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Alt 04.01.2013, 13:00   #1
HermannW
Neuer Eiland-Dichter
 
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Beitrag Die Frage des Fremden

Die Frage des Fremden



Ich fand ihn in der Von-Braunwitz-Allee. Es war ein trister Tag, feucht, kalt und regnerisch. Ich hatte das Haus trotzdem für einen Spaziergang verlassen, weil ich es mochte dem Regen dabei zuzusehen, wie er den ohnehin schon übergrünten Park mit weiterem Grün versah. Ich lief oft hier entlang, und war es daher gewohnt auf meinen Runden, die ich auf dem zirkelförmig, um Grünfläche und Teich angelegten Zierweg zu drehen pflegte, andere Spaziergänger, die ebenfalls die Freiheit, die Nähe zur Natur und den Ausblick im Park suchten, zu treffen und freundlich zu grüßen. Ich pflegte mir die Gesichter einzuprägen, und mir Gedanken über das Leben und Handeln der zugehörigen Menschen, außerhalb ihres Wandelns im Park zu machen. So ersann ich meist während des Laufens verschiedenste mögliche Lebensläufe für die anderen Parkbesucher. Am heutigen Morgen jedoch, war ich fast allein in der graugrünen Anlage, einzig ein Mann mittleren Alters, mit rotem Haar, schwarzem Filzhut und wettergegerbtem Gesicht saß mit dem Rücken zum Teich hin regungslos auf einer steinernen Bank am Rande der Grünfläche und betrachtete die Flur und den Regen.
Wie ich an ihm vorüber Schritt hatte ich das bedrängende Gefühl, dass er etwas zu sagen hatte, dass ihn etwas beschäftigte, und dass ich mich zu ihm setzen müsse um seinem Mitteilungsdrang statt zu geben. Doch ich widerstand diesem seltsamen Drang und lief an ihm vorüber. Und während ich so die nächste Runde um Teich und Grünfläche antrat, trieb ich mein übliches Spiel und ersann verschiedene mögliche Curricula für den wildartigen Fremden. Von welcher Herkunft mochte er stammen? War er ein Reisender? Hierfür spräche der Hut, und das wettergegerbte Gesicht sowie das im Gesamten fremdartige Aussehen; Oder war er gar einer der Magistraten, die die fernen Kolonien des Reiches in Asien und Afrika gesehen hatte? In jedem Falle musste er ein Mann von Welt sein, belesen, bereist und erfahren in verschiedensten Dingen, das hatte sein Blick verraten. Was mochte ihn hierher in die Hauptstadt geführt haben? Hatte er Berichte und Reporte zu geben? Oder hatte er Familie, die es zu besuchen galt? Seinem Äußeren nach war dies nicht der Fall. Möglicher Weise war er auch Soldat, geprägt von der furchtbaren Erbarmungslosigkeit des Stellungskrieges, und zur körperlichen und geistigen Regeneration für begrenzte Zeit in der Heimat. Es war mir, wohl auch der Unkenntnis seiner Person wegen nicht möglich diese Fragen mit Bestimmtheit zu klären. Was ich jedoch mit Bestimmtheit zu sagen vermochte war, dass ihm etwas fehlte.
Denn er wirkte wie ein Verlorener, wie ein Suchender, der, von Fragen verfolgt, doch von deren Antworten verlassen, dieselben suchend ähnlich einer Odyssee umherirren musste, bis er gefunden hatte, wonach sich sein Wesen sehnte. Ihm fehlte eine wesentliche Erkenntnis zur Zufriedenheit. Sicher war es nichts Immanentes, oder Profanes, denn damit wäre er sicher, ob seiner Lebens- und Reiseerfahrung fertig geworden. Während ich meine Gedanken in die verschiedensten Richtungen weitersponn, bemerkte ich, dass ich gerade dabei war eine weitere Runde auf dem Zierweg zu vollenden, und ich mich jetzt zu entscheiden hatte, ob ich diesmal dem merkwürdigen Drang nachgeben, und mich zu dem Fremden setzen würde, oder ob ich ihm das Ohr verschließen und den Weg der Feigheit gehen würde.
Letzterer, der Weg der Feigheit, kam für mich nicht in Frage, und so hatte ich mich zu ihm gesetzt, und schweigend gewartet, bis er beginnen würde. Ich hatte mich nicht getäuscht, es dauerte nicht lange. Seine Stimme war warm und brüchig. „Sehen sie den Regen?“, fragte er, „Wie er so aus dem Nichts auf uns hinab fällt? Tausende Tropfen, ein jeder anders als sein Zwilling und keiner gleicht dem nächsten. Was ist ihre Herkunft? Was ist ihr Weg? Jeder Tropfen kann eine andere Geschichte erzählen, jeder Tropfen birgt ein anderes Geheimnis. Jeder Tropfen ist anders. Und doch sehen wir, wenn wir so auf sie blicken, nicht die Schönheit der einzelnen Tropfen, sonder nur kalten Regen.“
Ich schwieg, und betrachtete diesen Regen, wie er lautlos fiel, leise aufschlug, um sich dann zu kleinen rauschenden Bächen zu türmen. Der Fremde hatte recht. Beobachtete, redete oder dachte man an den Regen, sah man nur seine Gesamtheit als grauen Vorhang, redete über seine feuchte lebensspendende Wirkung, und dachte, vielleicht wenn man einen gewissen Grad Bildung besaß an seinen Ursprung. Doch kein Blick, kein Wort und kein Gedanke, galt den einzelnen unterschiedlichen Tropfen.
„Ist das nicht tragisch“, unterbrach der Fremde mich in meinen Gedanken, „dass all die einzigartige Schönheit, all der Unterschied, all die Individualität einfach unbemerkt bleibt, dass all diese schillernde Diversität einfach in der Masse untergeht? Wieso nehmen wir sie nicht wahr? Wir sprechen vom Wasser, und meinen damit Flüsse, Bäche, Seen und den Regen. Wir sprechen vom Regen und meinen damit die Tropfen. Aber wir sprechen nicht explizit von den Tropfen. Sind sie es nicht wert? Oder sind wir nur einfach nicht fähig ihre Zahl und Vielfalt zu erfassen?“
Die letzten beiden Fragen waren es vor allem gewesen, die mich hatten stutzen lassen. Sind sie es nicht wert? Nein. Sicher ist jeder einzelne es wert wahrgenommen und als einzelner verstanden zu werden. Oder sind wir dazu nicht fähig? Wahrscheinlich. Oder wir wollen es einfach nicht. Es fällt leichter zu Verallgemeinern, zu Typisieren, es fällt leichter grob die Substanz der Tatsache zu streifen und die ausdruckslose Gesamtheit zu benennen, anstatt die Substanz ganz zu erfassen, und zu erkennen, dass die Masse, mehr ist als nur eine stereotype Pfütze, oder ein Bassin voll vom selben eintönigen Brei.
„Was meinen Sie“, fragte er mich nun das erste Mal direkt, „wäre es sinnvoll die Tropfen einzeln zu nennen, sie zu unterscheiden, ihnen unterschiedliche Attribute zuzuschreiben, und nicht mehr vom Regen, als triste Typisierung grauen Niederschlags zu sprechen? Oder halten sie das für unmöglich?“




Ich musste antworten. Doch was? War es denn sinnvoll die Tropfen einzeln aufzuzählen, und sich so zu zwingen, ihren Facettenreichtum, ihre Andersartigkeit und ihre Pluralität anzuerkennen? Man konnte doch nicht beim kleinsten Schauer, jeden Tropfen einzeln zählen und benennen um das Dogma der Divergenz zu erfüllen. Es war zweckmäßig einfacher beim Anblick dieser unzähligen Tropfen von dem zu sprechen, was sie waren: trister grauer Regen.
„Wissen Sie“, beantwortete der Fremde seine Frage doch selbst, und half mir damit gewisser Maßen aus der Bredouille, da ich keine passende Antwort auf diese Problematik zu geben wusste. „Wissen Sie, ich glaube, dass es egal ist ob wir sie einzeln benennen, einzeln betrachten und ihre Differenzen hervorheben. Ich glaube was zählt ist, dass wir wissen, dass jeder anders ist, und die Unterschiede zwischen ihnen existieren.“
Ja. Das war es. Beim Betrachten des Ganzen an die Glieder zu denken aus denen das Ganze besteht, und sich zu erinnern, dass es ohne diese einzelnen, verschiedenen Glieder nie ein Ganzes gäbe. So konnte man ihnen am besten gerecht werden.
„Und manchmal“, fügte er an, „manchmal sehen wir ja doch einen einzelnen Tropfen, dann ist es als ziehe dieser eine Tropfen unseren Blick und all unsere Aufmerksamkeit auf sich. Wir beobachten seinen Fall, seinen Aufschlag, seinen Fluss und konzentrieren uns für die wenigen Augenblicke seines Falls nur auf ihn. Doch die Frage ist, wieso gerade dieser eine aus der unzählbaren Menge aller Tropfen heraussticht, was ihn so über die anderen seiner Art hebt, dass wir genötigt sind uns ihm, für die kurze Zeit seines Daseins mit aller Geisteskraft zu widmen. Warum dieser Eine, und nicht sein nächster?“
Wieder beeindruckte mich seine Rede, und wieder betrachtete ich den Regen, verfolgte einzelne Tropfen, und dachte dabei nach. Warum stach der eine hervor, während der andere unentdeckt, seinem Tode entgegenflog? War es wirklich Schicksal oder Vorsehung, dass wir uns gerade diesen einen Tropfen ansahen? Vielleicht schon. Vielleicht lag es aber auch an gerade diesem einen Tropfen, der sich selbst, durch seine besondere Eleganz und Vollkommenheit aus der Masse hervorhob, so den Blick des Betrachters band, den Beobachter faszinierte, und fesselte. Vielleicht lag es aber genauso an den Übrigen, die nicht in der Lage waren sich durch Alleinstellung und Präsentation ihres eigenen Charakters aus dem trüben Schauer der Vielen hervorzuheben. Es lag wohl an beidem.





„Ich denke“, sprach der Fremde, da seine Fragen ein weiteres Mal unbeantwortet verhallt waren, „ich denke, der Tropfen ist erst dann in seinem Wesen vollständig, wenn er betrachtet wird. Wenn sein Flug verfolgt und analysiert wird, wenn er Beobachter und Bewerter hat, die jede Sekunde seines Lebens mit Freude und Aufmerksamkeit verfolgen, und ihn nach seinem unausweichlichen Tode im Geiste festhalten. Nur solche Tropfen, die aus der Masse hervorstechen und Spuren hinterlassen, sind in ihrem Wesen vollkommen.“
Ich schwieg.
„Und die wahre Frage die ich mir stelle“, fuhr er jetzt ganz leise, und mit totalem Ernst, fort, „ Die wahre und einzige Frage, die ich mir stelle, ist: Wie kann ich sicher sein, ein solcher, vollkommener, von Blicken verfolgter Tropfen gewesen zu sein?“
Nach diesen Worten schwieg auch der Fremde. Wir betrachteten gemeinsam, als stumme Zeugen, steinerne Statuen, der Bank gleich auf der wir saßen, den Regen. Als die graue Himmelsdecke riss und die Sonne durch die Wolkenschicht blickte, erhob sich der Fremde und wanderte wortlos seinem ungewissen Schicksal entgegen.
Heute, wo ich verstanden habe was ihn bewegte, hätte ihm gerne gesagt, dass er ein solcher, von Blicken verfolgter, spurenhinterlassender Tropfen war. Ich hätte ihm gerne die Zufriedenheit gereicht, die er verdiente. Doch ich traf den Mann nie wieder.
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