Ach ja, Latein. Gut, dass wir drüber sprechen. Aus Eins mach Vier in sechs Monaten. Klasse gemacht. Tolle Wurst, meint Pa Frank. So wird das nichts, grummelt er dann mit einem traurigen Kopfschütteln.

Wenigstens in Deutsch, Gemeinschaftskunde und Reli bekommt Hänschen noch Zweibisdreien. Daher wird er wohl nicht durchfallen, aber sein Klassenlehrer ist ziemlich sauer und enttäuscht. Schließlich er vor nicht allzu langer Zeit der Primus und Liebling. Immer Hausis gemacht, immer pünktlich, immer mitgearbeitet. Und jetzt ist die Kacke am Dampfen, quasi. Sagt der Klassenlehrer. Nicht ganz so, aber ein bisschen höflicher formuliert. Zu Hänschen, den er jetzt erst Hans nennt, dessen Mutter und Vater. In wechselnder Reihenfolge und zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit.

Richtig Lust, in die Schule zu gehen, hat Hänschen daher inzwischen auch nicht mehr. Irgendwie ist alles so sinnlos. Was dazu führt, dass er dauernd zu spät kommt und die Hälfte vergisst, Hausaufgaben, Bücher, Vesper, alles toujours durch. Den Rekord in Klassenbucheinträgen hat er, der zuvor immer ordentliche und unauffällige, mittlerweile geknackt. Wenigstens etwas. Immerhin bin ich kein Streber mehr, sagt er zu sich. Was für ein Erfolg.

Hänschen sitzt gerade an seinem Schreibtisch, weil dort der Laptop steht. Den überflüssigen Mist hat er in einem Anfall von Wut auf sich selbst auf den Boden gedonnert. Damit er am Läppi schreiben kann. Er hat da eine Textdatei, die sein Tagebuch ist. In der tippt er planlos rum. Er schaut immer wieder auf und träumt sich weg. Das Schreiben will nicht so recht.

Da es zum ersten Mal richtig warm ist, steht das Fenster offen. Vor seinem Zimmer ist ein kleiner Balkon. Er gehört zum einem Balkonband, das über der Veranda angebracht in den Garten schaut. So ist unten im Sommer schöner Schatten. Seine Ma hatte darauf bestanden, oben, wo die Schlaf- und Kinderzimmer sind, auch einen Balkon zu haben. Er hat seinen eigenen bekommen.

Auf dem Balkon gibt es sogar einen kleinen Tisch und zwei Klappstühle, auf denen man herrlich fläzen kann, rumhängen, chillen. Das ist cool, wenn Luca da ist. Da können die beiden Freunde unter Männern rumhängen, eine kalte Cola wegtrinken und über die Mädels, die kichernden Rennhennen, rumlästern. Und keiner stört oder hört sie. Auch Ma nicht. Die fände die Sprüche sicher zum Abgewöhnen. Und total machomäßig.

Hänschen steht auf, dehnt sich, gähnt vernehmlich. Schließlich geht er raus und stopft sich zwei Stöpsel von seinem iPod ins Ohr. Chillen ist gut. Er ist sowieso müde und ausgepowert. Immer. Nicht gescheit geschlafen wieder, sagt die Mama. Stimmt. Die Musik lullt ihn ein, er schließt die Augen und dämmert weg. Irgendwann später macht es „Plock!“ am Sonnenschirm, der danach leicht wackelt, dann „Dong!“ am Fenster, und schließlich „Schepper!“ in seiner Müslischüssel, die auf dem Tischchen seit vergangenen Sonntagmorgen steht und deren Inhalt zum Glück angetrocknet ist, bevor er Füße kriegen konnte. Der Löffel ist dabei rausgefallen auf den Tisch.

Er hebt müde seinen Kopf etwas an, um ihn dann wieder zurück nach vorne sacken zu lassen. Das leise „Fuck!“, begleitet von einem ziemlich lauten Fauchen, bringt Hänschen endgültig in die Wirklichkeit zurück. Er setzt sich auf, reibt sich die Augen und schaut verwundert um sich und sieht erstmal nichts. Gar nichts. Er muss anscheinend geträumt haben.

„Ist da wer?“ fragt er gedehnt. Vorsichtshalber. Man weiß ja nie.

Keine Antwort. OK, er muss sowieso was zu trinken holen. Der Mund ist verdammt trocken. Und aufs Klo gehen wäre auch angezeigt. Es drückt. Also die Glieder sortieren, den Stuhl zurück und aufstehen. Plötzlich: „Fuckfuckfuck!!!“ Also hatte er sich vorher doch nicht getäuscht. Es ist jemand, etwas, da.

„Hey, you!“ Das ist jetzt nicht mehr zu überhören. „Wo bist, äh, where are you? Who are you?”

“Sorry, my boy, you can’t see me! I have to switch my invisibility off. You human-beings can’t see us if we don’t want to be seen.” Wer oder was, verdammt, ist das, das da was von Unsichtbarkeit brabbelt. Die Stimme klingt reichlich seltsam. Wie von einem Kind, das zwei Flaschen Whiskey getrunken hat, würde Pa jetzt sagen, am Morgen danach, ganz leicht nach mit Sandpapier angeraut.

Wie aus dem Nichts taucht in der linken Balkonecke mit einem Mal ein Wesen auf, das wie ein Babydrache aussieht, so groß wie ein weißes Kaninchen aus dem Hut eines Zauberers, und an der Brüstung lehnt. Die Haut schillert glänzend pinklilablau. Das Ding hat bernsteinfarbene große Augen, in denen grüne Funken schwimmen, die zu kreisen scheinen, wenn man in sie hineinschaut und einen ganz rammdösig machen. Es scheint schmerzvoll zu grinsen. Aus der Nase kräuselt sich etwas Rauch. Es hat einen langen Schwanz, Zacken auf der Rückenlinie bis auf den Kopf. Eigenartiges Ding das, denkt Hänschen bei sich, sagt aber nichts.

„I had to torch that damn crow who wanted to pick me for lunch for her and her bunch of kids in her nest, sort of. Then I suddenly lost height and banged against that bloody sunshade, whooshed into the window screen and finally dunked against that idiotic cereal bowl of yours. Stinks quite old, mate. Now, here I am, and my left wing looks like being cracked or dislocated or worse. And it pangs me right. Fuck! Sorry for my French.”

Hänschen muss aus dem Gesicht geschaut haben, als wenn ihnh erst ein Pferd getreten und danach ein Panzer gerammt hätte. Jedenfalls beginnt das Wesen lauthals gurgelnd zu lachen, bis es aus Versehen seinen ausgekugelten Flügel gegen die Brüstung bringt, und das Lachen abrupt in ein leises Stöhnen überspringt.

Er setzt sich erschreckt wieder hin und schaut sich das Ding näher an, das, kaum einen halben Meter hoch, in der Balkonecke bei der Tür vor sich hin wimmert. Sieht aus wie ein kleiner Drache. OK. So was gibt es doch gar nicht, nur in Comics und Filmen. Und Märchen. Aber nicht hier, auf seinem Balkon. „Wo bin ich?“ grübelt er halblaut.

Hänschen schüttelt erst ungläubig den Kopf, schluckt hart und kneift sich erstmal in die Backe. Au. Tut weh. Gut. Dann headbangt er richtig seinen Kopf durch. Auch gut. Und dann schaut er wieder auf. Das Ding ist immer noch da, hat seinen Kopf jetzt leicht schräg gestellt und schaut ihn mit diesen Kreiselaugen interessiert an. Nicht gut. Gar nicht gut!

Er fragt also lapidar: „Kann ich Dir helfen? Can I – ah - help you?“

Was hätte er sonst auch sagen sollen.

„Yes, you can. You can put me onto that shady table of yours and look after my left wing. My name is Jackie Drake, by the way, and I am a magic dragon. Well, I do become one when I am grown-up.” Der kleine Drache kichert in sich hinein, und es kräuselt sich wieder ein kleines Rauchwölkchen aus dem rechten Nasenloch.

Er setzt sich auf, und streckt Hänschen seine Vorderpfote mit drei Fingern nach vorne und einem nach hinten hin, als wäre das eine Hand. Er greift zu und schüttelt sie, ohne auch nur einen Moment nachzudenken. Erst dann zuckt er zurück. „No worries. I don’t do you no harm.“ Er brauche keine Angst zu haben, reimt Hänschen mir zusammen. Irgendwie hat er auch gar keine. Es kommt ihm alles nur ziemlich abgedreht und unwirklich vor.

„I am – ah – Hänschen – ah -, sorry, John“ stottert er. „Great to meet ya“, meint darauf der Babydrache ganz cool.
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Dichtung zu vielen Gelegenheiten -
mit einem leichtem Anflug von melancholischer Ironie gewürzt
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