05.02.2015, 21:39 | #1 |
Wortgespielin
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Der Wurm
Ein winziger Regentropfen beim Spaziergang durch den Park neben dem Südfriedhof erinnerte mich daran, dass ich den Schirm vergessen hatte.
Nun, ich glaube nicht an Vorbestimmungen oder Fügungen um mich einer höheren Ordnung ergeben zu müssen. Ich brauche mir auch keine Sinnhaftigkeit zurechtzubasteln, um glücklich zu sein. Erschreckend, wie sich der Glücks- und Schicksalswahn überall in dieser Welt ausgebreitet hat, um von unserem Denken Besitz zu ergreifen. Tiefe Fahrrinnen durch Friedhofsfahrzeuge hatten nach langanhaltenden Regenfällen auf den Wegen kleine Seen entstehen lassen. Um einigermaßen trocken zu bleiben, musste man an ihnen vorsichtig vorbeistaksen. Von Natur aus bin ich sehr tierlieb. Sollte ich ihn retten, diesen langen Regenwurm in der großen Pfütze? Manchmal muss man einfach Verrücktes wagen. Und schon bewegte sich mein Leben auf Pfaden, von denen ich keine Ahnung hatte. Nur die Verrückten verändern die Welt, und wenn es die Rettung eines unterirdischen Tieres ist. Der Wurm hinterließ in mir zumindest ein Gefühl, dass unsere Wege sich nicht zufällig getroffen hatten. Meine Gedanken hatten sich mit ihm zu beschäftigen, das konnte ich deutlich spüren. Vor meinen Augen kringelte sich meine Bestimmung. Für diesen Moment, an diesem Ort war ich nunmal eindeutig für diesen Regenwurm zuständig. Da Regenwürmer normalerweise Erdbewohner sind, und weniger typisch für die Besiedelung einer Pfütze, ging ich von einer lebensgefährlichen Situation für das Tier aus. Der Wurm zeichnete eine Acht und zog langsam in Form einer Möbiusschleife, durch das Wasser. Ich wollte zwischenzeitlich nur noch schnell den Schirm aus dem Cafe holen, um gleich zu dieser Stelle zurückzukehren und den Wurm zu befreien. ,,Halte durch mein lieber Wurm, ich helfe dir gleich!" Eine Fliege oder Wespe hätte ich natürlich nicht gerettet. Eine Biene schon eher, alleine wegen dem unerklärlichen Bienensterben. Das Überleben der Menschheit hängt schließlich von der Bestäubung der Blüten ab. Der Regenwurm ist ein ähnlicher Nützling. Für den Bestand der Erde sind beide jedenfalls wichtiger als der Mensch. Mein Erzieherherz riet mir, den sich bemühenden Wurm zunächst wohlwollend zu begleiten. Ich nahm Kontakt auf. Durch eurhythmisch aufmunternde Fußwipper am Pfützenrand kräuselten sich die Wellen sanft über das Wasser. ,, Halte durch mein Kleiner, du schaffst das selbst!" Zumindest ein beachtliches Tauchprogramm schien er bereits hinter sich gebracht zu haben. Von weitem sah es so aus, als ob er sich gerade ein behagliches Bad genehmigte. Nüchtern betrachtet: wie lächerlich war meine Rettungsaktion wirklich? Wie hätte ich das meinem Arbeitskollegen Rüdiger Schmitz erklärt, der um diese Uhrzeit oft vorbeikommt? Und das vielleicht genau zu dem Zeitpunkt, an dem ich mich gerade auf Steine im Wasser gestellt hätte, um mit einen Stöckchen den Wurm heraus zu fischen. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. ,,Die Achtsamkeit dem Leben gegenüber, fängt im Kleinen an" hörte ich mich schon leise vor ihm rechtfertigen,... ,,Und diese Achtsamkeit soll dann bei großen und wirklich wichtigen Dingen plötzlich aufhören?" hätte Schmitz den Satz höhnisch zu beenden gewusst. Womit er bei mir leider vollkommen ins Schwarze getroffen hätte. Bei den großen Dingen fühlte ich mich tatsächlich nicht zur Rettung der Menschheit berufen, das war nicht mehr meine Baustelle. Meine Aufgabe und mein Denken beschränkte sich nunmal auf Kleinsttiere. Das war mein täglicher Horizont. Um mein Gesicht zu wahren entschloss ich mich daher vorsätzlich, die notwendige Hilfeleistung zu unterlassen. Und wenn mich jemand darauf angesprochen hätte, hätte ich zur Rechtfertigung souverän mit einem kleinen Vortrag gekontert: ,, Warum , lieber Freund, sollte ich denn gerade diesen Wurm retten? Wissen Sie überhaupt, dass solch ein Eingriff in die Natur nicht ganz unproblematisch ist. Er ist strenggenommen überhaupt nicht in ihr vorgesehen. Im Grunde wäre das ein völlig unnatürliches Verhalten. Das ist nur kleinen Kindern im Sandkasten vorbehalten sowie den Hindus in Indien. Wir schießen ja auch keine Bussarde ab, um Mäuse zu retten. Und wenn die Natur einen Regenwurm ertrinken lässt, dann hat die sich bestimmt etwas dabei gedacht, das ist schließlich kein Zufall oder bloße Laune der Natur. Sie lässt die stärksten und gesündesten überleben, und wir meinen ihr immer ins Handwerk pfuschen zu müssen indem wir sie korrigieren, wie kleine Oberlehrer, die sich enorm wichtig fühlen wollen. Typisch Mensch. Wir haben jahrelang den Wald aufgeräumt, bis wir endlich dieses empfindliche Ökosystem völlig zerstört hatten. Die Ordnung sollten wir gefälligst der Natur überlassen, die kann soetwas viel besser." Und der Fragende wäre von meiner klugen Antwort sprachlos gewesen und mächtig beeindruckt weitergegangen. Nein, ich hatte nicht vor, mich von meinen infantilen Regenwurm-Rettungsgefühlen leiten zu lassen. Keine Rettungsaktion für diesen Tag, ich trug immerhin einen sehr teuren Anzug. Obwohl Regenwürmer andererseits zuständig für unsere Zersetzung im Boden sind. Sollten wir nicht werden wie die Kinder, um ganz spontan und intuitiv genau das richtige für diese Welt zu tun? Sollten wir uns nicht von den wahrhaften Gefühlen lenken und leiten lassen, anstatt immer der Ratio den Vortritt zu lassen? Und doch wollte ich nicht mehr zu dieser Pfütze zurückgehen. Rüdiger Schmitz ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Oho, sprach da nicht gerade in Wirklichkeit die pure Feigheit aus mir heraus? Jawohl, es war in Wirklichkeit die Feigheit. Mir wäre es nämlich nur peinlich gewesen, in dieser Pfütze herum zu stehen und dabei erwischt zu werden. ,, Entschuldigen Sie, kann ich Ihnen helfen?" sah ich schon vor meinem inneren Auge Rüdiger Schmitz mich ansprechen. Doch hätte dieser damit natürlich nur meinen offensichtlich fragwürdigen Geisteszustand abfragen wollen. Vielleicht wäre ich danach wohlmöglich einem passionierten Angler begegnet. So jemand kann bei diesen Wurmrettungsaktionen nur mit Mitleid und kopfschüttelndem Unverständnis reagieren: ,, Schauen Sie nur!" würde dieser spötteln ,, da ist auch noch eine Schmeißfliege, die auf Ihr großes, unerschrockenes, ritterliches Retterherz gewartet hat. Ich darf dann solange Ihren Wurm halten, während sie die Welt der Kleintiere retten. Ich mach den Zappelwurm gleich mal hier an meiner Angel fest, damit er nicht wieder ausbüchst, und solche dummen Ausflüge unternimmt, sooo, sehen Sie, fertig!" Mein Helfersyndrom wäre leicht durchschaubar und schamlos ausnutzbar gewesen. Ok, ich litt immer noch an diesem Syndrom. Damit hatte ich mich schließlich durch mein ganzes Beziehungsleben hindurchgewunden und ich war immer wieder daran gescheitert, wie meine Therapeuten übrigens auch. Dieser kleine Wurm spiegelte in diesem Moment mein eigenes, verdrehtes Innenleben wieder. Ich musste also ganz einfach an diese Pfütze zurück, wie der Täter an seinen Tatort. Das konnte ich drehen und wenden, wie ich wollte. Die eigentlichen Beweggründe sollten mir noch verborgen bleiben. Lächerlich, warum fühlte ich mich für diesen Wurm verantwortlich? Nein nein, lieber Freund, mir ging es bei allem nicht wirklich um diesen Wurm oder um das ökologische Gleichgewicht in der Natur oder sonst was, mir ging es ausschließlich um die Erfüllung meines Selbstbildnisses als Gutmensch. Erwischt! Da wollte jemand in mir immer noch auf Liebkind machen, um wie ein stöckchenholender Hund seiner Liebe hinterher zu hecheln.,,Brav, gut gemacht. So ist fein, ganz fein hast du das gemacht, du bist ein wirklich guter, guter Mensch!" Ich sah die fette Überschrift schon vor mir : Spektakuläre selbstlose Wurmrettung im Park! Der Bundespräsident verleiht das große Verdienstkreuz für außergewöhnliche Zivilcourage! Und schon sah ich den Wurm sich noch immer in der Pfütze winden. Ich hatte wohl einen größeren Umweg gemacht und gründlich über das Leben nachgedacht. ,,Gewissen siegt eben doch!- Nein, ich stehe nur zu mir!", gab ich mir unumwunden zurück. Mit Stock in der Hand stand ich schon mitten in der Pfütze. Wackelig auf zwei größeren Steinen. Die empfindlichen Wildlederschuhe und beide Hosenbeine hatten bereits ordentlich Wasser gezogen. Das war mir in diesem Moment aber egal. Der Wurm schien nicht ernsthaft an seiner Rettung interessiert zu sein. Mittlerweile war der Untergrund aufgewühlt, und ich war es auch. Was machte ich hier? Eine Gruppe Jogger trabte heran, und jemand meinte grinsend mich auf das Angelverbot ansprechen zu müssen. Das Lachen der Gruppe galoppierte weiter, und verstummte in der Ferne. Natürlich kam dann auch noch Rüdiger Schmitz. Wir ignorierten uns höflich. Nein, ich wollte mich nicht beirren lassen. Die Welt braucht Mut und Menschen wie mich, die bereit sind, gegen den Strom der Zeit zu schwimmen. Die eigentliche Tiefe des schlammigen Untergrundes war leider von außen nicht zwingend erkennbar, jedenfalls rutschte ich ab, und ich blieb mit meinem rechten Schuh im Schlick stecken. Reflexartig zog ich meinen Fuß aus dem Schuh, der sich nicht mehr bewegen ließ. Ich stützte mich auf den morschen Stock. Dieser knickte ab und meinem Sturz stand nichts mehr im Wege. Wen sollte ich im Nachhinein für jene zerbrochene Bierflasche verantwortlich machen. Das Handgelenk blutete. Ich tippte spontan auf eine Verletzung der Schlagader, denn eine oberflächliche Vene hätte nicht diese enorme Kraft einer Fontäne gehabt. Sofort war meine Brille beschlagen, und ich spürte deutlich die untrügerischen Zeichen von weichen Knien. Mit letztem Griff verlor ich zunächst meine Brille und dann noch mein Bewusstsein. Ausgerechnet jetzt kam keiner mehr vorbei , und um mich herum wurde es dauerhaft dunkel. Rüdiger Schmitz, warum bist du nicht zurückgekommen? Manchmal fällt mir schon die Schädeldecke auf den Kopf. Aber meistens ist es spannend. Jede Gehirnwindung krümmt sich vor mir wie ein Wurm durch vergangene Zeiten. Ich kann sie alle lesen, ich verstehe sie sogar. Aber das Größte ist, ich kann sie auch verdauen, denn ich bin ja selbst längst ein Regenwurm. Vor mir liegen rührende und merkwürdige Geschichten von Unfällen, von wilden Wurm- Rettungsaktionen, von Zweifeln und Gewissheiten und von den ganz großen Gefühlen. Im Grunde lebe ich wie in einer riesigen Bibliothek. Hier auf dem Südfriedhof erforsche ich das Vergangene. Unter jeder Schädeldecke lauern verborgene, geheime und geschützte Lebensgeschichten. Jeder nimmt sie mit ins Grab. Habe mich zu einem wahren Bücherwurm entwickelt. Ich fresse und verarbeite alles, was mir hier runter kommt. Das Leben ist ein großartiger Lehrmeister, und die Natur hat sich bestimmt bei allem ihren Teil gedacht. Mir ist danach, heute etwas total Verrücktes zu machen. Ich werde in einer großen Pfütze baden.... Geändert von AAAAAZ (22.02.2015 um 03:47 Uhr) |
21.02.2015, 21:51 | #2 | ||
Slawische Seele
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Hallo AAAAAZ,
Zitat:
Dem "Versteher" hast du eigentlich keine Geschichte erzählt, aber ihn mit einem Nachdenken überflutet, das es fast überfordert. Rüdiger Schmitz ist überall präsent und er ist jemand, der das (mein/dein) Sein bestimmt. Zitat:
Evtl. einzig darum, dort wo wir sind? Mich berührt und fasziniert deine Geschichte. Sie bleibt ohne "Schlaumeierei" eine, ohne eine Größe zu bestimmen. Liebe Grüße aus der Pfütze, Dana
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Ich kann meine Träume nicht fristlos entlassen,
ich schulde ihnen noch mein Leben. (Frederike Frei) |
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23.02.2015, 02:52 | #3 |
Wortgespielin
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Hi Dana,
Danke dür dein nettes Feedback. Ja, der Rüdiger,was muss der sich denn wieder überall reinhängen?! LG AZ |
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