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Denkerklause Philosophisches und Nachdenkliches

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Alt 27.12.2011, 20:11   #1
wüstenvogel
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Standard Versteinerte Worte - Versuch über Teile der modernen Lyrik

Viel zu oft
mühsames Orientieren
in Wort-Stein-Brüchen
häufig in Gefahr
sich zu verlieren
in nichtssagenden Begriffen
die nichts mehr be-greifen
berühren
beschreiben
nur noch als steinerne Worte
durch die Zeilen treiben.

Steinblumengewächshäuser
eingemauerte
abgeschottete
unerreichbare Geschichten
viel zu schnell verwelkt
ohne je geblüht zu haben.

Bedeutet "dichten" heute
so lange zu ver-dicht-en
bis alle Worte
nach außen
und nach innen
abge-dicht-et
er-starr-t
ver-fest-igt sind
zu Blumen aus Stein
ohne jede Beziehung
zum lebendigen Sein?

Oder soll Dichtung
auch
noch immer
anregen
bewegen
anrühren
ergreifen
Brücken schlagen
Gedanken
Gefühle
Eindrücke
Stimmungen ausdrücken
den Menschen
die Natur
das Leben
in den Mittelpunkt rücken?

Geändert von wüstenvogel (28.12.2011 um 13:40 Uhr)
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Alt 28.12.2011, 08:47   #2
fee
asphaltwaldwesen
 
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Standard

was hängst du
am greifbaren
vor deiner nase
so fest
freund?

findest halt nur
im konkreten
steigst nie
in dir noch neue
unvertraute
gewässer

lauern dir dort
keine andern dinge
am grund
als die bekannten

kiesel
sie zu sammeln
manche glänzen
funkeln
liegen weich in der hand

und bergen ihre eigne
schönheit

unpolierten bruch
der in die sohlen sticht
gibt es
überall

anders nur an
der oberfläche
im wesen
stets gleich


Zitat:
Zitat von wüstenvogel Beitrag anzeigen
Oder soll Dichtung
auch
noch immer
anregen
bewegen
anrühren
ergreifen
Brücken schlagen
Gedanken
Gefühle
Eindrücke
Stimmungen ausdrücken
den Menschen
die Natur
das Leben
in den Mittelpunkt rücken?

hallo, wüstenvogel,


für mich tut das die von dir in den strophen davor beschriebene dichtung auch. ich vergleiche das gerne mit der malerei.

die einen bevorzugen bilder, die ihren inhalt offen darlegen, auf denen sofort erkennbar ist, welchen inhalt sie darbieten. meist die naturalistischen darstellungen in gefälligen, harmonischen farben und dezentem farbauftrag, der in den hintergrund tritt.

die anderen mögen auch bilder, deren aussage erst in einem "dialog" mit dem betrachter und im kontext mit der aktuellen epoche erschließbar wird. die deuten dann an, geben gedankenimpulse und haben eine ganz andere art der ästhetik als die der akademisch gemalten bildwerke.

abstraktion - das ist das thema. verdichtung ist nichts anderes. jedes bildwerk/jedes gedicht ist abstraktion - also abbildung einer realität/der natur.
und je nach abstraktionsgrad wird an der oberfläche mehr oder weniger darstellung oder aussage ablesbar sein. und dann muss man eintauchen. nicht, wie bei den melodiösen, figürlich, naturalistisch gemalten bildern/gedichten in das "wie ist es gemacht?", sondern in das "was stößt es in mir an?" (das "wie ist es gemacht" kann man natürlich bei den abstrakteren bildern/gedichten auch analysieren und benennen - doch es gibt eben keine so konkreten anhaltspunkte wie werke, die festen formvorgaben und -regeln folgen. dazu bedarf es dann schon viel erfahrung im umgang mit kunst/literatur und einer breiten wissensbasis, auf die man zugreifen kann. selbstredend meine ich hier nicht schnell-hingeschusterte zeitgenössische lyrik/malerei selbsternannter eben-mal-so-aus-der-launer-heraus-künstler).

die lesart und der zugang (und somit die erwartungshaltungen) sind da jedenfalls gänzlich unterschiedlich.

sie zu vergleichen und gegeneinander aufzurechnen macht also wenig sinn.


lieber gruß,

fee

Geändert von fee (28.12.2011 um 09:27 Uhr)
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Alt 28.12.2011, 11:09   #3
Stimme der Zeit
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Hallo, wüstenvogel,

ich verstehe, was du mit deinen Versen sagen möchtest. Und ich verstehe, was fee mit ihrem Kommentar sagen möchte. Es ist sehr schwierig, fast unmöglich, die Frage: Was ist Kunst? zu beantworten.

Zitat:
Zitat von wüstenvogel:
Viel zu oft
mühsames Orientieren
in Wort-Stein-Brüchen
häufig in Gefahr
sich zu verlieren
in nichtssagenden Begriffen
die nichts mehr be-greifen
berühren
beschreiben
nur noch als steinerne Worte
durch die Zeilen treiben.
Kunst liegt im Auge des Betrachters - so lautet ein geflügeltes Wort. Das ist auch ein wahres Wort. Wir definieren das verschieden, was nur natürlich ist, denn es ist, wie ich auch schon an anderer Stelle schrieb - "Geschmackssache". Allerdings (auch das ist nur meine persönliche Ansicht) denke ich, dass hier stärker differenziert werden sollte. Ich kann nicht für andere sprechen, nur meine Sicht der Dinge darstellen. Was versteht also Stimme der Zeit unter Kunst?

Kunst kommt von Können, nicht von Wollen, sonst hieße sie Wunst. Ich verstehe unter dem Begriff "Kunsthandwerk" vielleicht etwas anderes als "üblich". Kunst + Handwerk. Ich bin sicher, dass es viele Menschen mit einem Talent, einer Begabung für das Künstlerische gibt. Nun macht aber ein Talent allein - so denke ich - noch keinen Künstler. Handwerk allein ebenfalls nicht. (Und, es gibt auch Menschen, die für die von ihnen gewählte Kunstrichtung gar kein Talent haben, aber trotzdem darauf bestehen; das ist ein weites Feld.) Ich beispielsweise male grottenschlecht, mir fehlt jedes Talent dafür, denn es mangelt mir an "Gefühl" für Farben, am "Gespür" für optische Umsetzung von etwas Vorgestelltem und ich habe, trotz Versuchen, noch nie eine Perspektive "richtig hinbekommen" - daher lasse ich es auch. Ich habe auch versucht, zu lernen (ein Kurs), aber ich kann das, was ich mir vorstelle, gestalterisch nicht "umsetzen", diese Fähigkeit besitze ich ganz einfach nicht. Was ich damit sagen will: Ich könnte sicher das reine "Malhandwerk" lernen - aber wäre trotzdem nicht in der Lage, zu malen.

Andersherum. Was ist ein Talent, ohne das "handwerkliche Können"? Stellen wir uns vor, Goethe wäre auf einem Bauernhof aufgewachsen, ohne je lesen oder schreiben gelernt zu haben. Sein Talent wäre "brachliegendes Land" gewesen. Und, nicht zu vergessen: Um ein Werk wie "Faust" zu schreiben, erfordert es noch weit mehr "Können" - durch ein "Wissen", das Lesen und Schreiben alleine auch nicht ermöglicht hätten. Auch ein Kunstmaler (ganz neutral, völlig ohne Wertung) muss wissen, wo bei einem Pinsel "vorne und hinten" ist, ganz drastisch ausgedrückt.

Ein Talent ohne Können oder Können ohne Talent - das funktioniert einfach nicht. Erst, wenn beides zusammenkommt, entsteht Kunst. Und ich kann auch Kunst in Werken sehen, die mir überhaupt nicht gefallen oder die ich überhaupt nicht "verstehe". Ein Beispiel: Wenn ich Tomaten auf eine Leinwand werfe, ist das keine Kunst. Dafür brauche ich kein Talent, nur Hände und Arme; und außerdem ist das etwas, das schlicht jeder kann, der ebenfalls Hände und Arme hat. Für mich ist Kunst etwas, das eben nicht jeder kann.

Das gilt selbstverständlich für mich auch für das Schreiben von Gedichten. Was mir (ganz persönlich!) beim Lesen oft "zu schaffen macht" (und mich auch wütend machen kann), das ist die Tatsache, dass ich manches Mal in den von mir bereits erwähnten "Tagebucheinträgen" schöne, lyrische Formulierungen finde; Stellen, die "poetisch" sind - und der/die Betreffende hat "null Bock", das "Handwerk" zu lernen. Ein Talent, das "vergeudet" ist. Andersherum gibt es reine "Handwerker", die - ohne jede Poesie, ohne lyrisches "Empfinden" - Werke schreiben, die metrisch fehlerlos sind, aber "leer", nur "Form", kein "Inhalt". Letztere schreiben und schreiben und schreiben (manchmal buchstäblich täglich ein Machwerk), seit Jahren, aber es "entwickelt" sich nichts weiter - es fehlt das Talent. (Da gilt: Eins wie das andere - hat man eines gelesen, hat man alle gelesen.) Daher auch meine Meinung: Kunst ist immer "beides", es kann gar nicht anders sein. Das Talent benötigt (erlerntes, geübtes) Können - und das Können benötigt ein Talent. (Ganz neutral, ohne einen "Größenmaßstab" anzulegen, nur als reines "Prinzip".)

Zitat:
Bedeutet "dichten" heute
so lange zu ver-dicht-en
bis alle Worte
nach außen
und nach innen
abge-dicht-et
er-starr-t
ver-fest-igt sind
zu Blumen aus Stein
ohne jede Beziehung
zum lebendigen Sein?
Was du hier beschreibst, ist (meines Erachtens nach) ein Können ohne Talent. Kunst macht es möglich, dass "Blumen aus Stein" lebendig werden. Es braucht den "lebendigen Funken", der aus einer Schreib- oder Maltechnik Kunst macht. Ich kommentierte mal vor einiger Zeit ein Gedicht (ja, ein Gedicht ), dessen Inhalt mir überhaupt nicht "zusagte", weder die Aussage noch die Wortwahl - aber es war ein Gedicht, denn es "lebte" und zeigte sehr viel Können. Das schrieb ich auch - ein sehr gutes, gelungenes Gedicht. Obwohl es mir wirklich nicht gefiel - das ändert nichts daran. Dass es nicht "mein Geschmack" ist, ist ja nur "meine Sache" und hat mit der Tatsache, dass es ein sehr gutes, talentiert und gekonnt geschriebenes Gedicht ist, nichts zu tun.

Zitat:
Oder soll Dichtung
auch
noch immer
anregen
bewegen
anrühren
ergreifen
Brücken schlagen
Gedanken
Gefühle
Eindrücke
Stimmungen ausdrücken
den Menschen
die Natur
das Leben
in den Mittelpunkt rücken?
Das ist das, was ich mit "lieblos hingeklatscht" meine. Es gibt Texte, die mir nichts sagen und mich nicht berühren - ich würde sie durchaus als "leblos" bezeichnen. Selbst wenn darin noch so viele "starke" Worte stehen.

Ich liebe dich, weil
Liebe
so
toll
ist.

Und wenn du mich auch
liebst,
dann
freut
mich das.

(Das habe ich gerade schnell selbst geschrieben.)

Hier gibt es 2x Liebe, 1x liebst, 1x toll und 1x freut. Das "weckt" in mir aber keinerlei "Empfindung" - es ist nur ein "lebloser" Text, es sind nur Worte. Für mich die per SMS übermittelte Erklärung eines Jungen an ein Mädchen, das er gerne zur Freundin hätte. Und es wird "danebengehen", weil er nicht schreibt, dass er das Mädchen toll findet und "Strophe" 2 so enthusiastisch klingt wie ein "Mhm, jaja." ... Und ich bezweifle, dass er sich Mühe gegeben oder sich Gedanken gemacht hat, was er schreibt - der "erfundene Junge" schreibt, dass er die "Liebe toll findet" - also, wenn ich das Mädchen wäre - ()

Als "Dritte" kann ich nur meine eigene Ansicht mit einbringen, ohne Anspruch auf deren "Gültigkeit", denn jeder kann und darf alles ganz anders sehen. Und, wenn auch nicht in allen Punkten gleichermaßen, stimme ich sowohl dir als auch fee zu.

Gerne gelesen und kommentiert.

Liebe Grüße

Stimme
__________________
.

Im Forum findet sich in unserer "Eiland-Bibliothek" jetzt ein "Virtueller Schiller-Salon" mit einer Einladung zur "Offenen Tafel".

Dieser Salon entstammt einer Idee von unserem Forenmitglied Thomas, der sich über jeden Beitrag sehr freuen würde.



Geändert von Stimme der Zeit (28.12.2011 um 11:20 Uhr) Grund: Kleine Ergänzung.
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Alt 28.12.2011, 14:28   #4
wüstenvogel
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Standard Versteinerte Worte: Versuch über moderne Lyrik

Hallo fee, hallo Stimme

Ich habe mit der Wahl meines Titels einen Fehler gemacht.
Er muss lauten: Versteinerte Worte - Versuch über Teile der modernen Lyrik.

Natürlich habe ich nicht die ganze moderne Lyrik gemeint (zu der ich meine "Werke" auch zählen würde), sondern "nur" einen Teil davon.
Was ist überhaupt "moderne Lyrik", wann (mit wem) fängt sie an?
Darf oder kann sie Reime verwenden, muss sie Reime meiden (wie der Teufel das Weihwasser)?
Ich halte das alles für ziemlich unwichtig.

Sicher muss Dichtung nicht immer nur Konkretes, Greifbares, Bekanntes thematisieren, das wäre auf Dauer höchst langweilig.

Übrigens, auch ich mag Steine sehr. Wir fahren jedes Jahr an die Ostsee und immer finde ich schöne Steine am Strand.

Dieses Kritik-Gedicht ist mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch entstanden.
Es kommt selten vor, dass ich mit einem Gedicht gar nichts anfangen kann -
aber in diesem "Jahrbuch der Lyrik 2011" habe ich für mich fast nur harte, kantige, unverdauliche Sprach-Brocken gefunden - Wortschöpfungen, Wortgebilde, die (für mich) sinnlos aneinandergereiht wurden - und ich musste meine Betroffenheit, mein Unverständnis rauslassen - in einer Art
Gedicht.
Es gibt wunderschöne, moderne Werke der Dichtkunst (in diesem und in anderen Foren, in aktuellen Gedichtbänden), denen man anmerkt, dass sie "mit Herzblut" geschrieben sind. Es betrübt mich halt jedes Mal, wenn Sprache dazu benutzt wird, (unnötige) Barrieren zwischen Menschen aufzubauen.

Deinem Kunstbegriff, Stimme, kann ich zustimmen. Auch das schöne Gestalten von Steinen ist Kunst. Aber warum müssen Worte erst zu Steinen
werden, bevor man sie bearbeitet? Warum kann man nicht versuchen, mit ihnen zu arbeiten, wenn sie noch so viele andere Ausdrucksmöglichkeiten haben?

Auf jeden Fall vielen Dank für eure ausführlichen Bemerkungen.

Liebe Grüße

wüstenvogel

Geändert von wüstenvogel (31.12.2011 um 17:24 Uhr)
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Alt 28.12.2011, 15:18   #5
Stimme der Zeit
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Hallo, wüstenvogel,

wenn du möchtest, ändere ich den Titel gerne deinem Wunsch entsprechend, sag mir einfach hier oder per PN Bescheid.

Liebe Grüße

Stimme/Mod


-------------------------------------------------------------------------

Edit:

Schon und gern geschehen.

Liebe Grüße

Stimme/Mod
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Geändert von Stimme der Zeit (28.12.2011 um 16:03 Uhr)
Stimme der Zeit ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.12.2011, 17:30   #6
Thomas
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Hallo Wüstenvogel,

Das Gedicht entstand,
es entstand aus Wut;
was die Wut tut,
tut aus dem Bauch,
wird nur ein Gauch:
Fuß fehlt, Hand
fehlt und Verstand
auch.

Doch
bewahre die Glut,
bis daraus Gedanken
auf Schwingen sich heben,
in selbstgewählten Schranken,
Wesen schaffen, die jenseits der Täler leben.

Das ist mir beim Lesen deines Kommentars gerade eingefallen. Es ist weder moderne noch unmoderne Lyrik, einfach nur so ein Wort-Klecks von jemandem, der aufgehört hat, mit Wut oder sonstigen Schmerzen in Bauch zu schreiben.

Viele Grüße
Thomas
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Alt 31.12.2011, 17:34   #7
wüstenvogel
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Standard Versteinerte Worte - Versuch über Teile der modernen Lyrik

Hallo Thomas,

ich denke, Wut kann durchaus Ansporn zu einem Gedicht sein.
Natürlich darf man nicht (zu) persönlich werden.
Warum sollte nicht ein Gefühl zu einem Gedicht anregen?
Viele Gedichte versuchen, Gefühle zu beschreiben, auszudrücken.
Hesse hat einmal (sinngemäß) gesagt:
"Von nichts anderem leben wir als von unseren armen, herrlichen Gefühlen,
und jedes, dem wir Unrecht tun, ist ein Stern, den wir auslöschen."

Liebe Grüße

wüstenvogel
wüstenvogel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 31.12.2011, 17:43   #8
Thomas
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Hallo Wüstenvogel,

gegen den 'Ansporn' sage ich ja gar nichts. Lies doch die zweite Strophe auch und nimm nicht alles zu persönlich. Es war nicht böse gemeint. Hesse hat auch recht mit dem was er sagt. Ich habe nicht gesagt, dass man Gefühle unterdrücken soll, sondern... siehe zweite Strophe!

Viele Grüße
Thomas
Thomas ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.01.2012, 17:07   #9
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Zitat:
Zitat von wüstenvogel Beitrag anzeigen

Dieses Kritik-Gedicht ist mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch entstanden.
Es kommt selten vor, dass ich mit einem Gedicht gar nichts anfangen kann -
aber in diesem "Jahrbuch der Lyrik 2011" habe ich für mich fast nur harte, kantige, unverdauliche Sprach-Brocken gefunden - Wortschöpfungen, Wortgebilde, die (für mich) sinnlos aneinandergereiht wurden - und ich musste meine Betroffenheit, mein Unverständnis rauslassen - in einer Art
Gedicht.
...

Es betrübt mich halt jedes Mal, wenn Sprache dazu benutzt wird, (unnötige) Barrieren zwischen Menschen aufzubauen.

...warum müssen Worte erst zu Steinen
werden, bevor man sie bearbeitet? Warum kann man nicht versuchen, mit ihnen zu arbeiten, wenn sie noch so viele andere Ausdrucksmöglichkeiten haben?

lieber wüstenvogel,


ich hab jetzt wirklich lange über diese ausführungen von dir nachgedacht und sie mehrmals gelesen.

ich könnte dir von der kunst-historischen bzw. -wissenschaftlichen seite her erklären, dass diese sparte der lyrik, die dich so "befremdet", vergleichbar ist mit der "konzept-kunst" in der bildnerischen sparte, wo es um abstraktion als oberstes prinzip geht und um ganz bewusste abkehr von jenen darstellungs- und form-mitteln, die uns viel direkter erschließbar sind und berühren.

doch das ist gar nicht, worüber ich so nachgedacht habe, da ich dieses wissen durch mein kunststudium und die lange praxis in der kunstvermittlung sozusagen "parat" habe. nein - was mir so auffällt - nicht nur bei deinen erklärungen, sondern auch denen vieler anderer - , ist die erwähnte wut, das betrübt-sein, das ihr immer als motiv anführt für eure texte, in denen sich derart aufgestautes bahn bricht.

da ich diese wut oder das betrübnis so gar nicht nachvollziehen kann, weil ich automatisch sämtliche kunstsparten als "nebeneinander" existent wahrnehme und für mich keine die andere "bedroht" oder diese auch nur irgendwie untereinander konkurieren, weiß ich nicht so recht, wo sie tatsächlich herkommt.

ist es angst, das eigene schaffen wäre tatsächlich bedroht oder würde herabgesetzt, weil es da andere ansichten zu kunst/lyrik und deren eigene anhänger gibt?

ist es tatsächlich so, dass heute das schöne nicht mehr erkannt oder geschätzt wird? ist es tatsächlich so, dass die zahl der interessenten für die schönen künste abnimmt oder den tradierten werten ernsthafter kunst geschadet wird durch massenmedien, die angeblich gerade "seichteres" zugänglicher und leichter verbreitbar machen?

dasselbe gilt doch auch für die ernsthaften produkte der E-sparte, die durch internet mehr menschen erreichen - auch, wenn deren eigentliche präsentation meist nicht über dieses medium erfolgt, sondern nur deren ankündigung. dass es eine verschiebung der interessen und ansprüche bei den "empfängern" bewirkt, bezweifle ich. allerdings gehe ich davon aus, dass sich im internet mit dem ihm automatisch innewohnenden massen-charakter bzw. "-wertprädikat" zu einem weit größeren anteil jene tummeln, äußern und betätigen, die eben den rascheren massengenuss konsumieren und dass jene, die sich gerne intensiv und still und ausdauernd mit einzelnen werken mit tiefgang beschäftigen, das anderswo tun - in galerien oder lesend zu hause oder bei lesungen im kleinen rahmen nämlich.

vielleicht ist das bild auch deshalb verzerrt, weil es bis vor wenigen jahrhunderten noch bestandteil einer gutbürgerlichen bildung junger menschen war, auch die redekunst und/oder ein instrument oder ein anderes musisches genre zu beherrschen. sich gewählt und in reimen ausdrücken zu können, war für einen jungen mann von stand damals nämlich vonnöten um eine gute partie zu sein und dichtung und redekunst standen daher auf dem haus-lehrplan. für die jungen damen gab es gesangs- oder musikunterricht, damit sie mit "weiblichen" tugenden voller damalig geschätztem liebreiz bezaubern und "was hermachen" konnten.

mit dem verschwinden dieser ansprüche und dieser "kultur", die durch industrielle revolution, technischen fortschritt und die damit verbundene mentalität des "dynamischen" ersetzt wurde, hat sich auch die bedeutung der lyrik, der schönen künste und der (haus)musik vom allgemein-bildungsgut hin zur liebhaberei verschoben.

vom jeweiligen zeitgeistigen ausdruck, der einem aus "vergangenen zeiten" immer entgegensteht, rede ich hier gar nicht. dass die kunstgeschichte sich immer in wellen der gegenbewegungen, was ausdruck und motive angeht, entwickelt, zeigt sich, wenn man sich damit umfassend auseinandersetzt.

war die eine epoche "erdverbunden" und setzte auf gefühl, auf schlichtheit und direktheit im ausdruck - also expressivität - , musste die nächste eine gegenläufige ausrichtung haben: abgehoben-sphärisch oder himmlisch-strebend, verschlüsselt und "sachlich". usw. usf.

war die zugänglichkeit in der einen epoche oberstes motiv, waren es die "barrieren" in der nächsten. die menschheit versucht in ihrem schaffen nicht nur tradition fortzuführen, sondern das individuum will sich im künstlerischen akt auch abheben. dass das nur geht, indem man mit traditionen bricht - mal mehr, mal weniger im rahmen der möglichkeiten der herrschenden kulturellen bedingungen - ist wohl klar. nur so findet entwicklung statt. nur so wird stillstand verhindert. und der mensch ist nun mal ein fortschritts-getriebener. das ist seine natur. egal, in welcher intentsität der ausprägung.

und das gilt für alle kunstsparten. und diesem lauf sind wir in unserem schaffen unterworfen - ob wir wollen oder nicht. ernsthafte kunst wird immer versuchen, sich mühe zu geben. doch das heißt nicht, dass ihre äußere erscheinung immer denselben gesetzmäßigkeiten folgt - unberührt vom zeiten- und gesellschaftswandel.

warum also die wut? das betrübt-sein?
welche angst ist da wirklich wirksam - im hier und jetzt und für das eigene schaffen und das, wie man darin wahrgenommen und verortet werden will?


ich hoffe, meine lange einlassung wird hier nicht als korrektiv empfunden. meine fragen sind aufrichtiger natur. und mein wissen dazu stelle ich gerne zur verfügung. manchmal finden sich nämlich die einzig hilfreichen antworten erst im schließen von wissenslücken. und dann kann man neu einordnen, was einen befremdet. und vielleicht verliert manches dann seinen bedrohlich-befremdlichen charakter.


lieber gruß im neuen jahr,

fee

Geändert von fee (01.01.2012 um 17:13 Uhr)
fee ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.01.2012, 18:38   #10
wüstenvogel
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Hallo fee,

vielen Dank für deine sehr ausführlichen und nachdenkenswerten Anregungen.

Vielleicht habe ich mich missverständlich ausgedrückt - im Nachhinein war es wohl eher Enttäuschung als Wut, die mich zu diesem Gedicht "getrieben" hat.
Da kauft man sich einen Gedichtband mit dem anspruchsvollen Titel "Jahrbuch der Lyrik 2011", freut sich auf eine anregende Lektüre und muss feststellen, dass man mit fast keinem dieser Gedichte etwas anfangen kann. Damals wie heute kann ich zu vielen dieser Gedichte keinen Zugang finden.
Das heißt aber auf keinen Fall, dass ich ihnen ihre Existenzberechtigung absprechen möchte - sicher gibt es Menschen, denen diese Art von Gedichten gut gefällt, die damit etwas anfangen können, die vielleicht sogar angeregt werden, die durch und über diese Gedichte hinausgeführt werden in eine andere Welt.
Trotzdem erlaube ich mir, solche Art von Lyrik zu kritisieren, weil ich weiß, dass sie vielen Menschen nichts (mehr) sagt.
Ich liebe jede Form von Sprache und Ausdruck viel zu sehr, um nicht betrübt zu sein, wenn sie ihrem eigentlichen Zweck, der Verständigung, nicht (mehr) dienlich ist.

Ich habe keine Angst, dass durch die Existenz solcher Lyrik meine eigenen Werke herabgesetzt oder nicht (genügend) gewürdigt würden -ich bin ein großer Verfechter von Vielfalt im künstlerischen Bereich (und nicht nur dort).

Bestimmt muss es solche Gedichte geben - sind sie doch auch Ausdruck unserer Entfremdung in dieser komplexen, oft nur schwer durchschaubaren, modernen Welt.
Keinesfalls möchte ich für eine seichte, allzu leichte Literatur plädieren.
Ursula Andresen, eine Deutsch-Didaktikerin für die Grundschule, hat eines ihrer Bücher so genannt: "Versteh mich nicht zu schnell". Die Mühe des (eigenen) Denkens soll und darf den Menschen nicht erspart werden - das wäre furchtbar. Wohin das führen kann, hat die Geschichte leider schon viel zu oft bewiesen!

Ich lasse mich beim Schreiben oft von Gefühlen leiten (ich denke, das tun wir alle mehr oder weniger).

Deine Ausführungen habe ich gerne gelesen (uind werde es sicher noch einige Male tun).

Ein wunderbares Neues Jahr

wünscht dir

wüstenvogel
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