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02.02.2010, 11:00 | #1 |
Lyrische Emotion
Registriert seit: 07.02.2009
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Beiträge: 9.912
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Der alte Herr Riemer
Der alte Herr Riemer
Herr Riemer schaute in seinen betagten Spiegel: „Du bist alt geworden, mein Lieber.“ Der Spiegel jedoch blieb stumm, wie er es stets tat. „Du bist so schrecklich unbestechlich, habe ich dich nicht immer wie einen guten Freund behandelt?“, sagte Herr Riemer und schnitt eine Grimasse. So ehrlich, wie nur ein guter Freund sein konnte, zeigte der Spiegel ihm sein wahres Gesicht; und die Fältchen um die Augen waren zu Furchen geworden, die grauen Stellen im Bart breiteten sich unaufhaltsam aus, das Haar wurde lichter… „Schau mich nicht so an!“, raunzte er seinem Gegenüber zu, „du tust, als wüßtest du alles. Nichts weißt du, gar nichts!“ Zwei wässrige blaue Augen starrten ihm entgegen. Vorwurfsvoll, traurig über schlaffen Tränensäcken klagten sie ihn an. „Was du immer nur hast, mach es doch besser“, höhnte Herr Riemer, „ach du kannst es nicht? Was kannst du denn überhaupt? Du bist doch dort drin gefangen.“ Traurig reckte sich ihm eine geschwollene Nase entgegen, deren dunkelblaue, verzweigte Äderchen sich wie kleine Bäche durch eine zerklüftete Landschaft, die mit harten schwarzen Bartstoppeln bewaldet war, zogen. „Du bist nicht ich, sag es mir. Sag es mir einmal nur, sprich mit mir!“, seine Worte schluchzten aus ihm heraus und er sah, wie zwei dicke Tränen über die groben Poren seiner Wangen liefen und im struppigen Dickicht seines Bartes versickerten. „Ich habe doch nur dich, dich ganz allein. Rede mit mir, ohne dich könnte ich diese elende Einsamkeit nicht ertragen. Rede, rede, sag etwas…!“ Doch der Spiegel blieb stumm, wie er es stets tat, wie er nie etwas anderes getan hatte. Herr Riemer ballte seine Faust und hieb mitten hinein, sodaß das Glas zerbarst und mit einem häßlichen Geräusch in tausend kleine Splitter zerfiel. Seine blutende Hand ignorierend legte er sich auf sein Bett, den Blick auf den blinden, zerbrochenen Spiegel gerichtet, starr, gefühllos, kalt, endgültig… . . .
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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine) Für alle meine Texte gilt: © Falderwald --> --> --> --> --> Wichtig: Tipps zur Software Geändert von Falderwald (04.02.2010 um 09:07 Uhr) Grund: Aufgrund Leseranregung |
03.02.2010, 10:43 | #2 |
ADäquat
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Beiträge: 13.004
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Guten Morgen Faldi,
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03.02.2010, 11:07 | #3 | ||||||
Erfahrener Eiland-Dichter
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Beiträge: 151
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Hallo Falderwald,
sehr lyrisch, bildhaft hast du den alten Herrn Riemer gezeigt, ich konnte mich in ihn und seine Situation gut einfuehlen und mit ihm fuehlen. Kleine, teilweise subjektive Anmerkungen: Zitat:
Du koenntest "und sprach" auch streichen. Zitat:
Zitat:
Zitat:
Zitat:
Zitat:
Gerne gelesen. Gruss Pedro
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>Die Kritiker nehmen eine Kartoffel, schneiden sie zurecht, bis sie die Form einer Birne hat, dann beißen sie hinein und sagen: „Schmeckt gar nicht wie Birne.“< (Max Frisch) |
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04.02.2010, 09:07 | #4 |
Lyrische Emotion
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Beiträge: 9.912
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Moin Chavali,
ja, das ist ja heutzutage leider das Schicksal von vielen alten Menschen. Wir werden zwar, statistisch gesehen, immer älter, die Sorgen des Alters werden jedoch dadurch nicht geringer und viele der Senioren vereinsamen. Das und die dadurch entstehenden Probleme wollte ich am Beispiel des alten Herrn Riemers einmal aufzeigen. Das Ende kommt zwar ungeachtet all dessen sowieso eines Tages, doch viele alte Leutchen verlieren ihren Lebensmut, obwohl dies physisch noch gar nicht sein müsste. Traurig aber leider nur allzu war... Hallo Pedro, du hast Recht. Das "und sprach" kann man einfach weglassen. Die wörtliche Rede ist ja direkt angefügt und impliziert dem Leser ja schon, daß sich Herr Riemer äußert. Also streiche ich es. Mit der Anklage der Augen verhält es sich so, daß Herr Riemer ja dem Spiegel eigentlch die Vorwürfe macht. Und so wie er schaut, starrt es ihm ja aus dem Spiegel entgegen. Wenn er nun einen anklagenden Blick aufgesetzt hat, wird ihm dieser auch reflektiert. Ich weiß nicht, steckt in dieser Überlegung ein Logikfehler? Der Schlussatz sollte eigentlich ausdrücken, daß sich Herr Riemer zum Sterben hinlegt. Deswegen verwendete ich das Wörtchen "endgültig". Eigentlich sind alle Adjektive, auch das gefühllos, auf seinen Blick bezogen. Er hat schließlich seinen "letzten Kumpel", den Spiegel, (z)erschlagen. Wenn das nicht richtig rüberkommt, bitte ich um Hilfe, wie man dies besser ausdrücken könnte... Ich bedanke mich bei euch fürs Lesen und die Auseinandersetzung mit diesem Text... Liebe Grüße Bis bald Falderwald
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04.02.2010, 10:11 | #5 | ||
Erfahrener Eiland-Dichter
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Hallo Falderwald,
Zitat:
Zitat:
Vielleicht sollte er im Bad ein paat Tabletten nehmen? Alles subjektiv, der Text ist gut so, wie er da steht. Gruss Pedro
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>Die Kritiker nehmen eine Kartoffel, schneiden sie zurecht, bis sie die Form einer Birne hat, dann beißen sie hinein und sagen: „Schmeckt gar nicht wie Birne.“< (Max Frisch) |
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06.02.2010, 04:17 | #6 |
Lyrische Emotion
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Beiträge: 9.912
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Hallo Pedro,
freut mich, daß du noch mal zurückgekommen bist. Ich bin bestrebt zu lernen und verbessere daher auch gerne, wenn ich überzeugt werde. Du hast immer noch ein Problem mit dem endgültig, weil du meinst, das funktioniert nicht mit dem Hinlegen und Sterben. Letztendlich bleibt es am Ende ja auch offen, ob Herr Riemer dabei stirbt. Aber er hat es für sich so beschlossen. Und da ist auch noch eine zweite Ebene vorhanden, aus der man dies betrachten könnte: Einer ist ja schon gestorben. Das stumme Gegenüber in diesem Spiegel. Es wird nie wieder auftauchen, denn dieser Spiegel ist zerschlagen, endgültig. Meinst du wirklich, daß jetzt Schlaftabletten oder eine andere Todesart für Herrn Riemer hier in Frage kämen? Ich würde das Ende lieber offener gestalten. Was meinst du? Liebe Grüße bis bald Falderwald
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06.02.2010, 12:57 | #7 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Ja, vielleicht ist es doch besser, den Text so stehen zu lassen. Ein offenes Ende ist nicht schlecht.
Gruß Pedro
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06.02.2010, 13:37 | #8 |
Erfahrener Eiland-Dichter
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Beiträge: 4.893
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hallo falderwald,
das zwiegespräch, das herr riemer da mit seinem spiegelbild führt, lässt tief in seine seele blicken. ist schon schlimm, wenn man nur noch sich selbst als ansprechpartner hat. andererseits: man könnte auch lernen, sich zu mögen - auch in seiner unbedeutsamkeit. anders ist es vielleicht mit der betrachtung des eigenen verfalls. da entscheiden doch manche, nicht alle stadien bis zum schluss mitverfolgen zu wollen. sie zerbrechen den spiegel , so - oder so. ein düsteres altersszenario hast du da gezeichnet, düster, aber nachvollziehbar. es ist gar nicht so einfach , in diesen spiegel zu sehen...... beeindruckt, larin |
09.02.2010, 20:54 | #9 |
Lyrische Emotion
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Hallo Pedro,
in Ordnung. Die ganze Story ist ja auch nur eine Momentbetrachtung im Leben des Herrn Riemers. Zwar sollte zwischen den Zeilen mehr transportiert werden, aber es ist und bleibt nur eine kurze Sequenz... Liebe larin, tja, manche können dies und manche können dies nicht. Viele alte Menschen scheinen mir aber zu verbittern, denn sie fühlen sich abgeschoben. Und das Problem ist ja, je älter du wirst, desto mehr Menschen siehst du von dir gehen. Die anderen werden auch älter und leben ihr eigenes Leben, was bleibt da für die Alten manchmal übrig? Der Blick in diesen Spiegel ist nicht immer einfach, denn dort siehst du dein ganzes Leben. Ein düsteres Alterszenario, ja, aber gar nicht so selten und direkt um die Ecke, leider. Machen wir das Beste draus... Vielen Dank für eure Rückmeldungen... Liebe Grüße Bis bald Falderwald
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