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Alt 04.11.2009, 03:27   #1
Pedro
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Standard Aristoteles

Aristoteles


Ich schaue ihn mir genauer an:
Sein Kopf über dem unrasierten Gesicht ist kahl, nur hinten fallen einige Strähnen grau gesprenkelten Haars bis fast auf den Kragen seines speckig glänzenden schwarzen Sakkos, das überhaupt nicht zu der hellen, fadenscheinigen Tweedhose passt. Seine Manschetten sind ausgefranst und am Rande so schwarz wie seine Fingernägel. Sein Alter kann ich nur schwer einschätzen, etwa 50 bis 60 Jahre vermute ich. Gewaschen und in anständiger Kleidung sähe er fast genau so aus wie ich.

Vor ihm ein Einkaufswagen aus einem Supermarkt, beladen mit Tüten, Kleidungsstücken und einem Schlafsack. Alles abgedeckt mit einer durchsichtigen Plastikplane. Er hat ein Buch in der Hand, „Aristoteles“ kann ich auf dem Einband lesen.
Die Leute laufen vorbei, ab und zu wirft jemand eine Münze in die Blechdose, die vor ihm steht.
Ich bleibe längere Zeit vor ihm stehen, werfe dann auch ein Geldstück in die Blechbüchse und frage ihn, ob er mitkommen wolle. Ich sei gerade allein, wir könnten zusammen etwas essen.
Zunächst zögert er, scheint überrascht, kommt dann aber mit. Er lädt seinen Wagen aus und stellt ihn in den Hausflur.

Ob er sich frisch machen könne, fragt er. Ich zeige ihm das Bad. Mir fällt ein, dass irgendwo noch ein Karton mit Kleidung herumstehen müsste. Ich finde ihn in der Garage, stelle ihn vor das Bad und rufe: „Vor der Tür steht ein Karton mit alten Kleidungsstücken, vielleicht können Sie etwas davon gebrauchen.“ Keine Antwort.

Wir sitzen zusammen am Küchentisch und essen, Kartoffeln und Gemüse, dazu habe ich Steaks gebraten und eine Flasche mit spanischem Rotwein aufgemacht. Er will keinen Wein, er trinke keinen Alkohol mehr, schon seit längerer Zeit. Leitungswasser will er, er sei daran gewöhnt, sagt er.
Der Mann hat Hunger, greift kräftig zu, schaut mich öfter an und schüttelt den Kopf. Völlig verändert sieht er aus, hat sich gewaschen und rasiert, meine abgelegten Kleidungsstücke passen ihm.

„Warum haben Sie mich mitgenommen?“, fragt er nach einer Weile.
Ja, warum habe ich ihn zu mir nach Hause eingeladen? Meine Frau ist angeblich bei ihren Eltern. Mir ist da eine besondere Idee gekommen. Ich sage aber:
„Sie hatten ein Buch in der Hand, „ Aristoteles“, habe ich auf dem Einband gelesen.“
„Ja, das ist schon interessant, es geht da um einen Gottesbeweis. Haben Sie etwas von Aristoteles gelesen?“
Ich sehe ihn ziemlich verblüfft an.„Nur sehr wenig, ich habe kaum Ahnung von Philosophie. Sie hätte mich schon interessiert, aber ich hatte nie Zeit, mich damit zu beschäftigen.“

Wir haben uns noch nicht vorgestellt.
„Heiner Müller“, sage ich, „ich arbeite bei einer großen Bank.“ Ich erwähne nicht, dass ich heute meinen Arbeitsplatz verloren habe.
„Namen spielen für mich keine Rolle mehr. Nennen sie mich, wie Sie wollen, Franz, Uwe, Gerd oder -“
„Dann werde ich Sie Aristoteles nennen“, sagte ich.
Er nickte etwas erstaunt.

Wir gehen zusammen ins Wohnzimmer. Ich hole eine weitere Flasche Wein und einen Krug mit Leitungswasser für Aristoteles, stelle alles auf den Couchtisch.
Aristoteles sitzt mir in einem Sessel gegenüber.
Er sagt: „Obdachlose tragen an ihrem Schicksal selten die alleinige Verantwortung. Es ist oft ein Resultat tragischer Verkettungen: In schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen, psychische Erkrankungen wie Depressionen, Alkoholismus und Drogenkonsum. In Deutschland gibt es etwa 600 000 Wohnungslose.“
Er hält sein Glas mit beiden Händen fest umklammert und dreht es hin und her. Ich denke, mir könnte es bald so ähnlich ergehen.
„Ich brauche inzwischen nicht mehr, als ich in dem Einkaufswagen habe. Ich brauche nichts mehr, auch keine soziale Anerkennung. Ich fühle mich freier als vorher. Ich will meine Ruhe haben. Ich glaube, das Leben ist wollen, möchten, sollen. Müssen ist etwas ganz anderes.“
Die Lage von Aristoteles ist sicher nicht beneidenswert, aber wenn ich meine Situation überdenke, geht es mir nicht besser. Die Raten fürs Haus werde ich nicht mehr bezahlen können, meine Frau würde mir die Hölle auf Erden bereiten.

„Und wo schlafen Sie?“ , frage ich ihn.
„Es gibt einen alten Friedhof in Prenzlau, da wird schon lange keiner mehr beerdigt. Aber den will man jetzt zu einem Parkplatz umfunktionieren.“
„Ja, den kenne ich. Was machen Sie im Winter?“
„Ich habe einen warmen Schlafsack. Kleidung erhalte ich vom Roten Kreuz und von der Caritas.
Ich habe viel Zeit, über mich selbst nachzudenken, über die Frage, warum und wozu. Eine Antwort habe ich noch nicht gefunden, vielleicht gibt es sie nicht, ich weiß nur, dass es kein Anrecht auf Wohlstand und Glück gibt.“
Er hatte immer langsamer gesprochen und vor sich hin geschaut.

Zeit habe ich nie gehabt, denke ich. Kleiner Bankangestellter bin ich geworden. Wollte mal eine Familie haben und mit einer Frau zusammen leben. Daraus ist nichts geworden. Seit Jahren leben wir nebeneinander. Sie ist enttäuscht, dass ich nicht zumindest Bankdirektor geworden bin und lässt mich das täglich merken.
Dazu der Stress bei der Arbeit, täglich muss ich Kunden irgendeinen Unsinn andrehen, werde von meinem Chef immer wieder ermahnt, die Quote einzuhalten. Und jetzt bin ich auch noch arbeitslos. In meinem Alter wird es schwer sein, eine neue Arbeit zu finden.

Er geht zum Bücherregal und schaut sich philosophische Werke an, nimmt Heidegger heraus und liest.
Ob ich das schon gelesen hätte, fragt er mich nach einiger Zeit. Ich sage, ich hätte da einiges stehen, hätte versucht es zu lesen, aber Heidegger könne ich nicht verstehen, da fehle mir die Bildung.
Der schreibe schon kompliziert, meint er, wenn ich wolle, könne er mir etwas helfen, ihn zu verstehen.
Ich bin überrascht.
Ja, er habe sich längere Zeit mit Heidegger beschäftigt, sagt er, zögert ein wenig und fügt dann hinzu: „Über den habe ich mal etwas geschrieben, das ist allerdings schon lange her.“

Ich hole ihm einen frischen Krug mit Wasser, habe die Tabletten darin aufgelöst. Aristoteles sagt bald, dass er ziemlich müde sei. Ich zeige ihm das Gästezimmer.
Bald darauf höre ich ihn schnarchen.

Ich ziehe seine alte Kleidung an, seinen Wagen mit den wenigen Habseligkeiten schiebe ich in den Vorgarten. Die Umhängetasche mit seinen Papieren hänge ich mir um. Dann gehe ich noch einmal ins Haus und öffne den Gashahn.
Als ich auf die Straße komme, schaue ich noch ein letztes Mal mein Haus an, nichts wird davon übrig bleiben. Ich begegne niemandem. Es ist schon spät.
In der Nähe des Friedhofes höre ich das Martinshorn.
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>Die Kritiker nehmen eine Kartoffel, schneiden sie zurecht, bis sie die Form einer Birne hat, dann beißen sie hinein und sagen: „Schmeckt gar nicht wie Birne.“< (Max Frisch)
Pedro ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.11.2009, 07:06   #2
Chavali
ADäquat
 
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Hallo Pedro,

eine spannend geschriebene Geschichte und ich wusste lange nicht, worauf sie hinausläuft.
Beim zweiten Mal lesen sagte ich mir, man hätte es schon ab Satz 3 erkennen müssen...
Aber darüber liest man erstmal geflissentlich hinweg, weil man schnell wissen möchte,
wie es weitergeht oder oder was der Aristoteles damit zu tun hat.

Das Ende schlägt dann ein wie eine Bombe!
Hätte ich icht so vermutet. Ich bin begeistert über diese Geschichte! Roald Dahl hätte sie nicht besser hinbekommen!

Lieben Gruß,
Chavali
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© auf alle meine Texte
Die Zeit heilt keine Wunden, man gewöhnt sich nur an den Schmerz

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Alt 04.11.2009, 08:52   #3
Pedro
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Hallo Chavali,

fast wäre ich errötet wegen deines Lobes über meinen Schreibversuch!



Gruß

Pedro
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>Die Kritiker nehmen eine Kartoffel, schneiden sie zurecht, bis sie die Form einer Birne hat, dann beißen sie hinein und sagen: „Schmeckt gar nicht wie Birne.“< (Max Frisch)
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