04.07.2018, 17:35 | #1 |
Erfahrener Eiland-Dichter
Registriert seit: 15.04.2010
Beiträge: 294
|
Traumatisiert
Sie hatte den Schwerpunkt zu frontal
gelegt; in ihrem frigidem Gelände schwebte das Rätselhafte ausgeklammert über ihrer mathematischen Formel. Das Geheimnisvolle nannte sie Unwissen, ihren Blick unvermögend, verstellt auf das vermeintlich Verlässliche, fühlte sie sich seßhaft auf dem Kopf des Tigers, von dortaus wollte sie die Welt beherrschen, hatte ihrem Sohn ein Mastermind-Spiel gekauft, damit sollte er alle großen Nachbarjungen schlagen. Ich war einer davon und wir waren zum zweiten Geburtstag des Jungen zu Gast. Seine Mutter hatte das Spiel auf den Tisch gestellt, jedoch fehlte die Hälfte. Kurz darauf kam der Knabe mit seinem Nachttöpfchen daher, zeigte uns sein kunterbuntes Geschäft, mit sämtlichen Kleinteilen darin. “Dummheit frisst!” platzte es heraus aus dem gefräßigen Maul von Max Schulze. Es wurde hämisch gelacht; auch der kleine Mann grinste, sah sehr zufrieden aus, ein Lächeln wie immer, wenn ich ihm begegnet war im Supermarkt beim Einkauf mit seiner Mama. Und nun fühlte die sich gedemütigt, war enttäuscht, in ihrem Ehrgefühl verletzt, schlug dem Kleinen unvermittelt ins Gesicht, während wir uns feige davon stahlen, allerdings mit betretenen Mienen, voller Empathie für den Jungen. Im Supermarkt sah ich ihn mit der Haushälterin, zwei Tage nach dem fatalen Geschehen. Nie hatte ich ihn Herumnörgeln hören wie viele der anderen Kinder, die Süßigkeiten aus den Regalen einforderten. Auch dieses Mal war er ruhig, aber ohne sein Schönwetterleuchten in den Augen, wie es nur aufsteigen konnte aus der Tiefe des Unbewussten. Es war erloschen; fortan sah ich ihn nur noch entleert, wie in einem emotionalen Schützengraben kauernd.
__________________
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne so, als hätten wir alles im Blick." (Fenek) |
Lesezeichen |
Aktive Benutzer in diesem Thema: 1 (Registrierte Benutzer: 0, Gäste: 1) | |
|
|