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Alt 13.05.2009, 19:14   #1
Seeräuber-Jenny
Gast
 
Beiträge: n/a
Standard Julia

Sechsundzwanzig Jahre ist es her, seit wir uns das letzte Mal sahen. Über ein Vierteljahrhundert - und doch kommt es mir vor, als wäre es erst gestern gewesen.

Ich saß gemütlich im Gasthof "Zum Fuchs" und genoss meinen wohlverdienten Feierabend in schönster Harmonie. Ich hing meinen Gedanken nach, kam ins Träumen. Und in mir erklang leise ein trauriges Lied:

"Schroff ist das Riff und schnell geht ein Schiff zugrunde,
Früh oder spät schlägt jedem von uns die Stunde..."

Plötzlich - ein Schrei! Alle Gäste fuhren zusammen, duckten sich. Julia wirbelte aus der Nacht herein. "Ciaaaoo!" Der Gruß, den sie mir zuwarf, erfüllte den Raum. Vorbei war’s mit dem Trübsinn - Julia war da!

Ein Blondschopf mit frechen blauen Augen, mit Grübchen, die ihr schelmisches Lachen verzauberten, in ihrem abgeschabten braunen Mantel, der an ihr herunterhing wie ein alter Kartoffelsack. Darunter lugten ihre Beine hervor, in schwarzen Strümpfen mit Naht, und ihre Füßchen steckten in feuerroten Stöckelschuhen.

Dieses engelhafte Geschöpf ließ sich an meinem Tisch nieder, lümmelte sich auf die Bank, bestellte ihr erstes Bier und begann zu erzählen: Von Rom, der ewigen Stadt, wo sie mit dem schönen Pietro ewige Flitterwochen genossen hatte. Sie schilderte diese Tage und Nächte voller Leidenschaft in den schillerndsten Farben, und so mancher bösartig klingende italienische Fluch verließ ihre Lippen.

Gelegentlich winselte der Hund Bazi unter dem Tisch, eine einmalige Kreatur aus Dackel und Schäferhund, ein kolossales Tier. Julia dressierte ihn mit einer für sie ungewöhnlichen Geduld, denn er sollte ein Zirkushund werden, der Männchen machen und allerlei Kunststückchen zum Besten geben konnte.

Denn ein Zirkus, das war Julias Traum. Sie berichtete von ihrem Vorhaben, mit einem Eselsfuhrwerk und Bazi im Gepäck als Clown über Land zu ziehen. Hatte sie doch einmal unter Zigeunern gelebt, unter fahrenden Musikanten. Ihre Äuglein blinkten, wenn sie von dieser Zeit schwärmte. Ja, sie fühlte sich selbst als blonde Zigeunerin, sprach von "ihrem Volk".

Manchmal arbeitete Julia für ein paar Wochen, doch nirgends hielt sie es lange aus. Meist reichte ihr Geld gerade mal für zwei Päckchen "Krumme Hunde", ein paar Flaschen Bier und eine Brotsuppe. Jeden Morgen schlüpfte sie mit Taschen voller Pfandflaschen in den kleinen Lebensmittelladen, um sich ihr Morgenbier zu kaufen. Und wenn sie vor die Tür trat, schenkte sie dem jungen Morgen ihr strahlendes Lächeln. Allora - der Tag konnte beginnen!

Wann er endete, war schwer zu sagen. Wenn die Wirtsleute ihre Türen verriegelten, ergab sich immer irgendwo ein improvisiertes Fest. Und Julia war die Zeremonienmeisterin.

Wenn sie tanzte wie im Fieber, die göttliche Julia, dann wurde die tristeste Bude zum glitzernden Revuepalast. Das schäbigste Zimmer wurde zur Theaterbühne, wenn sie begann, in den Kleiderschränken zu wühlen, auf der Suche nach irgendeinem bunten Fetzen, einem alten Hut.

Ja, sie liebte es, sich zu verkleiden, eine Andere zu sein, ihr Publikum in immer neuen Maskeraden zu überraschen. Mal flitzte ein kecker Knabe durch den Raum, mal bat ein altes Weiblein krächzend um Einlass und eine milde Gabe, mal umgurrte eine geheimnisvolle Salome die verdutzten Zuschauer. Julia liebte den Applaus, liebte die Aura, die Künstler umgibt, liebte die Nacht, war selbst ein Kind der schwarzen Nacht.

Einmal las mir Julia die Zukunft aus der Hand. Und als ich sie nach ihrer Zukunft fragte, lachte sie nur und meinte, darüber mache sie sich keine Gedanken. Sie könne ja morgen schon tot sein...

*

Ein Schleier liegt über der Stadt. Die Patrizierhäuser suchen ihre farbenprächtigen Gewänder verschämt im Nebel zu verbergen. Dicke graue Wolken ballen ohnmächtig die Fäuste. Der Wind heult hemmungslos. Leise klagen Vögel in der Ferne. Penner gröhlen Trauerchoräle - für dich, Julia.

In der kalten Erde vermodern die Reste deines jungen Körpers. Deine Glieder, einst schlank und schön, zerschmettert und von Würmern zernagt. Dein Haar, einst golden schimmernd wie die Sonne, verblichen in ewiger Finsternis. Nie mehr werde ich deine Geschichten hören, denn du schweigst für immer.

Ach, Gott – warum nur, warum?

Du sagtest mir doch damals, als ich so verzweifelt war, ein schöner, guter Mensch dürfe sich nicht das Leben nehmen. Und dann konntest du dieses elende Leben selbst nicht mehr ertragen - und sprangst in den Tod.

Im Schoß der Mutter Erde kannst du nun für immer Kind sein - unwissend, unschuldig, unberührt vom großen Sterben der Welt.

Geändert von Seeräuber-Jenny (13.05.2009 um 19:25 Uhr)
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Alt 01.07.2009, 16:17   #2
Chavali
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Registriert seit: 07.02.2009
Ort: Mitteldeutschland
Beiträge: 12.994
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Liebe Jenny,

mich wundert, dass hier noch keiner was dazu geschrieben hat.
Mag sein, dass die Figur Julia ein wenig überzeichnet wirkt, aber solche Menschen gibt es,
die sich niemals anmerken lassen, wie es ihnen wirklich geht.
Dann kommt ein Ende, wie du es hier beschreibst, für Freunde und Familie völlig unvorbereitet.
Vielleicht hätte man ihr helfen können, wenn man es gewusst hätte.
Aber das gerade wollte sie wahrscheinlich nicht.
So bleibt am Ende nur die nicht enden wollende Trauer....

Ich finde, du hast dieses Schicksal spannend geschrieben, wenn ich auch schon ab einer bestimmten Stelle ahnte,
was kommen würde.

Deine Wortwahl gefällt mir, ein Mix aus Bericht und Gefühlen.


Sehr gern gelesen und mitgefühlt.

Lieben Gruß,
Chavali
__________________
.
© auf alle meine Texte
Die Zeit heilt keine Wunden, man gewöhnt sich nur an den Schmerz

*
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Alt 01.07.2009, 16:50   #3
lingua
Schreibattacke
 
Registriert seit: 20.05.2009
Ort: Athen an der Spree
Beiträge: 103
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Hi Piaratin
Ich hab's eigentlich auch gerne gelesen, teils schreibst Du das sehr schön. Einige Stellen allerdings finde ich zu ausgeschmückt, zu polemisch, einiges kannst Du einfach weglassen ...:
Zitat:
Sie könne ja morgen schon tot sein...
Zitat:
Ach, Gott – warum nur, warum?
Zitat:
Und dann konntest du dieses elende Leben selbst nicht mehr ertragen - und sprangst in den Tod.
Zitat:
Deine Glieder, einst schlank und schön, zerschmettert und von Würmern zernagt. Dein Haar, einst golden schimmernd wie die Sonne, verblichen in ewiger Finsternis.
Zitat:
denn du schweigst für immer
.
Ganz persönlich natürlich, dieser Kommentar, ganz persönlich meine Meinung, dass weniger manchmal mehr ist und ohne diese herausgepickten Sätze und Satzteile eine bessere Gesamtwirkung erzielbar wäre.
Ich weiß allerdings auch, dass man als Autor-in an jedem seiner Worte hängt ...
Ansonsten finde ich die Story sehr schön zu lesen, ästhetisch im Stil und Gestus.


Grüße
Lingua
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Alt 02.07.2009, 01:39   #4
Seeräuber-Jenny
Gast
 
Beiträge: n/a
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Ahoi Chavali,

vielleicht hat noch keiner was geschrieben, weil die Prosa nicht mein Metier ist und weil hier auch weniger Prosa gelesen wird als Gedichte.

Ich kannte Julia schon von Kindheit an. Sie war außergewöhnlich. Sie war ein guter Mensch, immer mit offenem Herzen für andere. Sie war sehr sensibel. Doch dann hat sie ihr junges Leben einfach weggeworfen. Erst verfiel sie dem Alkohol, und dann stürzte sie sich vom Dach eines Kaufhauses, vielleicht aus einer Laune heraus.

Sie war morgens noch bei uns gewesen. Wir wechselten ein paar Worte, dann ging sie los. Warum hatte ich nur nichts bemerkt? Ich hätte ihr bestimmt helfen können.

Es gäbe noch so viel zu erzählen, über Julia und die Freunde von damals, in unserem grünen Haus...

Ich werde noch mein Gedicht an Rino reinstellen, der mir die ersten wilden Küsse raubte und später Julias Geliebter war.

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny



Ahoi lingua,

ich gebe zu, der zweite Teil ist sehr dick aufgetragen. Ich hatte das Lamento schon ein wenig umgeschrieben. Vielleicht werde ich den zweiten Teil noch stark verändern.

Allerdings: Haargenau das empfindet die Autorin, wenn sie an ihre Freundin Julia denkt: Verzweiflung und Ohnmacht.

Ästhetisch im Stil und Gestus – aye, das war Julia. Freut mich, wenn der Text ihr angemessen ist.

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny

Geändert von Seeräuber-Jenny (02.07.2009 um 01:45 Uhr)
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Alt 02.07.2009, 09:59   #5
lingua
Schreibattacke
 
Registriert seit: 20.05.2009
Ort: Athen an der Spree
Beiträge: 103
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Hallo Piratin
Nun - wenn es selbst erlebt ist, sind Änderungen noch viel schwieriger, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Ich zeigte - bevor ich einen Text öffentlich las - dem Moderator der Lesung, mit dem ich gut befreundet war, meinen Text. Er schüttelte den Kopf und sagte: ... hey, ich würd's nicht machen, Du musst da noch ganz viel umschreiben, das geht nicht so ...
Ich war verletzt. Bumms-aus, einfach verletzt - war es doch eine wahre Geschichte und unerhört das Erlebte und gehörte gehört ...
Die Lesung verlief nicht gut.
Heute verstehe ich besser, und auch diesen Freund und was er mir sagen wollte. Es ist, so hart das klingt, völlig schnurz, ob wahr oder nicht und ob die Gefühle so gestimmt haben oder nicht und was weiß ich ...
Es ist so keine Literatur. Literatur fängt da an, wo Du schreibst, wenn Du genügend Abstand hast, nicht das Erlebte, sondern eine Geschichte auf der Grundlage des Erlebten zu schreiben. Eine Geschichte aber eben.
Niemand kann die dann so gut schreiben wie Du - bei dieser Voraussetzung.
Man könnte denken, und so war das damals bei mir, es wäre Verrat an der verlorenen Person, wenn man eine 'Geschichte' dazu schriebe.
Das ist eine Gratwanderung bzw. wirklich die Frage, ob Dein Protagonist und Dein 'LyrIch' auch eine Art von Beziehung eingehen können ... irgendwie so
Ja, also ... ich bleibe dabei: weniger ist mehr.
Lieben Gruß
L.

Geändert von lingua (02.07.2009 um 10:05 Uhr)
lingua ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.08.2009, 16:33   #6
a.c.larin
Erfahrener Eiland-Dichter
 
Registriert seit: 14.03.2009
Ort: wien
Beiträge: 4.893
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liebe jenny,

betroffen steht man vor manchen ereignissen und weiß sie nicht zu deuten.
aber vielleicht ist es ja so: manche menschen leben so stark und intensiv - dass sie es irgendwann selbst nicht mehr aushalten können.....
sie verbrennen viel zu rasch, wie eine kerze, die irgendjemand an beiden enden angezündet hat.

und uns bleibt nur das erinnern und die trauer.....

liebe grüße,
larin
__________________
Cogito dichto sum - ich dichte, also bin ich!
a.c.larin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 22.08.2009, 01:22   #7
Eratus Maximus
gwählter Irrtum
 
Registriert seit: 01.03.2009
Ort: Auf dem Palatin
Beiträge: 16
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ahoi Steinbock,

Mal eben in fünf Minuten gelesen und jetzt schon für fünfzehn betroffen....

Bei "ihr Volk" dachte ich auch "öff, immer diese Zigeuener-Romantik, die sind in Wirklichkeit ganz schön unangenehm" sowas hat man in Bruchteilen gedacht und du erzählst einfach weiter. Es gibt einen Punkt wo Stil die Ästhetik überholt und Letzteres mit Ersterem verschmilzt. Herrvorragend gelungen.

Selbsterlebtes hat die meiste Energie und schafft was anders nicht zu schaffen ist.
Mein tiefempfundenes Beileid liebe Jenny.

Polemisch ja aber diesen Begriff würde es ja nicht geben wenn wir alle lau wären. Sehr gut, sehr gut.

GLG nach Mejico
dein Löwe

@a.c.larin

"aber vielleicht ist es ja so: manche menschen leben so stark und intensiv - dass sie es irgendwann selbst nicht mehr aushalten können.....
sie verbrennen viel zu rasch, wie eine kerze, die irgendjemand an beiden enden angezündet hat."

Sehr schön formuliert.
__________________
"Eigentlich müssten wir statt 60 Jahren Grundgesetz, 20 Jahre deutsche Verfassung feiern..."

Hans-Ulrich Jörges, Journalist

"Doch müßte einst gefochten sein,
Und müßte einmal Blut noch fließen,
Dann nicht für die Despoten, nein !
Dann, um die Freiheit zu begrüßen !"

Max Kegel ( 1850-1902 )
Eratus Maximus ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.09.2009, 20:03   #8
Seeräuber-Jenny
Gast
 
Beiträge: n/a
Standard

Ahoi Lingua,

Literatur darf sehr wohl authentisch sein. Und wenn es eine fiktive Geschichte ist, muss sie mit Empathie geschrieben sein. Nur dann vermag sie unser Innerstes zu berühren.

Nein, ich habe die Freundschaft zu Julia nicht verraten. Ich bin sicher, Julia hätte sich gefreut, dass ich ihr ein Denkmal gesetzt habe. So gerät sie nicht so schnell in Vergessenheit, denn sie war ein ganz besonderer Mensch. Und sie lachte gerne, auch über sich selbst.

Danke und lieben Gruß
Seeräuber-Jenny



Aloha larin,

ich denke es ist so, wie du schreibst. Manche Menschen leben so intensiv, dass sie es nicht mehr ertragen können und viel zu früh gehen müssen. Julia war voller Energie. Sie hätte noch so viel bewegen können. Ihr Leben war einfach zu kurz. Auch wenn es unabänderlich ist, ist es nicht in Ordnung.

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny



Ahoi lieber Löwe,

aye, Julia schwelgte selbst in der Zigeunerromantik, mit einem Augenzwinkern natürlich. Ich habe nichts hinzugedichtet, habe sie nur zitiert. So ist unversehens der erste Teil dieser Geschichte entstanden.

Das selbst Erlebte ist es wert, beschrieben zu werden. Es sind Erinnerungen an liebe Menschen und an eine gute Zeit, deren Ideale an Glanz nichts eingebüßt haben.

Lieben Gruß
Steinbock-Jenny
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