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Finstere Nacht Trauer und Düsteres

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Alt 07.08.2015, 12:22   #1
Erich Kykal
TENEBRAE
 
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Standard Wiener Vorstadtromantik

Abgelebte Hausfassaden, blass und staubig, schmutzigbraun,
und dahinter die Gesichter sind recht ähnlich anzuschaun.
Aus den feuchten Innenhöfen wächst der Schimmel in die Luft,
ernste Kinder husten hölzern, bleich wie Tote aus der Gruft.

Vater will viel Zeit verbringen mit dem hübschen Töchterlein,
Mutter säuft sich ins Vergessen, lässt ihn mit dem Kind allein.
In der Wohnung gegenüber stellt man laut das Radio an,
schlägt sich blutig, wirft mit Möbeln, zetert schrill und vögelt dann.

Längst zum Abriss freigegeben, modert der Gemeindebau
vor sich hin. Die darin leben, sind wie die Tapeten grau,
die sich von den Wänden schälen, und im morschen Fensterstock
hängen welk die letzten Träume - und ein nasser Unterrock.
__________________
Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen.
Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen!
Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind.
Dummheit und Demut befreunden sich selten.

Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt.
Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit.
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Alt 07.08.2015, 13:58   #2
Bodo Neumann
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Beiträge: 351
Standard

Hallo Erich,

spontan gesagt: Es macht richtig Spaß, etwas von dir zu lesen, das kein Sonett werden musste. Die Abwechslung tut dir gut.

Das Bild, das du zeichnest ist extrem düster. Nach S1 dachte ich zunächst, es würde das Wien zu Beginn der Industrialisierung beschrieben.

Als Touri kennt man die Stadt natürlich von anderen Seiten, aber warum soll es diese Ecken nicht auch geben...

Nicht mit allen Bildern gehe ich konform. Am authentischsten erscheint mir S2. Auch die desolaten baulichen Verhältnisse mögen so sein, aber bei den Menschen machst du es dir (mit dem Scheren über einen Kamm) meiner Meinung nach zu einfach. Armut und Bildungsferne bedeutet (heute) nicht mehr automatisch, dass die Kinder ernst und bleich sind, die Menschen grau und eintönig. Sicher sind eine Menge Menschen desillusioniert (dann aber eher Erwachsene), dennoch gibt es eine eigene (Sub)kultur, die Farbe in ihren Alltag bringt.

Gut, die Frage ist, ob man das alles in drei Strophen unterbringen will, wenn es um "Düsteres" geht. Mir ist auch klar, dass man etwas dicker auftragen muss, eine gewisse Atmosphäre zu erzeugen. Oder siehst du's anders?

Insgesamt ein Stück, das mich (vor allem durch deinen Stilwechsel) zum Kommentieren angeregt hat. Gern gelesen!

lg Bodo
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Alt 07.08.2015, 15:26   #3
Erich Kykal
TENEBRAE
 
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Hi, Bodo!

Hab mir in letzter Zeit wieder mal all die Folgen von "Kottan ermittelt" angeschaut, einer zynisch-satirischen österreichischen Krimiserie aus den Achtzigerjahren (Absoluter Kult!).
Abgesehen vom abseitigen Humor, den schrägen Charakterstudien der Wiener Halb- und Unterwelt und dem typischen "Wiener Schmäh" zeichnet sich diese Serie auch durch die authentischen heruntergekommenen Schauplätze aus, die das alte, unsanierte und vergammelte Wien in all seiner Schrecklichkeit zeigen! Das hat mich zu diesen Zeilen inspiriert.

Es gibt übrigens selbst heute noch Ecken in Wien, die so ausschauen, vor allem in den Vorstädten, den "billigen" Bezirken, wo die "Proleten" wohnen und wohin sich nie ein Tourist verirrt.
Neben den modernen, lieblosen und sterilen Wohnsilos aus Beton gibt es da immer noch die Häuserzeilen mit den Fassaden aus dem späten 19. Jahrhundert, wo es Klo und Wasserhahn nur im Treppenhaus gibt - je einmal für 2 Parteien! Warum? Weil die marode Substanz unter Denkmalschutz steht!
Aber du hast recht: Die von mir beschriebene Szene passt eher in die Vergangenheit, von Anfang des 20. Jhdts bis ca. Nachkriegszeit in die späten Sechziger.
Deinen Vorwurf der Pauschalisierung und Einseitigkeit hast du praktischerweise gleich selbst relativiert: Um eine bestimmte Stimmung zu erzeugen, muss man eben "ins Volle" greifen! Klar - die Masse müht sich brav und bleibt angepasst, aber wer je die echte Wiener Schnauze erlebt hat, der weiß erst so richtig, was mit Begriffen wie Derbheit, Kultur- und Bildungsferne oder Gehässigkeit gemeint ist!

Außerdem erhebe ich keinen Anspruch auf Authentizität.

LG, eKy


Hier noch eine anders strukturierte Version für die Feinde langzeiliger Werke:

Abgelebte Hausfassaden,
blass und staubig, schmutzigbraun,
und dahinter die Gesichter
sind recht ähnlich anzuschaun.
Aus den feuchten Innenhöfen
wächst der Schimmel in die Luft,
ernste Kinder husten hölzern,
bleich wie Tote aus der Gruft.

Vater will viel Zeit verbringen
mit dem hübschen Töchterlein,
Mutter säuft sich ins Vergessen,
lässt ihn mit dem Kind allein.
In der Wohnung gegenüber
stellt man laut das Radio an,
schlägt sich blutig, wirft mit Möbeln,
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und im morschen Fensterstock
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- und ein nasser Unterrock.
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Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt.
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Geändert von Erich Kykal (22.11.2015 um 01:39 Uhr)
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Alt 10.08.2015, 15:23   #4
juli
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Beiträge: n/a
Standard Hi eky,

Du beschreibst hier eine Großstadtszenerie der Armen. Ich finde die Bilder düster aber nicht übertrieben. Ich kenne solche Lebensbeschreibungen und finde dein Gedicht authentisch. Es sind Schicksale, die nicht auf der Sonnenseite des lebends stehen.

Deine langen Zeilen, und mal kein Sonett, haben mich noch neugieriger gemacht. Und ich bin belohnt worden. Es gefällt mir ausgesprochen gut, und es liest sich auch gut. Die Kurzversion, die du unten geschrieben hast, hat auch was für sich.

Sehr gerne gelesen und kommentiert .

Liebe Grüße sy
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Alt 10.08.2015, 17:02   #5
Erich Kykal
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Hi, Sy!

Vielen Dank für das freundliche Echo!

Das Ambiente mag heute vielfach moderner sein, aber die Szenen an sich sind wohl dieselben geblieben in den von dir angesprochenen Kreisen.
Man kann übrigens durchaus arm und zugleich moralisch und integer sein. Wenn allerdings Bildungsferne, menschliche Unreife und Kaltherzigkeit dazukommen, dann geschehen eben solche Schicksale - immer noch und wahrscheinlich noch sehr lange!

LG, eKy
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Alt 11.08.2015, 12:29   #6
Stachel
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Ich mag das Gedicht. Ich kann es fluffig lesen. Schön: Die Bilder öffnen sich teilweise erst im Folgevers vollständig (z.B. S2V1). Sie wirken auf mich durchgehend stimmig, wenn auch klischeehaft.
Das ist jedoch nicht negativ, denn Bilder ohne Klischees müssen stärker erklärt werden, was viel mehr Länge erfordert. Du nutzt sie hier bewusst als Stilmittel, was imA vollkommen okay ist.

Apropos Länge: Die Langverse sagen mir mehr zu. Die kürzeren Strophen finde ich einladender zum Lesen.

Etwas verwirrt hat mich der "Stilbruch" durch Verssprung in S3. Hat der einen besonderen Grund? Ich weiß, du liebst dieses Stilmittel, aber hier drängt es sich für mich nicht auf.

Freundliche Grüße,
Stachel
Stachel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.08.2015, 14:08   #7
Erich Kykal
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Hi, Stachel!

Meinst du mit "Verssprung" den fließenden Übergang von Z1 nach Z2? In diesem Falle gibt es keinen besonderen Grund dafür, am ehesten, dass ich die Zeile auf eine bestimmte Heberzahl trimmen musste und zugleich die Aussage von Z1 metrisch folgerichtig zu beenden hatte, was mir eben auf diese Weise plausibel erschien.

Vielen Dank für das positive Echo!

LG, eKy
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Alt 11.08.2015, 16:44   #8
Stachel
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Zitat:
Zitat von Erich Kykal Beitrag anzeigen
Hi, Stachel!

Meinst du mit "Verssprung" den fließenden Übergang von Z1 nach Z2? In diesem Falle gibt es keinen besonderen Grund dafür, am ehesten, dass ich die Zeile auf eine bestimmte Heberzahl trimmen musste und zugleich die Aussage von Z1 metrisch folgerichtig zu beenden hatte, was mir eben auf diese Weise plausibel erschien.

Vielen Dank für das positive Echo!

LG, eKy
Da sprichst du ein interessantes Problem an. Das Wort "Vers-" oder auch "Zeilensprung" gefällt mir nicht sehr gut. Ich finde "Satz-", "Vers-"oder "Zeilenüberlauf" besser, denn genau wie du sagst, ergibt sich ein fließender Übergang und kein Sprung. Das französische Wort "Enjambement" sagt mir allerdings auch nicht zu, denn ich verschlucke mich schon beim Lesen daran. Außerdem finde ich deutsche Fachbegriffe besser, vor allem, wenn sie sich sinnfällig ergeben.

Ich meinte genau die von dir beschriebene Stelle. Sie sticht hier heraus, weil der Rest des Gedichts anders aufgebaut ist. Hier besteht kein offensichtlicher Bedarf an einer Beschleunigung, Streckung oder Betonung. Das "vor sich hin" erscheint entbehrlich für Z1, bekommt aber durch den Versüberlauf mehr Gewicht und "Drive".

Aber ich verliere schon wieder viel zu viele Worte für eine reine Geschmackssache.

An so einer Gelegenheit, lyrische Grundkonzepte und -begriffe zu kritisieren, kann ich natürlich nicht vorbei gehen. Das wusstest du, stimmts?

Freundliche Grüße von
Stachel
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Alt 14.08.2015, 09:30   #9
Erich Kykal
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Hi, Stachel!

Es lag einfach daran, dass sich das, was ich aussagen wollte, nicht in einer Zeile ausging, weiter nichts. An Beschleunigung, Streckung oder Betonung hatte ich dabei keinen Gedanken. Ich mag es aber, wenn sich die Sprache weich schmiegt ...

Vielen Dank für deine profunden Gedanken!

LG, eKy
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Alt 16.08.2015, 18:01   #10
Falderwald
Lyrische Emotion
 
Benutzerbild von Falderwald
 
Registriert seit: 07.02.2009
Ort: Inselstadt Ratzeburg
Beiträge: 9.908
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Servus Erich,

ich kann das sehr gut nachvollziehen und die Bilder erzeugen in mir ein Déjà-vu.
Als kleiner Taxiunternehmer war ich viele Jahre lang bei Tag und Nacht und Wind und Wetter in meiner Stadt unterwegs.
Ich kannte jeden Hinterhof, jede Ampelschaltung und fast jedes Schlagloch und genau so, wie du es beschrieben hast, habe auch ich das empfunden.
Das betrifft sowohl die Fassaden, als auch die Menschen und ihre Situationen dahinter.
Auch davon habe ich viel gesehen, meist ungewollt, aber die Umstände haben es oft mit sich gebracht, es ließ sich nicht vermeiden.
In dieser Zeit habe ich viel über das Leben gelernt, diese Erfahrungen möchte ich auch nicht missen.
Überall, wo es Glanz und Gloria gibt, existieren auch die weniger schönen Flecken, auch wenn sie nicht gerne gezeigt werden.
Aber so ist das Leben und der Titel bekommt dadurch auch eine berechtigt zynische Bedeutung.

In diesem Sinne hat mir der Text sehr gut gefallen, denn auch alle Romantik besitzt ihre Kehrseite und ist es berechtigterweise wert, lyrisch verarbeitet zu werden.
Ich mag diese Schattenseiten.

Übrigens habe ich mir kürzlich auch eine DVD-Box mit „Kottan ermittelt“ zugelegt.
Ich kannte ihn noch aus meiner Jugendzeit, allerdings nur einige Folgen mit Lukas Resetarits, dessen Darstellung ich sehr mochte.
Die ersten beiden Folgen „Hartlgasse 16a“ und „Der Geburtstag“ mit Peter Vogel habe ich jetzt gesehen und war noch nicht so begeistert, schauen wir mal, wie es mit Franz Buchrieser läuft.
Ab Folge sechs kommt ja dann Resetarits zum Zuge.
Ich freue mich schon drauf... („Inspektor gibt’s kan“)

Aber auch in den bereits erwähnten beiden Folgen finde ich Parallelen zu deinem Text.


Gern gelesen und kommentiert...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald


__________________


Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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