Ein Welt-Vagant

Unterm Brückenbogen pennt
still ein alter Streuner.
„TUI“ nennt ihn, wer ihn „kennt“,
kennen tut ihn keiner.

Wenn er seinen Leinensack
öffnet, zieht er gerne
Karten raus, ein ganzes Pack,
Ansichten der Ferne.

Tut gern so, als sei er dort
überall gewesen,
hat auch über jeden Ort
scheinbar was gelesen.

Redet von dem fernen Land,
aber ziemlich vage.
Hat er‘s nicht vielleicht gekannt?
Ist es doch nur Sage?

Jedenfalls spielt er mit Lust
diesen Alt-Vaganten,
mit der Sehnsucht in der Brust
eines Weltgewandten.

Gleicht so eigentlich ganz klar
mir, dem Verse-Schreiner.
Träume werden durch uns wahr,
seiner gleich wie meiner.

[Bodo Neumann]

Hallo Wolo,

das gefällt mir. Nicht nur die kleine Geschichte an sich, sondern auch die Verknüpfung des Pseudo-, oder besser Traumvaganten mit der danach benannten Gedichtform (wie ich gerade in verschiedenen Beiträgen lerne), und dann noch der Brückenschlag zum Schreiberling - seines Zeichens ebenfalls Möchtegernauskenner in allen Lebenslagen. Irgendwie hatte ich ab S4 auch auf eine Conclusio in dieser Richtung gehofft (den Dichter hatte ich dabei noch nicht im Kopf) und bin nicht enttäuscht worden.

Neben der letzten Strophe ist mein persönlicher Favorit S1, wahrscheinlich wegen des geschickten Chiasmus in V3V4 und der deutlichen Charakterisierung des LI mit ganz wenigen Worten. Auf die Anführungszeichen (kennt) hättest du locker verzichten können - sie wirken fast ein wenig überdeutlich, was meiner Meinung nach gar nicht nötig ist.

Gruß Bodo

hallo bodo neumann

ich wünschte, mir wären noch so ein paar tricks wie der chiasmus in s1 in die feder geflossen. aber zum glück hast du noch ein paar andere amüsements gefunden.

das "überdeutliche" der anführungszeichen empfinde ich nicht als wirklich fehl am platz in dieser versform und in einem "didaktischen" gedicht.

danke für dein feedback!
gute nacht
wolo