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Finstere Nacht Trauer und Düsteres

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Alt 10.09.2011, 16:21   #1
Stimme der Zeit
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Standard (Ver)lustloses Vergehen

(Ver)lustloses Vergehen

Der Himmel, er besteht aus grauen Wolken.
Ein Spiegelbild vom Schleier der Gefühle
lässt heute seine Schattenfinger wandern,
verdunkelt meinen Blick auf diese Welt.

Die Farben, sie verblassen zu Gespenstern.
Als Illusion der Wirklichkeit des Lebens
sind diese weiter nichts als leere Hüllen;
ich spüre, wie die Willenskraft entweicht.

Das Fühlen, es entfernt sich immer weiter.
Im Inneren verweilt nur nacktes Denken,
es überzieht mein Ich mit kalten Schichten.
Verwirrung herrscht: Wo bleibt die Traurigkeit?

Getrennt von mir betrachte ich Distanzen.
Vergeblich auf der Suche nach der Hoffnung.
Entferne mich auf unbekannten Wegen,
verliere täglich mehr von meinem Selbst.

Bis schließlich auch das Denken noch erstirbt.
__________________
.

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Alt 10.09.2011, 19:45   #2
Dana
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Liebe Stimme,

so kann man sich das Sterben vorstellen. Da bleibt kein Raum mehr für Traurikeiten und Hoffnungen. Die Sinne entschwinden fast aufzählend und was mir als besonders gelungen auffällt; es blieb nicht einmal mehr Raum für Reime.
(Ich bin ganz sicher, dass du dich bei diesem Thema bewusst für Reimlosigkeit entschieden hast.)

So sehr mir die Aufzählform im letzten Wahrnehmen und Entschwinden imponiert:

Zitat:
Zitat von Stimme der Zeit
Der Himmel, er besteht aus grauen Wolken.
Die Farben, sie verblassen zu Gespenstern.
Das Fühlen, es entfernt sich immer weiter.
so gern würde ich es unterbrochen sehen. Es dauert immerhin Tage - (letzte Strophe, Vers 4)

Ebenso die
Zitat:
kalten Schichten
. Hier frage ich mich; kalte Schichten von was?

Ich fette mal meine Ideen ein - du entscheidest, ok?

Der Himmel heut besteht aus grauen Wolken.
Ein Spiegelbild vom Schleier der Gefühle
mit seinen Schattenfingern, die jetzt wandern,
verdunkeln meinen Blick auf diese Welt.

Die Farben, sie verblassen zu Gespenstern.
Als Illusion der Lebenswirklichkeiten
sind sie auf einmal nichts als leere Hüllen;
ich spüre, wie die Willenskraft entweicht.

Das Fühlen, es entfernt sich immer weiter.
Im Inneren verweilt nur nacktes Denken
und überzieht mein Ich mit Kälteschichten.
Verwirrung herrscht: Wo bleibt die Traurigkeit?

Getrennt von mir betrachte ich Distanzen.
Vergeblich auf der Suche nach der Hoffnung.
Entferne mich auf unbekannten Wegen,
verliere täglich mehr von meinem Selbst,
zuletzt das Denken ...

Um die Änderungen zu erklären, fette ich hier die von mir gefühlten "Störungen" an: (Weil schon so viele Der und Das da sind )

Der Himmel, er besteht aus grauen Wolken.
Ein Spiegelbild vom Schleier der Gefühle
lässt heute seine Schattenfinger wandern,
verdunkelt meinen Blick auf diese Welt.

Die Farben, sie verblassen zu Gespenstern.
Als Illusion der Wirklichkeit des Lebens
sind diese weiter nichts als leere Hüllen;
ich spüre, wie die Willenskraft entweicht.

Das Fühlen, es entfernt sich immer weiter.
Im Inneren verweilt nur nacktes Denken,
es überzieht mein Ich mit kalten Schichten.
Verwirrung herrscht: Wo bleibt die Traurigkeit?

Getrennt von mir betrachte ich Distanzen.
Vergeblich auf der Suche nach der Hoffnung.
Entferne mich auf unbekannten Wegen,
verliere täglich mehr von meinem Selbst.

Bis schließlich auch das Denken noch erstirbt.

Zuletzt aber noch ein Lob:
das nackte Denken überziehen lassen ist gut durchdacht.

Mit Lob und kleinen Mäkeleien
grüßt ganz lieb
Dana
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Ich kann meine Träume nicht fristlos entlassen,
ich schulde ihnen noch mein Leben.
(Frederike Frei)
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Alt 10.09.2011, 21:42   #3
Stimme der Zeit
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Guten Abend, liebe Dana,

Zitat:
so kann man sich das Sterben vorstellen. Da bleibt kein Raum mehr für Traurikeiten und Hoffnungen. Die Sinne entschwinden fast aufzählend und was mir als besonders gelungen auffällt; es blieb nicht einmal mehr Raum für Reime.
(Ich bin ganz sicher, dass du dich bei diesem Thema bewusst für Reimlosigkeit entschieden hast.)
Ja, es liest sich wie ein Bericht über das Sterben - nur handelt es sich lediglich indirekt darum. Es geht um eine andere Art von "Tod", einem "innerlichen". Du weißt ja einiges von mir, das hier ist ein Tatsachenbericht aus der Vergangenheit. Ich las in so manchem Forum im Laufe der Zeit eine beachtliche Menge von Gedichten über diese spezielle Thematik. Leider stellte ich immer wieder fest, wie falsch die Vorstellungen darüber sind.

Das hier ist, wie du richtig bemerkst, eine lust- und leidenschaftslose, ja, gefühllose Aufzählung der Wahrnehmungen innerhalb eines ganz besonderen "Zustands", einer Krankheit, die sehr schlimm sein kann.

Das Thema lautet: Depression. Wohlgemerkt: Eine echte, klinische Depression, keine depressive Verstimmung, keine Niedergeschlagenheit und auch keine Traurigkeit. Eine wirkliche Depression ist etwas ganz Anderes.

Es schwinden nicht die Sinne allein (obwohl auch diese "abstumpfen"), es schwinden mehr und mehr alle Gefühle. Was bleibt, ist tatsächlich "nacktes" Denken. Und das würde Angst machen - aber ein Depressiver kann keine Angst haben. Es müsste traurig machen - aber ein depressiver Mensch kann nicht traurig sein.

Was also ist das Schlimme? Denken zu können und völlig hilfloser Beobachter zu sein. Denn mit Willenskraft, und davon habe ich eine Menge, war nichts auszurichten. Das Denken "funktioniert", ein Betroffener bemerkt und erkennt, was mit ihm los ist, aber das chemische Ungleichgewicht an Botenstoffen im Gehirn sorgt dafür, dass ihm jede, aber auch jede Antriebskraft fehlt - und er selbst kann nichts dagegen tun. Eigentlich müsste das Verzweiflung hervorrufen, aber auch Verzweiflung ist nicht mehr möglich. Keine Träne fließt, liebe Dana.

Es ist, als ob der Intellekt und die emotionale Selbstebene mit einer Wand aus Stahl voneinander "getrennt" wären. Die Gefühle sind "da", das weiß man, aber sie sind "unerreichbar".

Das führt zu völliger Hoffnunglosigkeit, und dem Wunsch, das "Denken" möge aufhören, damit diese "innere Leere" ein Ende hat. Bei all meiner Vorliebe für Logik: Ich weiß jetzt, dass ein Mensch ohne Gefühle nicht leben kann, das geht nicht! Es ist "unerträglich", ohne dass man in diesem Zustand etwas wie "Unerträglichkeit" fühlen kann. Im Nachhinein, nach einigen Jahren, entsetzt es mich, was damals nicht der Fall war, da es von mir nicht "gefühlt" werden konnte. Das "Innere" besteht aus einer kalten, völlig emotionslosen Leere. Und Gedanken, sonst nichts.

Zitat:
so gern würde ich es unterbrochen sehen. Es dauert immerhin Tage - (letzte Strophe, Vers 4)
Nein, liebe Dana, es dauert Jahre. Und es geht ununterbrochen abwärts, Tag für Tag an "endlos erscheinenden" Tagen. Es wird täglich immer ein bisschen "weniger".

Zitat:
. Hier frage ich mich; kalte Schichten von was?
Ich würde es heute "geistiges Eis" nennen. Der Teil des Selbst, der Gefühle empfindet, "friert" ein, und jeden Tag lagert sich eine neue "Schicht" ab. Es gibt nichts, was es "auftauen" könnte. Die "Eisschicht" wird immer "dicker".

Die Aufzählung mit den vielen der, die, das wollte ich ganz bewusst so haben, denn es entspricht den Tatsachen. Eine beinahe klinisch-emotionslose Auflistung des beständigen (Er)sterbens der Empfindungen. Denn genau so geht das vor sich.

Viele Menschen behaupten, sie hätten Depressionen, aber ich schüttele oft den Kopf, wenn sie da sitzen und (Verzeihung.) "heulen". Mit einer wirklichen Depressionen kann man nicht weinen, man kann sich nicht einmal selbst leid tun! Das ist also entweder "Schau" oder eine andere Erkrankung. Eine Depression mit Sicherheit nicht. Wer das erlebte, weiß es und kennt die Unterschiede sehr genau.

Das Gedicht folgt einem "Depressionsmuster", das ich deshalb nicht "unterbrechen" möchte, weil das bei der Depression selbst auch nicht geschieht, verstehst du?

Ich "verteidige" hier nicht, weil ich die aufzählenden Artikel für "besonders gelungen" halte, das sind sie nicht. Aber eine Notwendigkeit, eintönig und trostlos, gleichförmig und gleichgültig - im verlustlosen und lustlosen Vergehen.

Der Schlaf wird zum "Fluchtpunkt", das Ziel ist es, so viel wie möglich zu schlafen, um den Gedanken zu "entkommen" und die "Leere" nicht mehr wahrnehmen zu müssen. Der letzte Wunsch, der bleibt, ist: Das Denken soll aufhören. Deshalb denken depressiv Erkrankte an den Tod. Denn der Schlaf hat nun mal Grenzen, ein Depressiver schläft fast exzessiv viel, bis er dadurch bedingt unter starker Schlaflosigkeit zu leiden beginnt. Also wird der "ewige Schlaf" zum Ziel.

Darauf "zielt" der letzte, einzelne Vers, und deshalb steht er auch "isoliert" da.

Wenn dieses Gedicht vom physischen, d. h. "körperlichen" Sterben handeln würde, hättest du mit deinen Kritikpunkten absolut recht, liebe Dana. Es handelt sich hier aber um ein "psychisches" Sterben.

Ich hoffe, du verstehst, warum ich dieses Gedicht, das ich sehr sorgfältig "geplant" habe, so belassen möchte. Du weißt, ich nehme normalerweise bei begründeter Kritik gerne Vorschläge und Verbesserungen an, gesteh mir eine "Ausnahme" zu. Es dient nicht zuletzt auch dazu, etwas Vergangenes (von meiner "Warte" aus) endgültig "loszuwerden".

Danke, dass du dir so viel Mühe gemacht und so viele (gute!) Überlegungen angestellt hast.

Liebe Grüße

Stimme
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Alt 10.09.2011, 22:16   #4
Dana
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Liebe Stimme,

danke für deine intensive Erklärung.
Ich kann sie nur glaubend annehmen, hineinversetzen natürlich nicht.

Es ist ein ganz eigenes und persönliches Gedicht. Ich lasse deine Argumentation ernst und ehrlich gelten. Es wird schwer, sich damit "unter Dichtern" auseinander zu setzen. Ganz sicher wird es bei Betroffenen besser und so ankommen, wie es dein Ansinnen beabsichtigt.

Was ich sehr gut verstehe, ist das Bedürfnis die Dichtung als Ventil zu nutzen.
In diesem Falle: Schön, dass es Vergangenheit ist.

Ich kenne dich schon ein wenig und würde dir niemals "Kritikresistenz" unterstellen. Vorschläge sind auch nicht "zwingend" - im Gegenteil.
Sie können in eine Gedichtbesprechung einfließen, aber das Gedicht bleibt ein Kind es Autors.
Deine Argumente sprechen für sich und überzeugen. Ich habe es noch einmal gelesen und bemerkt, dass andere Bilder herüberkommen.
Jeder Mensch kommt (selten oder oft) in ausweglose Situationen. Darin sind manchmal Momente einer totalen Leere. Vielleicht kommen diese dem näher, was du aufzeigen möchtest.

Liebe Grüße
Dana
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Alt 11.09.2011, 08:36   #5
Thomas
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Hallo Stimme der Zeit,

Gedicht und Kommentar, mit dem du Dana antwortest, sind sehr mutig und offen. Ich kann eigentlich nichts hinzufügen, außer meinem Ausdruck der Anerkennung. Dennoch eine Anmerkung und drei Fragen.

Anmerkung: Der Inhalt dieses Gedichtes erfordert die reimlose Form. Es ist ein gutes Beispiel für ein Thema, wo die Reimlosigkeit angebracht ist. Reime würden hier dem Inhalt wiedersprechen. Das Metrum hältst du ein, d.h. du verwendest keine freien Rhythmen.

Frage1: Warum keine freie Rhythmen? Ich könnte mir vorstellen, dass zumindest gegen Ende des Gedichts auch das Metrum 'einschläft'.

Frage2: Warum verwendest du 'geistiges Eis' nicht im Gedicht? Ich finde Bild und Ausdruck ausgezeichnet!

Frage3: Wenn schließlich in einem ganz wunschlosen Zustand der 'Wunsch, das Denken möge aufhören' entsteht, dann stelle ich mir das als eine sehr paradoxe Situation vor. Vielleicht ist meine Vorstellung falsch, wenn nicht: Warum ist dann die letzte Zeile ein einfaches Statement, ganz ohne möge, könnte, sollte?

Das Gedicht halte ich für gut gelungen. Es vermittelt den Zugang zu einer mir unbekannten Denk- und Gefühlswelt.

Liebe Grüße
Thomas
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Alt 11.09.2011, 09:57   #6
Stimme der Zeit
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Guten Morgen, Thomas,

Zitat:
Gedicht und Kommentar, mit dem du Dana antwortest, sind sehr mutig und offen. Ich kann eigentlich nichts hinzufügen, außer meinem Ausdruck der Anerkennung.
ich danke dir meinerseits für deine Anerkennung, da ich mir bewusst bin, dass ich, eben bedingt durch diese "Erfahrung", in vielen Dingen "offener" bin als die meisten anderen Menschen. Nach diesem "Erlebnis" sehe ich vieles aus einer "anderen Perspektive" heraus, für mich hat sich die Relation vieler "Dinge" zueinander grundlegend geändert. Vieles, was andere als "wichtig" erachten, betrachte ich als "unwichtig" und umgekehrt. Dabei bin ich mir ebenfalls bewusst, dass manche meiner persönlichen Ansichten dadurch auf andere unter Umständen beinahe "befremdlich" oder irritierend wirken können (nicht immer, aber manchmal durchaus). Kurz: Mein (inneres) "Bewertungssystem" hat sich verändert. Daher ist für mich manche "Offenheit" selbstverständlich, und so im Grunde genommen nur sehr bedingt "Mut". Das nur zur Erklärung.

Bedauerlich ist das eklatante Missverständnis seitens des Großteils der Menschheit; die allgemeine Annahme dessen, was denn eine Depression ist. Ich erwarte nicht, dass mein kleiner Beitrag mehr als ein "Hinweis" sein kann, denn von Nichtbetroffenen kann das nicht wirklich "verstanden" werden, sondern bestenfalls auf Basis einer abstrakten Vorstellung heraus "betrachtet" werden.

Zitat:
Dennoch eine Anmerkung und drei Fragen.
Gerne.
Zitat:
Anmerkung: Der Inhalt dieses Gedichtes erfordert die reimlose Form. Es ist ein gutes Beispiel für ein Thema, wo die Reimlosigkeit angebracht ist. Reime würden hier dem Inhalt wiedersprechen. Das Metrum hältst du ein, d.h. du verwendest keine freien Rhythmen.

Frage1: Warum keine freie Rhythmen? Ich könnte mir vorstellen, dass zumindest gegen Ende des Gedichts auch das Metrum 'einschläft'.
Diese Frage ist für mich am einfachsten zu beantworten. Da diese Antwort mit deiner Anmerkung in engem Zusammenhang steht, gehe ich (gewissermaßen) "zusammen" darauf ein. Ein "freier" Rhythmus bedeutet ja im Grunde "keinen" Rhythmus. Es entsteht ein Eindruck der "Unregelmäßigkeit", und dadurch unwillkürlich auch der einer "Bewegung". Um aber Monotonie und Empfindungslosigkeit darzustellen, benötigte ich einen Rhythmus, und zwar einen möglichst "gleichförmigen", denn das "Abwärts" während einer Depression ist etwas, das "geschieht" und eigentlich keine "Bewegung" im eigentlichen Sinne darstellt. Wobei "Abwärts" ohnehin ein falscher "Begriff" ist, ebenso wie "Rhythmus". Das Problem ist, dass es dafür keine passenden Begriffe gibt. Würde ich solche "erfinden", hätte das auch keinerlei Nutzen, denn außer bei selbst Betroffenen wären sie zwangsläufig "nichtssagend". Daher auch mein "Verzicht" auf Reime, denn, wie du richtig anmerkst, Reime sind zu "lebendig" für eine Thematik, die auf etwas hinzielt, das ich, ebenfalls in Ermangelung eines besseren Begriffs, als "Leblosigkeit" bezeichnen möchte.

Zitat:
Frage2: Warum verwendest du 'geistiges Eis' nicht im Gedicht? Ich finde Bild und Ausdruck ausgezeichnet!
Das ist eine gute Frage. Und simpel zu beantworten: Ich arbeitete lange und sorgfältig an diesem Gedicht, aber diese Formulierung fiel mir, als ich es verfasste, schlicht nicht ein. Es war Danas Kommentar, der mich auf die "Idee" dieser Darstellung brachte. Daher also offen eingestanden: Mir gefällt das "Bild" ebenfalls, aber ich kam "zu spät" auf den Gedanken!

Zitat:
Frage3: Wenn schließlich in einem ganz wunschlosen Zustand der 'Wunsch, das Denken möge aufhören' entsteht, dann stelle ich mir das als eine sehr paradoxe Situation vor. Vielleicht ist meine Vorstellung falsch, wenn nicht: Warum ist dann die letzte Zeile ein einfaches Statement, ganz ohne möge, könnte, sollte?
Der Begriff "Wunsch" wurde von mir ebenfalls "in Ermangelung eines richtigen/besseren verwendet. Zum Einen: Der depressive Zustand an sich ist absolut paradox, glaube mir. Vielleicht sehe ich deshalb Paradoxien mittlerweile auch ein wenig anders an, als ansonsten "üblich". Emotionen sind ein essentieller Bestandteil des menschlichen Wesens, wir empfinden immer etwas, so selbstverständlich, dass wir es überhaupt nicht bemerken. Zur Veranschaulichung: Wenn jemand sagt, er treffe "ganz bewusst" eine "absolut logische" Entscheidung, dann ist das nur teilweise "korrekt". Auch dafür sind Emotionen notwendig, das ist eine Tatsache. Allerdings befinden diese sich "im Hintergrund", so subtil, dass ein "normaler" Mensch sie überhaupt nicht bemerkt. Die "Vernunft" ist die "Basis" der Entscheidung, aber sie benötigt eine Emotion, mittels derer sie "getroffen" wird. (Das ist wirklich schwer zu vermitteln bzw. zu erklären.)

Warum? Nun, es gibt zwei wichtige Faktoren, die für gewöhnlich nicht "beachtet" werden. Punkt 1: Es muss der Wunsch vorhanden sein, eine Entscheidung treffen zu wollen. Man "möchte" eine treffen, und "möchten" ist eine Empfindung. Das Fehlen der notwendigen Botenstoffe im Gehirn und der dadurch fehlende "Wahrnehmungszugang" zu den eigenen Emotionen macht einen depressiv erkrankten Menschen deshalb handlungsunfähig, weil es ihn "entscheidungsunfähig" macht. Selbst das morgendliche Aufstehen bedingt eine "Entscheidung dafür oder dagegen", wenn man es sich genau überlegt. Um es philosophisch auszudrücken: Es fehlt der Wille - oder, genauer gesagt, er ist da, man "weiß" es, aber er ist unerreichbar. Wie also "lebt" ein Mensch, ohne "Willen"? Ein Depressiver lebt nicht, er existiert. Das Denken kann nicht "bewusst gelenkt" werden, sondern beginnt sich mehr und mehr "im Kreis" zu drehen, da ein Gedanke durch keine bewusste Entscheidung heraus "abgebrochen" oder in eine andere Richtung gelenkt werden kann, denn dafür bräuchte es einen Willen. Das ist das Paradoxon, in dem man "gefangen" ist - eine "Gefangenschaft" in sich selbst, es zu "wissen", und absolut nichts dagegen tun zu können, da man "handlungsunfähig" ist. /:

Zitat:
Vielleicht ist meine Vorstellung falsch, wenn nicht: Warum ist dann die letzte Zeile ein einfaches Statement, ganz ohne möge, könnte, sollte?
Im letzten "Stadium" einer solchen Depression gibt es kein "möge", kein "sollte" und deshalb auch kein "könnte". Es ist auch kein "Aufgeben", keine "Verzweiflung" und kein "Wunsch", der einen Depressiven an den Tod denken lässt, sondern etwas, das ich ein "Versinken in völliger Sinnlosigkeit" nennen möchte. Ein "Dasein" als bloße "Existenz" erscheint in diesem Zustand "absolut sinnlos", denn es ist "kein Leben", bzw. wird nicht als solches wahrgenommen. Hinzu kommt: Auch der "instinktive Überlebenswille", der uns (und allen Lebewesen) zu eigen ist, fällt als Letztes ebenfalls weg, das darf als Tatsache nicht vergessen werden! Weshalb leben, wenn das Leben kein Leben ist und wenn der Lebenswille schlicht nicht mehr "vorhanden" ist?

Es ist nicht so, als ob "Schmerz oder Leid" überwältigen würden (sie sind nicht vorhanden), sondern das, was uns "am Leben sein lässt", der Wille, zu leben, fehlt einfach. Das hat sogar mit "Aufgabe" oder "Resignation" nichts zu tun.

Deshalb ein einfaches Statement, weil der Depressive gar keine bewusste Entscheidung trifft, sterben zu wollen. Er lässt es "geschehen", weil nichts "vorhanden" ist, das ihn "abhalten" könnte ...

Es wird kein "aktiver" Suizid begangen, lieber Thomas. Diese Menschen bleiben einfach im Bett liegen und warten auf den Tod. Selbst die elementaren Bedürfnisse des Körpers können diese völlige "Apathie" nicht mehr "durchdringen".

Das Problem mit einer Depression ist, dass dieser "Nadir" nur von Menschen erreicht werden kann, deren "Willenskraft" eigentlich sehr stark ist - erneut ein "Paradoxon". Denn sie können jahrelang dagegen "ankämpfen", den Krankheitsverlauf "verlangsamen", die "Außenwelt" lange über ihren wahren Zustand hinwegtäuschen, bevor dann der "Point of no return" erreicht wird. Die meisten Erkrankten kapitulieren bereits lange vorher, in einem Stadium, in dem sie noch zu der Handlung einer "aktiven Beendigung" fähig sind, also noch einige "Empfindungen" vorhanden sind.

Depressive Menschen "frieren" ständig, selbst bei hohen Außentemperaturen. Die "innere Leere" ist kalt, was sich sogar körperlich "spiegelt". Das allerdings fällt im "letzten Stadium" ebenfalls "weg", also auch die körperlichen Empfindungen werden auf einer extrem "distanzierten Ebene" nur mehr "am Rande" wahrgenommen. Sie werden wahrgenommen, da der Körper ein "Gefäß" ist, das von der Natur her "automatisch", rein "vegetativ" Maßnahmen zum "physischen Überleben" ergreift. Die körperlichen Empfindungen gehen "zu aller Letzt" und nicht "völlig" verloren.

Ein Depressiver befindet sich in einem für Nicht-Betroffene unvorstellbaren Zustand absoluter Isolation, das geht weit über den Begriff Einsamkeit hinaus. Nicht nur, dass er extern von nichts mehr berührt wird, er "berührt sich selbst nicht mehr". Auch das ist schwer zu erklären. Daraus entstand auch meine (persönliche) Definition der Begriffe "Ich" und "Selbst". Ein "nacktes" Bewusstsein, das vollkommen "isoliert" vom sonstigen "Selbst" ist, es kann nichts berühren und wird von nichts berührt. Daher verstehe ich unter "Ich" und "Selbst" etwas anderes als "gewöhnlich" darunter verstanden wird. Ein Mensch ist ein "Selbst", das "Ich" allein ist - so gut wie "nichts". Das "Bewusstsein" ist nur etwas, das ich einen "Aspekt des wirklichen Selbsts" nennen möchte. Es kann für sich alleine nicht "sein", denn "Existenz" ist kein "Leben", nicht wirklich. Der Mensch ist die Summe all seiner Teile, und das Bewusstsein, das "Ich" genannt wird, ist eben nur ein einziger Teil des Ganzen. Für sich alleine nicht lebenfähig. Daher habe ich kein Verständnis für Menschen, die "Emotionslosigkeit" als etwas "Erstrebenswertes" erachten - sie haben ja keine Ahnung, wovon sie da reden! Von der Negation ihres Selbst ...

Ein weiterer Fakt: Depressive sind in keinerlei Hinsicht "unzurechnungsfähig" oder "geistig verwirrt", obwohl man häufig auch diesem "Vorurteil" begegnet, da es in "Unkenntnis der Sachlage" mit anderen psychischen Erkrankungen "gleichgesetzt" wird. Ein Depressiver hört keine "Stimmen in seinem Kopf" und er glaubt auch nicht von sich, der "Erzengel Gabriel" zu sein ...

Zitat:
Das Gedicht halte ich für gut gelungen. Es vermittelt den Zugang zu einer mir unbekannten Denk- und Gefühlswelt.
Genau das wollte ich erreichen. Vielleicht begegnen durch mein Gedicht nur eine "Handvoll" Menschen depressiv erkrankten Menschen mit einer veränderten Sichtweise, aber das ist mir genug.

Danke für dein Interesse, für deine Gedanken darüber und deine Fragen, die ich sehr gerne beantwortet habe.

Liebe Grüße

Stimme
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Dieser Salon entstammt einer Idee von unserem Forenmitglied Thomas, der sich über jeden Beitrag sehr freuen würde.



Geändert von Stimme der Zeit (11.09.2011 um 10:21 Uhr) Grund: Nachträgliche Ergänzung.
Stimme der Zeit ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.09.2011, 13:49   #7
Thomas
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Hallo stimme der zeit,

danke, dass du so ausführlich erklärt hast. Ich habe nun wohl verstanden, warum du alles so gemacht hast, wie es ist. Das Einfrieren, welches du mit 'den kalten Schichten' benennst, scheint mir von tiefer Bedeutung. Ich denke dein (ver)lustloses Gedicht ist sehr (ge)wichtig.

Liebe Grüße
Thomas
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