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Erfahrener Eiland-Dichter
Registriert seit: 05.10.2009
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Die Kommemoration
(autobiografisch - die Namen der Ärzte wurden geändert) Barocksaal des Palais Daun-Kinski am 25. Jänner 2013, 19:00 Uhr Einleitung: Noch einmal guten Abend – und danke für euer Kommen. Sie hätte sich gefreut. Als ich vor zwei Wochen begann, die Erinnerungsrede für meine geliebte Lucy zu schreiben, dachte ich, dass ich sie selbst nie halten könnte. Ich hatte Angst, dass die bunten und schwarzen Nebel unserer Vergangenheit meine Worte ins Unverständliche verschwimmen lassen würden. Und aus dieser Erwägung entschied ich zuallererst, es einem meiner Freunde zu übertragen. Ich habe mich vor drei Tagen dagegen entschieden. Muss ich mich für Schwäche oder Tränen vor euch schämen? Ich denke nicht. Lasst mich also über Lucy, die Heldin erzählen. Über die schönen Zeiten Ihres Lebens, aber auch über den Horror der letzten Monate. *** Wir lernten einander am Abend des 25. Jänner 1965 um 19 Uhr kennen. Für mich ist es noch immer, als wäre es gerade vor wenigen Minuten gewesen: Ein kalter Nebel verhing den Abend. Sie trug einen grauschwarzen Fischgrätmantel und zwängte sich ein wenig schlotternd neben ihrer Freundin auf den Vordersitz des Autos eines Freundes. „Ich bin die Lucy.“ Sie wandte ihren Kopf, und als sie sich auf der vorderen Sitzbank zurücklehnte, berührten ihre kurzgeschnittenen weichen Haare meine Handrücken. Unser erster Abend in der Wohnung eines Freundes endet mit unzähligen Küssen. Dabei nahm sie mich mit ihren weichen Händen immer wieder zärtlich an den Ohren. Das war neu… Außer meiner hysterischen Volksschullehrerin hatte mich noch nie jemand bei den Ohren genommen. Ich hatte mich verliebt. Natürlich war ich nur ein bedeutungsloser 18-Jähriger, den sie kaum ernst nehmen würden. Sie hatte mit 18 bereits die erste Tragödie hinter sich. Ihr Ehemann Heinz war binnen weniger Monate mit 21 Jahren an einem Gehirntumor gestorben. Sie war auf der Suche nach dem, was sie damals verloren hatte. Geborgenheit, Zuneigung und Zärtlichkeit. Dann aber auf jemanden wirren zu stoßen, der sich mit Schneeschaufeln Kohle verdienen musste, um mit ihr auszugehen, war nicht gerade das, was sie sich vorgestellt hatte. Aber so war es nun einmal. Als ich am 26. Jänner bei ihrer Einladung in die Oper neben ihr einschlief und sie dafür in den Pausen mit wilden Umarmungen an die Wand drückte, war klar, dass sie sich bald von mir trennen würde. Das sah nicht nach einer vernünftigen Zukunft aus. Danach gab es auch ein Ende. Aber Lucy war risikofreudig und entschied sich nach einiger Zeit wieder für mich. Es war wunderbar, endlich wieder in den Armen dieser atemberaubend schönen und leidenschaftlichen Frau zu liegen. Im Sommer 68 hatte Lucy eine schwere Nierenkolik, die ihr fast das Leben kostete. Bei einer Notoperation werden ihr mehrere Nierensteine entfernt. Der Hausarzt und diverse Urologen hatten sie jahrelang auf Blasenentzündung behandelt… Irrtümlich. Ihre Genesung dauerte Monate, aber letztlich wurde sie die blühende Frau, die sie für die nächsten 20 Jahre blieb. 1969 heirateten wir ohne große Festivitäten. 2 Jahre davor hatte ich eine Werbeagentur gegründet. Lucy war Direktionssekretärin einer Wohnbaugenossenschaft geworden. Wir waren ständig überarbeitet und fanden bald kaum mehr Zeit für einander. Nach langen Überlegungen entschieden wir uns dafür, nur mehr mit- und für einander da zu sein. Ich verkaufte meine Werbeagentur an einen Kollegen aus der Branche und sie hängte ihren Beruf an den Nagel. Und egal aus welcher Sicht ich es betrachte – der gestrigen oder der heutigen, es war der richtige Schritt. Lucy konnte nicht schwanger werden und fand Ersatz in einem netten Cockerspaniel und nach drei Jahren in einem Zweiten. 1970 hatte sie Ibiza entdeckt und sich in die Insel verliebt, was nicht erstaunlich war. Sie knüpfte die richtigen Kontakte und wir verbrachten die Sommermonate von 1974 bis 1979 in Appartements und wunderschönen Villen auf dieser traumhaften Insel. Mit unserem schnellen Boot waren wir in 15 Minuten in Es Palmador, einer damals noch völlig einsamen, winzigen Lagune vor der Insel Formentera. Dort wucherte der wilde Rosmarin in Sträuchern und wir streuten ihn auf unsere gegrillten Fleischstücke. Es war ein Leben wie im privaten Paradies. Nur Liebe, Wein, Spaß und Nichts am Körper. Unser nächster Entschluss war Amerika. Ich hatte Los Angeles bereits 78 erkundet und Lucy war nach meiner langen Überzeugungsarbeit dafür. Im Jänner1980 übersiedelten wir. Ich hatte ihr Malibu als ein zweites – bequemeres Ibiza beschrieben. Es war keine Übertreibung. Der Atlantik war zwar kein warmes Mittelmeer, Aber darüber kamen wir hinweg. Die Veränderung hielt beides bereit: den Trennungsschmerz, die Heimat verlassen zu haben, und den teilweise schockierenden Eindruck einer völlig anderen Welt und Gesellschaft. Lucy adaptierte sich schneller, als ich gedacht hatte. Wir waren inzwischen im Highrise eines Freundes vom 5. Stock in ein Penthouse mit Rundumblick über Westwood und Santa Monica übersiedelt. Lucys Talent zur Gestaltung der Wohnung waren keine Grenzen gesetzt. Sie richtete ein und dekorierte einfach wunderschön. Ich war der Mensch, dem jahrelanges Leben aus den Kartons nichts ausmachen würde. Mit ihr ging das nicht und das war gut so. Im Sommer 1981 fand Lucy das Haus ihrer Träume. Es lag am Ende einer Sackgasse – der Wandermere Road am Point Dume - einer kleinen Landzunge am Ende von Malibu. Es war mein Geburtstagsgeschenk für Sie. Aber letztlich ein Geschenk für uns beide. Damit begannen unsere glücklichsten Jahre. Südkalifornien ist das Land der ewigen Blüte und Lucy liebte es, ihren Garten mit einem Blütenmeer zu überfluten. Wir umgaben uns nach und nach mit einem kleinen Kreis von Menschen – meist Österreicher – die nach und nach Freunde wurden. Unsere Feste waren sehr beliebt. Dass das Leben nicht nur Angenehmes für uns bereithält, sollten wir annehmen. Aber in jungen Jahren lässt man sich von der Illusion der Unverletzlichkeit treiben. Ende 84 wird der ältere unserer Hunde mit Krebs diagnostiziert, mehrmals operiert und 86 in meinen Armen eingeschläfert. In diesem Jahr erkrankt auch Lucys Vater überraschend an akuter myeloischer Leukämie. Sie ist gerade im Flugzeug nach Europa, als er stirbt. Die Krankheit hatte bis zum Tod genau 7 Tage gedauert. Dass sie ihm noch vieles hätte sagen wollen, macht sie noch lange danach untröstlich. Doch die Zufälligkeit, die manche Menschen Schicksal nennen, ist meist nicht verschwenderisch mit der Zeit, die sie uns lässt. 1986 verlieren ich unerwartet einen 2 Jahre dauernden 100 Millionen-Dollar-Schadenersatz-Prozess gegen eine der großen US-Telefongesellschaften, die Mein Marketingkonzept für die US-Yellowpages gestohlen hatte. Eine Berufung hätte mih 200 tausend Dollar gekostet und ich entschied mich dagegen. Lucy ist ebenso wenig enttäuscht wie ich. Wir erwarteten vom Leben nie das Beste, versuchten aber es uns zu nehmen. Ich denke an eine Rückkehr nach Europa. Lucy zögert sehr und wir diskutieren das Ganze monatelang – oft hitzig. Ich setze meinen Willen wieder einmal durch. Aber da die Mutter von Lucy an einer plötzlichen schweren Autoimmunerkrankung – die plötzlich gekommen war – litt, war letztlich ein Schluss für Sie ebenfalls leicht. 1987 verkaufen wir unser Haus und übersiedeln zurück. Als ein Mensch, der zu Schuldgefühlen erzogen wurde, leide ich einige Zeit darunter, dass ich ihr ihr Paradies genommen habe. Wir richten uns in Wien im Jugendstilhaus eines Freundes ein und machen monatelange Urlaube auf Bali und Jamaica und Thailand. Lucy findet damit nach und nach einen angenehmen Ausgleich zum Leben in Europa. Und: Wien ist doch anders geworden. Es gab sogar Fisch und Langusten. Sommer 1989 Lucy lässt sich von einem unserer engsten Freunde routinemäßig untersuchen. Er ist Primarius an der gynäkologischen Abteilung eines Wiener Spitals. Leider entdeckt er ein kleines Wachstum in der Gebärmutter und veranlasst wenige Tage später eine Bauchspiegelung. Die erste Diagnose: ein extrem seltener Borderline-Tumor. Er operiert unverzüglich und nun schreiben die Pathologen in ihrem Bericht: Eierstock-Krebs im dritten Stadium. Laut ihm sind die Aussichten schlecht und er überredet mich, Lucy das wahre Ausmaß der Krankheit zu verschweigen. Ich folge diesem Vorschlag nur mit Widerwillen und einem elenden Gefühl. Ich hasse derartige, möglicherweise folgenschwere Geheimniskrämereien. Durch Zufall entdeckt sie die Wahrheit in den Befunden, die man ihr irrtümlich in den Schoß legt. Der Operation folgen 6 Monate schwerster Chemotherapie. Damals sterben noch 5 % der Menschen daran. Dann eine übliche zweite schwere Operation – die übliche second-look-surgery - nur um „mal nachzuschauen“, ob die Behandlung erfolgreich war. Der blanke Wahnsinn. Die pathologischen Diagnosen sind noch schlechter und wir verzweifeln. Eine gute Freundin – sie ist Generalsekretärin der österreichischen Krebshilfe – rät uns, unbedingt in die Schweiz zu gehen, denn Österreich, sagt sie, ist in Vielem weit hinten. Wir beginnen erstmals an der Glaubwürdigkeit der Ärzte zu zweifeln. Über die Polyklinik St. Gallen kommen wir zu Prof. Dr. Aaron Goldmann einem jüdischen Gynäkologen**in Lugano. Er will, dass ich ihm die Befunde – vor allem den ersten am Telefon vorlese, und sagt danach sofort, dass die Diagnosen mit Sicherheit falsch sind. Das Gewebe wird in Bern in einem Top-Labor untersucht und man stellt fest, dass bis auf den Gefrierschnitt nach der Bauchspiegelung und dem dazu gehörenden – also dem allerersten Befund – alle Diagnosen in Wien falsch waren. Borderline Tumor sind relativ harmlos und selten. Sie werden in den meisten westlichen Ländern seit 1977 nicht mehr mit Chemotherapie nachbehandelt. Trotzdem beharren die Wiener ärztlichen Gutachter in der Folge noch immer auf demselben Schmarrn: Borderline ist ein Krebsgeschwür. In Österreich therapiert man es angeblich auch heute noch mit Chemotherapie. Für Lucy beginnt ein zweites Leben. Und wir gießen es in vollen Zügen. monatelange Urlaube in Thailand, das uns fast zur zweiten Heimat wird. Es gibt für uns keinen Morgen. Thailand Frühling 2004 Eines Morgens spürt Lucy einen scharfen Schmerz im Bauchbereich. Sie hatte das Ganze bereits vergessen, als sie Monate später während der Sauna eine harte Stelle im Bauch ertastet. Lucy ist seit 1990 Patientin bei Prof. Johannes Gruber. Er ist der einzige Frauenarzt, dem sie vertraut. Er lässt eine Computertomografie machen, die ungewisse Resultate zeigt. Gruber rät zur Operation und empfiehlt dazu den, seiner Erfahrung nach beste Chirurgen in Österreich: Prof. Dr. Fritz Lang am AKH. Im Warteraum der Konfraternität verbringe ich während ihrer Operation 5 Stunden, zermürbt von Angst. Prof. Lang hat gründlich operiert und dabei versucht, auch die kleinsten Tumore zu lokalisieren. Diagnose von Wiener Pathologen: Ovarialkarzinome. Wir sind zwar einige Zeit in Panik, lassen uns aber nicht mehr beeindrucken. Ich sende das Tumorgewebe in die Schweiz und dann nach Italien. Leider bestätigen die Experten in Lugano und Mailand diese Diagnose. Sie meinen, dass Lucy ohne Chemotherapie kaum mehr als 6 Monate überleben würde. Das ist ein harter Schlag. Aber wir glauben auch den Ärzten im benachbarten Ausland nicht mehr. Schon gar nicht den Pathologen. Lucy spricht allerdings schon damals – für den Fall, dass die Diagnosen doch stimmen sollten – von der Schweizer Sterbehilfe EXIT. Sie will keine Folterungen mehr über sich ergehen lassen. Ich entdecke die führenden amerikanischen Webseiten wie PUB MED und andere für Chirurgen und studiere hunderte vergleichbare Fälle von ovarialen Tumoren und deren Krankheitsverlauf. Dabei stoße ich auf einen der führenden Pathologen der Welt: Bob Stuhrman von der JOHNS HOPKINS UNIVERSITY. Er ist auf dem Gebiet der ovarialen Tumorerkrankungen weltweit die Nummer Eins. Ich korrespondiere und telefoniere unverzüglich mit ihm und sende sämtliches Tumorgewebe – auch jenes aus 1989 – an ihn. Es werden umfangreiche Tests und langwierige mikrobiologische Untersuchungen gemacht, die in Österreich unmöglich wären und teils sogar unbekannt sind. Inzwischen entscheidet sich Lucy unabhängig von den zu erwarteten Ergebnissen gegen eine Chemotherapie. Stuhrmans Untersuchungen kommen nach etwa einem halben Jahr zum Ergebnis, dass die Invasivität der Tumore sehr gering – wenn überhaupt – vorhanden sei. Ein Krebs ohne Metastasen also. Lucy gewinnt weitere 8 Jahre. Wir glauben, dass sie es noch einmal geschafft hat, dem Tod die Zunge zu zeigen. Frühjahr 2011. Nach zwei einfachen Eingriffen zur Entfernung von harmlosen Darmpolypen fliegen wir nach Khaolak. Wir haben für einen Monat eine traumhafte Strandvilla im Le Méridien gebucht. Der letzte Urlaub unseres Lebens ist total verregnet und wir reisen nach 2 Wochen ab. Wenige Wochen später wird bei ihrer routinemäßigen Computertomographie ein umgrenzter Schatten ein – vermutlicher – Tumor außerhalb des Enddarms entdeckt. CT- und MRT Untersuchungen sind wie immer unsicher. Es werden auch andere große Tumore in der Bauchhöhle vermutet, die aufgrund der Zeitspanne zur vorletzten Untersuchung unglaublich so schnell gewachsen sein könnten. Wir sind wie schon so oft am Rande auswegloser Verzweiflung. Wie ist es möglich, dass derart viele Tumore in 3 Wochen entstehen können? Ich kann es nicht glauben. Ich habe einfach zu viel darüber gehört und gelesen. Auch einer der führenden österreichischen Gynäkologen ist verunsichert und tendiert zu meiner Meinung. Er vermutet, dass es Hämatome sind. Die Biopsie des Tumors am Enddarm ergibt Darmkrebs – außerhalb des Darms. Wir sind zwei Mal bei Prof. Lang, der inzwischen Primarius in einer Klinik in Niederösterreich**ist, und diskutieren mit ihm und seinem Darmchirurgen alle Optionen. Er meint, dass ein künstlicher Darmausgang unumgänglich sein wird. Lucy will das nicht akzeptieren. Lieber würde sie tot sein. Wir lassen uns davon überzeugen, dass das AKH die sicherste Lösung wäre. Lucy wird von einem der angeblich besten Darmchirurgen, einem Urologen und einem Gynäkologen 8 Stunden lang operiert. Kurz nachdem sie aufgewacht ist, bin ich bei ihr in der Intensivstation. Mein Herz krampft sich zusammen, als ich sie da liegen sehe. Immer wieder sage ich ihr: Du musst atmen und alles wird gut werden. Sie lächelt. Meine geliebte, so viele Male zerschnittene und gefolterte Frau lächelt. Der Chirurg hat den Schließmuskel erhalten. Ich habe Recht behalten: Der Rest sind Hämatome und ein winziger Ovarialtumor im Stadium 1, der keine Bedeutung hat. Die Lymphknoten sind sauber. Sie ist also tumorfrei. Grund zum Jubeln Den künstlichen Darmausgang wird sie für einige Monate akzeptieren. Sie ist mental unsagbar stark und baut sich körperlich durch stundenlanges Gehen in der Wohnung wieder auf. Sie freut sich auf die Rückoperation und darauf, wieder ein normales Leben führen zu können. 11. Jänner 2012 Ihr Darm wird rückoperiert und mobilisiert. In wenigen Tagen ist sie wieder zuhause. 10 Tage danach funktioniert einfach nichts mehr. Noch denken wir nicht an ärztliche Fehlleistungen. Der Chirurg**will Lucy sofort im AKH haben. Er müsse die Sache klären und vermutet einen Abszess an der Stelle, wo er den Darm zusammengeschlossen hatte. Lucy weint: „Baby, die werden mich umbringen!“ Ich bin dem Wahnsinn nahe . Im AKH werden Blutproben kontaminiert. Ein inkompetenter Radiologe punktiert ihren Dünndarm. Der Chirurg ruft mich an und sagt wortwörtlich: uns ist eine große Scheiße passiert. Das sollte einem alles sagen. Normaler Weise wäre ein derartiger ärztlicher Fehler in einer 2-stündigen Operation mit Bauchhöhlenspülung korrigiert. Das höre ich später. Die Notoperation beginnt 2 Stunden nach dem Telefonat. Davor quält man sie im OP 10-mal mit den gleichen Fragen. Ich sitze stundenlang auf dem Boden vor dem OP 5 auf Ebene 9. Immer wieder frage ich, ob sie noch operiert wird. 23:30. Die Operation hat 9 Stunden gedauert. Der Chirurg erscheint im Gang. Er erzählt mir, er hätte die Fehler der beiden anderen Chirurgen von der letzten Operation korrigieren müssen. Diese Aussage ist für mich höchst ungewöhnlich. Danach leiert er mir noch ein paar leere Worte in den Kopf – Ausreden und Unverständliches – die mich verzweifeln lassen. Ich erfasse, dass er in Wahrheit seine Fehler bei der ersten Operation korrigieren musste. Denn: Nur er hatte am Darm operiert. Lucy kommt in den regulären Aufwachraum und ruft mit schwacher Stimme immer wieder, dass sie „sterben will.“ Ich glaube, dass ich am Ende meiner psychischen Kräfte angelangt bin. Obschon sie eine zahlende Privatpatientin ist, hat man nicht das notwendige Bett in der Intensivstation für sie – es ist ein Skandal. Und ich, der ich die Dinge für sie immer ändern und verbessern konnte, bin macht- und hilflos gegen das Monster-System AKH! Aus ihren Erzählungen nach der Operation höre ich, dass sie am Morgen danach von den neuen Schwestern der Tagschicht ungeduldig und schmissig behandelt wurde. Während die Damen gemütlich Kaffee trinken und telefonieren, winkt und ruft Lucy, weil sie dringend Schmerzmittel benötigt. Von einer der Schwestern wird sie wegen ihrer Ungeduld auch noch gerügt. Ich frage euch: Müssen wir unsere Kranken solchen Menschen überlassen? Als ich mich am nächsten Tag zu Mittag mit meinen Sorgen, Fragen und Beschwerden an den Stationsarzt wende, werde ich von ihm mit Ungeduld und Zynismus abgewimmelt. Ich muss mich beherrschen, damit nichts passiert und ich ihm nicht eine in die Fresse haue. Lucy geht es postoperativ verdammt schlecht. Ungeachtet dessen kämpft sie Tag für Tag darum, so schnell wie möglich wieder auf den Beinen zu sein, um dem Horror dieses Spitals zu entkommen. Der Chirurg prophezeit ihr, dass sich ihre Darmtätigkeit in 6 bis 8 Wochen wieder halbwegs normalisieren würde. Genau das Gegenteil ist der Fall. Ihr Zustand wird nicht nur schlechter, sondern auch immer unerträglicher. Sie läuft nur mehr zwischen Bett und der Toilette hin und her – oft bis zu 80 mal in 24 Stunden. Der Chirurg ist hilflos. Es gibt bei Darmproblemen nur Verstopfungs- und Abführmittel. Auch sonst hat kein Proktologe die geringste Ahnung. Im Elisabeth-Spital wird ihr Enddarm mit einem, wie mir scheint, Instrument aus dem vorigen Jahrhundert untersucht. Sie weint vor Schmerz. Na ja – dieses Spital gibt es schon seit dem 17. Jahrhundert. Lucys Leidensweg während der nächsten Monate will ich hier nicht näher beschreiben. Ihr Zustand ist furchtbar und Ihr tägliches Leben ist entwürdigend geworden. Sie kann die Wohnung nur mehr zu einigen wenigen Untersuchungen verlassen. Ich kämpfe mit allen Mitteln für sie und mit ihr. Wir probieren einfach alles aus – von Astronautennahrung, die wir aus England importieren, bis zu Dutzende verschiedene Salben. Ein Medikament, das den Darm besser regelt, entdecke ich auf der Website der Schweizerischen Uniklinik. In Österreich natürlich nicht erhältlich. Mit Unterstützung eines Apothekers mischen wir das nun selbst zusammen. Es hilft Lucy in den letzten Wochen ein klein wenig. Sie verliert seit Monaten auch ständig an Gewicht. 6 Monate nach der Notoperation hat sie nach 58 nur noch 42 kg. Sie ist ein zarter, zerbrechlicher Schmetterling geworden. Meine Augen füllen sich immer wieder mit Tränen, wenn ich sie ansehe, während sie beim Wechseln der T-Shirts ihr mageres Körperchen teilweise entblößt. Ich versuche, das vor ihr zu verbergen. Die Situation ist derart zum Verzagen, dass ich mich immer wieder darüber wundere, wie sie das schafft, und dass ich meinen Kampfgeist noch immer nicht verloren habe. Lucy beginnt darüber zu sprechen, dass sie in einem derart grauenvollen Zustand nicht mehr leben will. Ohne die geringste Würde, nur so dahin zu existieren, ist nicht das, was sie weiter ertragen möchte. Seit Monaten hat sie keinen Schritt mehr ins Freie setzen können. Ich sende ihr vom Handy Fotos von den Waldspaziergängen, zu welchen sie mich immer wieder liebevoll überredet. Der Chirurg – dieses Arschloch – hat nach Monaten die völlig irreale Idee, ihr jetzt operativ einen künstlichen Darmausgang zu setzen. Er wäre verpflichtet gewesen, das schon bei der Notoperation zur Sicherung ihrer Lebensqualität zu machen. Lucy ist viel zu schwach für einen derart schweren Eingriff geworden. Einige Monate nach der verhängnisvollen Notoperation hat man bei einer CT-Untersuchung einen Schatten in der Leber und Punkte in der Lunge entdeckt. Der Chirurg rät zu einer Leberbiopsie. „Wozu?“, fragt Lucy richtiger Weise? Konnte es sein, dass die massive Notoperation aufgrund ihres schwer angeschlagenen Immunsystems Tumorbildungen auslöste? Es ist denkbar. Immer wieder spricht sie mit mir darüber, dass sie sterben will, und trifft in dieser Hoffnungslosigkeit die endgültige Entscheidung: Sie hatte nach dieser letzten Untersuchung beschlossen, sich keiner weiteren Untersuchung mehr zu unterziehen. Sie will mit dem System einfach nichts mehr zu tun haben. Sie nimmt mir das Versprechen ab, mit ihr jeden Weg, für den sie sich entscheidet, zu gehen. Ich verspreche es. Wir wissen, wie tief und unerschütterlich unsere Liebe zueinander ist. Die Angst, sie zu verlieren, stürzt immer wieder über mich und verkrallt sich in mir wie ein riesiger, schwarzer Vogel, der seinen gierigen Schnabel direkt in mein Herz versenkt. Wir wissen: Die Hölle ist hier und jetzt. Wir reden wochenlang jeden Tag bis in die späte Nacht über unser Leben – arbeiten viele offene Fragen auf. Wenn ich für uns koche, kann sie gerade nur schnell die Mahlzeit essen und muss schon wieder auf die Toilette. Während ich fertig esse, bin ich noch einige Minuten allein im Kerzenlicht und trinke, um mich zu beruhigen. Eines ist klar: Ich werde Lucy nie diesem System zur weiteren Folter überlassen. Sie wird – solange ich sie beschützen kann – nicht Besitztum des Staates und seiner Handlanger werden. Lucy ist nun Mitglied des Schweizer Vereines für Sterbehilfe Dignitas geworden und hat ihren Sterbetermin für den 8. November 2012 festgelegt. Einer unserer engsten Freunde – ein Primararzt – hat Lucy dabei geholfen, indem er die notwendigen Zustandsberichte und Anamnesen für sie verfasste. Wo wären wir ohne dich, du, wahrer Freund? Bei einem Anruf überrascht sie mich, als ich bitterlich weine. Sie bitten mich, den Termin noch einmal abzusagen. Sie schöpft Kraft aus einem geheimnisvollen Reservoir. Sie nimmt 4 Kilogramm zu und fühlt sich besser. Ihr Psycho-Onkologe überredet uns in dieser Phase, eine intravenöse Ernährungstherapie in der Döblinger Privatklinik vorzunehmen und dann – wenn sie gestärkt ist – eventuell noch einmal chirurgisch einen künstlichen Darmausgang anzulegen. Dieses Privatspital hat, wie wir hörten, zwar den schlechtesten Ruf. Lucy ist aber bereit, das Risiko einzugehen. Am 26. Nov. wird ihr dort operativ ein Port-o-Cut in die Halsvene implantiert. Dem Chirurgen – der vor der Operation nicht die geringste Ahnung von ihrem Fall hatte – muss ein schwerer Fehler passiert sein. Die Inkompetenz dieser Idioten schreit zur Hölle. Am nächsten Morgen bekommt sie epileptische Anfälle, die nur mit einem schweren Medikament – Lyrica zu kontrollieren sind. Die intravenöse Ernährung enthält lächerliche 600 Kalorien pro Tag. Zuhause nimmt sie 2000 zu sich. Was für ein Witz. Dazu ist sie mit dem Infusionsgestell permanent ans Bett gebunden. Die Blutbefunde und eine am Nachmittag erstellte Magnetresonanz sind schockierend. Die Tumormarker sind explodiert. Ich rette sie noch am gleichen Tag in dem wir aus dieser katastrophalen Klinik flüchten. Sie plant nun endgültig am 12. Dezember 2012 zu sterben. Dignitas verschiebt diesen Termin notgedrungener Weise auf den 13. Es ist Lucys Namenstag, den sie eigentlich noch mit mir feiern wollte. Und sie ersucht den Termin doch noch auf den zwölften zu verlegen. Das ist leider nicht möglich, denn andere Menschen wollen auch sterben. Bereits im Spital hatte sie erstmals etwas Flüssigkeit in den Beinen bekommen. Unser Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Jeder Tag kann einen Darmverschluss bringen. Das Wasser kann in die Lunge kommen und Lucy wäre unrettbar dem System ausgeliefert. Der Sohn enger Freunde – Arzt und auch ein treuer Freund –, der in dieser schweren Zeit auch immer für uns da ist, rät zu täglichen Lymphdrainagen, um das Wasser unter Kontrolle zu halten. Meine Mutter organisiert noch am 8. Dezember 2012 einen Masseur, der jeden Tag bis zur Abreise kommt. 11. Dezember 2012 Die private Ambulanz wartet um Punkt 10 Uhr morgens vor dem Haustor. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was man fühlt, wenn der geliebte Mensch noch einmal schwankend und traurig durch die Wohnung geht und sich von allen vertrauten Dingen verabschiedet. Sie nimmt sich sogar noch einmal Zeit, die Seidenblumen mit einem Duft zu besprühen. Mein zerrissenes Herz lässt mich weinend vor Lucy auf die Knie sinken. In diesem Moment glaube ich, dass ich es nicht schaffe. Doch plötzlich ergreift eine eigenartige – aus der Tiefe meines Ichs kommende Kraft – von mir Besitz und meine Tränen versiegen. Um 12 Uhr hebt unser privater Ambulanz-Jet von Wien-Schwechat ab und wir sind in einer Stunde und 15 Minuten in Zürich. Die Ambulanz der internationalen privaten Rettung bringt uns in das Hotel Baur Au Lac am Züricher See. Wir riegeln uns in einer Zimmerflucht ab und feiern die nächsten zwei Tage und Nächte das zu schnell vergehende Leben. Immer wieder gehen wir durch die Räume, um tief atmen zu können, und ich muss aufpassen, dass mein Schmetterling nicht stürzt. Wir reden bis tief in die Nacht hinein – über die großen Fragen der Existenz und ihrer Zerbrechlichkeit. Viele Male stolpere ich die 27 Schritte alleine durch die Räume. Lucy hat seit dem Verlassen der Klinik am 27. November eigenartiger Weise keine Schmerzen mehr. Auch der Darm funktioniert seit damals. Es ist merkwürdig, wie Lucys Psyche ihren Körper kontrolliert und steuert. In der Nacht vom 11. auf den 12. Dezember 2012 sagt Lucy zum ersten und einzigen Mal: „Baby – Ich habe Angst.“ Sie ist eine überlebensgroße Heldin. Meine Heldin. 12 Dezember 2012: Unser letztes Abendessen. Lucy verschlingt mehrere Lammkottelets und ich ein Steak. Wir tauschen die letzten Bissen Miteinander aus. Auf eine rätselhafte Weise sind wir glücklich. Ich wache in der letzten Nacht bis 3 Uhr früh in ihrem Bett. Dann lege ich mich neben sie, bleibe trotz Schlaftablette wach und betrachte sie im Zwielicht der Lampe bis in den Morgen hinein. Sie liegt eng bei mir. 13. Dezember 2012 morgens Ihr letzter Espresso und ein kleines Croissant. Man hat die Butter vergessen und ich hole aus dem Wohnzimmer die weichen Butterreste vom Gedeck des gestrigen Abends. Lucy streicht diese Butter zitternd auf das Croissant. Sie ärgert sich über ihr Zittern. In diesem Moment möchte ich gemeinsam mit meinem Schmetterling vom Sturm der letzten Lebensmomente weit weggetragen werden und mit in die Ewigkeit fliegen. Lucy – Was haben sie nur mit dir gemacht! Eine blinde Wut erfasst mich plötzlich und übernimmt für Momente mein Ich. Eine finstere und rachsüchtige Person lauert da in den Tiefen meines Bewusstseins. Ich darf ihr nicht nachgeben und muss sie unterdrücken, um schnell wieder klar sehen zu können. Und um jetzt nicht versagen. Das Ambulanz-Fahrzeug wartet Wir treten Lucys letzten Weg an. Sie liegt ruhig in den Sicherheitsgurten und lächelt mich zuversichtlich an. Ich lächle zurück und halte Ihre Hand während der ganzen Fahrt. Sie schließt ihre Augen und strahlt nur mehr Ruhe und Frieden aus. 12:45 Ich liege neben Lucy – meine Wange an ihrem schönen Gesicht und halte ihre verschränkten Hände. Auf Ihren Zügen ist noch immer ein Lächeln. Ich küsse sie unzählige Male und sage ihr, dass ich sie niemals verlassen werde. Lucy hat nun den Frieden gefunden, auf den sie ein uneinschränkbares Recht hatte. Einen Frieden, auf den wir alle ein Recht haben, der aber den meisten von uns rücksichtslos genommen wird. Vor wenigen Tagen habe ich den letzten Eintrag in Lucys lila Terminkalender gelesen: Abreise ins Universum am 14. Dezember Ihr Abflug war einen Tag früher. Ein Tag – Gestohlen aus dem Leben eines zerbrechlichen Menschen. Zart wie ein Schmetterling – mutig wie ein Übermensch. Wir Menschen sind begnadet mit einem Geist, der über alle Wolken steigen kann, hinauf zu den Galaxien, die durch das Universum schweben. Wir können dabei sogar auch einen flüchtigen Blick zurück in die Entstehung der Zeit werfen. Vielleicht wurde Lucy dieser Blick am Ende klar und deutlich gewährt und ihr die Erkenntnis des Seins offenbar. Wir wissen es nicht, weil wir nichts wissen. (Lucy hat sich immer ein wenig beschwert, dass ich nie erwachsen wurde.) Ich bin erwachsener geworden. |
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