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Alt 24.07.2024, 00:33   #1
ralfchen
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Standard Die Pensionistin

Die Pensionistin

Nachdem die Post seit Geraumen an der Börse notiert, „zieht“ man Rationalisierungen im großen Stil durch. Eine Filiale brennt man unter Zuhilfenahme eines wild gewordenen Feuerwerkskörpers gleich mal bis auf die Verglasung nieder. Ich werde mir dessen erst bewusst, als ich gestern eine Paketsendung abholen will und plötzlich vor den Fenstern der Filiale in schwarze Löcher - hinter Bruch-Glas - starre. Das bedeutet, dass ich meiner Faulheit Beine – wenn nicht Räder – verabreichen muss. Eine erzwungene geografische Notlage, die eine Expansion meines Territoriums notwendig macht. Um jene drei Kilometer zum Hauptpostamt am Rochus Markt.

Ich sage Territorium, weil ich das aus den Universum-Sendungen habe. Nur ich markiere nicht. Zu wenig Pisse. Außerdem dürfen meine Desoxy-Ribo-Nukleine nicht an der einen oder anderen Hausecke zu meinen Verrätern werden.

Real gesagt: Es ist mein Jaggebiet. Und da bin ich der Venator inter mortales.

Ich mag diese Bezeichnung; sie gibt meinem - ich betrachte es als künstlerisch - Schaffen eine gewisse romanische, - wenn nicht sogar ein romantische Eleganz. Sie mögen nun fragen: Wo ist die Kunst? Hm – nun der Begriff „Tabula Homicidium post Mortem wird den Nicht-Lateinern unter Ihnen wenig bis nichts sagen. Aber belassen wir es dabei. Erlauben Sie mir, meine Kunst-Taten hier zu entkleiden. Lassen sie nackte worte über sich schauern, damit sie ein wenig erschauern können.

Meine artificii carnalii, wie ich sie nenne, waren bis dato noch in keiner Galerie zu sehen – aber demnächst könnte es soweit sein. Und: ich werde über Nacht ein weltbekannter Künstler sein. Weltbekannt? Welcher Künstler wird das schon über Nacht, werden sie fragen. Wie soll ein dem Rest der Welt Unbekannter, das schaffen? Vor allem nachdem sie bis jetzt rein gar nichts über mich und meine künstlerische Arbeit wissen.

***

Montag 6. Oktober, 11:15 Uhr. Ein dekadenter Herbstvormittag. Laue Winde flatulieren den Duft sterbender Parkstrauchblümchen rundum. Hauptpost am Rochusmarkt. Meine Blicke lauern unter leicht abgesenkten Hautjalousien, von links nach rechts und verharren mittig: Da stand sie, wie üblich an jedem Montag! Reihe zu Kassa drei. Schwarze Lederhandtasche, sorgsam handgekrallt. Kuvertiertes Monetengeflatter noch outside in Postkassa. Linke Hand auf schwarz lackiertem Stützer. Vier ärmelschwenkende Typen stauden vor ihr und drei kopfverdrehen sich unduldig hinter ihr. Dahinter meine Ungünstigkeit.

Wie jeder Künstler lasse ich meine Werke in Phasen entstehen. Mag sein, dass die älteren Leser unter ihnen, nach meinem ouvertürlichen Geworte instinktiv in Erwartung des Kommenden inkontinieren.


Ich liebe ihr weißes Haar! Die blasszarte Blauspülung gibt ihr das Aussehen eines matrimonen Urengels. Himmlisches steht mir seit Langem nahe, ist meine Berufung. Sie ist meine süße Auserkorene, die Begierde meiner Opferung - oder das Opfer meiner Begierde? Verdammt was ist mir? Ich bebe komplett, mein Herz pocht mit 180, als wäre es ein verstörtes, Cyclosporin-A-gestütztes Transplantat.

Natürlich werden Sie nicht gleich den gesamten Inhalt ihrer Vesica Urinaria entleeren, wie das meine Kunstwerke, vor dem Entbleichen gezwungener Massen zu tun pflegen.


Ich bin ein Ur-Ur-Ur-Engelmacher – ja. Zum Unterschied der Engelmacherin konzentriert sich meine Kümmerung auf das Überfällige, das Vor-Vor-Vor-Gestrige.

Das schmale Kuvert in der Handtasche verstaut, wankt sie die Himmelblaue schwarz-stockend, in meine Direktion. Dem nächst dem Tor zum Himmel sitzend Wartenden. Ihr Bewegungsablauf: fast, als wäre sie vom langen Stehen ein wenig betrunken. Wirkt angeheitert. Sie ist auf meiner Höhe angekommen und ich? Erhebe ich mich langsam und strecke meinen nervösen Organismus. Atme einmal tief ein-aus. Das ist gleich besser.

Ich stelle meine außer- und innergewöhnlichen Kunstwerke aus einem eher ungewöhnlichen Material her, wenn ich das so sagen darf. aus toten Menschen. Genauer gesagt: aus toten Frauen.


„Kennen sie mich denn nicht mehr…hallo…Frau Weninger…hallo!“

Sie blickt ein wenig irritiert ringsum, scheint die Stimm-Richtung nicht erkannt zu haben. Tinnitus Problem, vielleicht zu viel Schmalz in den Horchern.

„Hier bin ich Frau Weninger…hier!“

Ich wachle unterstützend mit der Rechten, berühre fast schon ihren großen gekrümmten Riecher, mache die weißen Härchen deutlich aus. Sie blickt mich über den Rand der randlosen Kassenbrille an. Ihre Augen blähen sich erstaunt auf und sie öffnet den Mund zur Frage:

„Wer…wer…?“.

„Ich bin mit dem Toni in die gleiche Klasse gegangen, erinnern sie sich nicht - in die Kundmanngasse…?“.

„Ah so? Ich weiß nicht, bekannt kommen sie mir…nicht…nicht vor. Wie war ihr Name, wie war der?“

Sie hat keine Hand frei, um sie um einen ihrer Horcher zu wölben und ich neige meinen Kopf – meine Hand hab acht am Mundwinkel zu ihr:

„Ich bin der Otto, der Otto Verosta, Frau Weninger!“.

„Verroster? Was ist das für…?“.

„Neeein…nein, Verosta, der Otto, der Otto, Frau Weninger!“

Ihre zitternde Hand krallt sich in meinen Ellenbogen. Ich trage Ihren Stock unter meinem Arm, während ihre Handtasche leicht schwenkt. Ich ziehe ein paar falsche Anekdoten aus dem Lügenvorrat - sie war ohnehin nicht dabei; weiß jetzt, dass ich den Toni als Klassenkameraden tatsächlich gut kannte. Hört mir mehr und mehr kommentarlos zu. Ab und zu ein

„Na so was…was ward ihr nur für Schlingel.“


Ja, aus toten alten Frauen. Witwen, allein stehenden alten Jungfern, alten Damen jeder ursprünglichen Berufsrichtung. Ich bin nicht wählerisch was ihr Lebend-Aussehen betrifft, solange die subsequenten Werke meine Standards erfüllen.



Gesichter kann man nach 30 Jahren kaum mehr der Kindheitsvisage zuordnen, dessen bin ich mir sicher. Toni ist vor einigen Jahren ganz übereilt verstorben, an akuter myeloischer Leukämie. Ein Jammer, das geht verdammt schnell. Die Krankheit ist eine Kannibalin.

Ihre Stimme bebt mit unüberhörbarer Traurigkeit als wir darüber reden. Er war ein guter Sohn, wiederholt sie immer wieder. Wir stehen vor meinem 5er BMW. Wenn sie möchte, bringe ich sie gerne nach Hause. Es sind zwar nur etwa 8 Häuserblöcke, aber ich muss sowieso in den ersten Bezirk, da setzt ich sie gerne ab – vor ihrem Haustor. Sie nickt – abwesend – wie es scheint. Ich öffne die Türe und sie stützt sich dankbar auf meinen Unterarm ab. „Schnapp“, tief in meinem Truncus Cerebri klickt die Menschenfalle zu.



Ich quäle den Bayrischen aus der Parklücke und lächle sie dabei an, sie lächelt zurück.

„Das wär nicht notwendig gewesen Herr Otto…die paar Meter zu Fuß…“.

„Kein Problem Frau Weninger, freu mich sehr, wenn ich noch ein wenig mit ihnen plaudern kann, dieser Zufall, die Mutter vom Toni…so was!“

Die letzten Worte sage ich mehr zu mir selbst.

So, jetzt ist es raus. Hatte fast versiegelte Hemmungen, mit dieser Sache an die Öffentlichkeit – vor allem in so einem Forum mit unzähligen Lesern - zu gehen. Denn meine Präsentation wird eine Vernissage der Finissagen werden und die Wände des irdischen Tabu Humani sprengen. Sozusagen eine Wasserstoffbombe, verübter und angewandter Kunst.


Sie sieht kaum über das Armaturenbrett hinweg, bemerkt aber doch, dass ich an ihrem Haus vorbeifahre.

„Herr Otto, sie sind ja vorbeigefahren…was…?“.

„Ich habe was zu Hause vergessen, das sind drei Minuten und ich bring sie dann zurück…drei Minuten…ich hüpfe nur schnell aus dem Auto.“.

Sie bemerkt natürlich nicht, dass ich die zentrale Verriegelung aktiviert habe. Sie blickt gespannt aus dem Seitenfenster. Wir sind schnell über der Schlachthaugasse, (wie sinnig) und ich fahre gemächlich die Erdbergstrasse, vorbei an dem riesigen Areal von Denzel entlang und die Kurve rechts, am Fernheizwerk vorbei. Sie wirft einen sekundenlangen fragenden Seitenblick auf mich und richtet ihren Kopf wieder gerade. Das Garagentor ist bereits offen, da die Fernsteuerung eine Reichweite von wesentlich mehr als 50 Metern hat.

Heute auf den Tag genau, sind es sechs Jahre seit der Schöpfung meines ersten Kunstwerkes. Mein Zyklus Tabula Homicidium post Mortem umfasst bis Dato insgesamt 65 Werke. Tatsächlich sind es Hauptwerke mit jeweils sechs untergeordneten Studien. Heute werde ich das Werk Nummer 66 beginnen.


Das Garagentor rumpelt nach unten, ich entriegle und winde mich flott aus dem Auto.

„Eine Minute Frau Weninger, bin gleich zurück.“.

Sie bleibt bewegungslos wortlos. Ich schließe per Funk. Ich liebe die kleinen technischen Unterstützer großer Taten. Sie renkt ihren Kopf, um mir nachzusehen. Jetzt schnell die Spritze und dann: ende des ersten Aktes. Ich bin sozusagen auf Zehntausend, meine Augäpfel scheinen Blut zu spritzen. Ich hyperventiliere fast, sperre zitternd die Türe zur Waschküche auf. Die Spritze liegt bereit, in einer kleinen Glasschüssel im ersten Fach im offenen Regalverbau, über dem Trockner. Ich nehme sie in die rechte Hand und schlendere – jetzt völlig ruhig – zurück in die Garage.

Je nachdem, wie lange ich mich mit einem Werk beschäftige, kann es bis zum Preliminarium der künstlerischen Arbeit, mehrere Tage dauern. Danach folgt die Absolution zur Imagerie _ zum Hauptwerk..


Sie hat das Fenster herunter gelassen; was weiß ich wieso, und blickt mir mit seitlich geneigtem Kopf entgegen. Die Brille ist auf ihre Nasenspitze gewandert. Kommt es mir nur vor, oder funkeln ihre Augen? Ich beuge mich zur ihr herab, lege meine Linke auf den Rand der Autotüre, meine rechte Hand bleibt hinter meinem Rücken. In diesem Moment überlege ich, wie chancenlos meine Opfer immer waren. Mein Sechsundsechzigstes ebenso wie alle anderen. Ich inhaliere einmal tief und hole meine Rechte langsam, zum einschläfernden Stoß hinter dem Rücken hervor.

Manche Objets le Art freveln mich mit einem außergewöhnlichen Sterbe-Widerstand an. Die Zähigkeit mit der sie sich gegen das Verbleichen wehren, ist nicht selten amüsant und ich genieße dies für einige Tage länger, indem ich sie zu meinen Objets le Plaisir mache.


Ich bin ein wenig erstaunt, weil mich ein kurzer scharfer Schmerz am Hals irritiert und ablenkt. Das Zwei-Minutenlicht der Garage ist einen Moment davor, vom schummrigen Zwielicht des fensterlosen Garagenraumes, abgelöst worden.

Frau Weninger blickt mich über den Rand ihrer randlosen Brille an. Sie hält dabei das Ende ihres Spazierstocks mit beiden Händen fest. Ich nehme gerade noch wahr, wie im schwarzen Gummistoppel etwas Glänzendes verschwindet. Das, verbunden mit einem leisen klickenden Geräusch. Und ihr Grinsen.

Mit Stolz würde ich für die Leser gerne die Laden, mit meinen säuberlich neben einander platzierten fremdartig wirkenden, chirurgischen Instrumenten öffnen. Ein chromblitzendes Sammel-Surium aus dentalen, orthopädischen und anderen Zangen- und Schnippselbehelfen, das da - eingebettet in grünem Filz – der geschickten Anwendung meiner routinierten Hände entgegenlüstert.

Mann - ich gehe schnell in die Knie, halte mich an der Fensteröffnung des Autos fest. Frau Weningers´ Lächeln erhascht mich starr und wirkt wie das einer eiskalten Steinfigur. Sie fixiert mich und ich bilde mir ein sie nickt vor sich hin. Bunte Räder drehen sich wie in einer Jahrmarktbude vor meinen Augen. Eine unbeschreibliche Übelkeit ergreift von meinem ganzen Ich Besitz.

Niemand würde mir glauben, welch kreativen Beitrag ausgehungerte Katzen, zu meiner ambitionierten künstlerischen Arbeit erbringen können.


Jetzt liege ich auf dem Boden, versuche mich zu bewegen. Nichts geht mehr. Rien ne va plus. Mein Spiel scheint hier am Ende angelangt zu sein. Ich spüre nur mehr meine Kehle, Schleim dringt durch die Speiseröhre hoch, der bittere Geschmack der anteiligen Magensäure brennt scharf, fast chemisch in meinem Mund.

Ich habe hier in meiner schlichten Waschküche - zu ebener Erde, so etwas wie einen Circus Felineum eingerichtet. Besser gesagt, ich unterhalte einen solchen, bestehend aus sechs, von mir immer hungrig gelassenen Kätzchen.

Frau Weninger ist aus dem Wagen gestiegen. Ich nehme wahr, wie sie sich, mit einem Knie auf den Boden, den Stock mit der linken Hand in der Mitte gefasst, zu mir herunter bemüht und in die Brusttasche meiner Jacke greift. Sie hält meine aufgeklappte Brieftasche vor ihr Gesicht und blickt mich mit einem leichten Kopfschütteln an:

„Sie sind ja gar nicht der Otto…na so was, lügt er mich an der böse Bub…!“

Epilog

In diesen letzten Sekunden meines Seins tritt das ein, was ich schon des Öfteren gehört habe: Man erlebt noch mal sein gesamtes Leben. Hätte nicht gedacht, dass der eigene Tod das größte Geschenk ist.

Frau Weningers´ hallendes Kichern verabschiedet mich ins schwarze Loch.

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