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Alt 29.04.2010, 11:49   #1
Chavali
ADäquat
 
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Standard Lieblingsgedichte

Die Füße im Feuer

Conrad Ferdinand Meyer
(1825-1898)



Wild zuckt der Blitz. In fahlem Lichte steht ein Turm.
Der Donner rollt. Ein Reiter kämpft mit seinem Roß,
Springt ab und pocht ans Tor und lärmt. Sein Mantel saust
Im Wind. Er hält den scheuen Fuchs am Zügel fest.
Ein schmales Gitterfenster schimmert goldenhell
Und knarrend öffnet jetzt das Tor ein Edelmann ...

- "Ich bin ein Knecht des Königs, als Kurier geschickt
Nach Nîmes. Herbergt mich! Ihr kennt des Königs Rock!"
- Es stürmt. Mein Gast bist du. Dein Kleid, was kümmert's mich?
Tritt ein und wärme dich! Ich sorge für dein Tier!"
Der Reiter tritt in einen dunklen Ahnensaal,
Von eines weiten Herdes Feuer schwach erhellt,
Und je nach seines Flackerns launenhaftem Licht
Droht hier ein Hugenott im Harnisch, dort ein Weib,
Ein stolzes Edelweib aus braunem Ahnenbild ...
Der Reiter wirft sich in den Sessel vor dem Herd
Und starrt in den lebend'gen Brand. Er brütet, gafft ...
Leis sträubt sich ihm das Haar. Er kennt den Herd, den Saal ...
Die Flamme zischt. Zwei Füße zucken in der Glut.

Den Abendtisch bestellt die greise Schaffnerin
Mit Linnen blendend weiß. Das Edelmägdlein hilft.
Ein Knabe trug den Krug mit Wein. Der Kinder Blick
Hangt schreckensstarr am Gast und hangt am Herd entsetzt ...
Die Flamme zischt. Zwei Füße zucken in der Glut.
- "Verdammt! Dasselbe Wappen! Dieser selbe Saal!
Drei Jahre sind's ... Auf einer Hugenottenjagd ...
Ein fein, halsstarrig Weib ... 'Wo steckt der Junker? Sprich!'
Sie schweigt. 'Bekenn!' Sie schweigt. 'Gib ihn heraus!' Sie schweigt.

Ich werde wild. D e r Stolz! Ich zerre das Geschöpf ...
Die nackten Füße pack ich ihr und strecke sie
Tief mitten in die Glut ... 'Gib ihn heraus!' ... Sie schweigt ...
Sie windet sich ... Sahst du das Wappen nicht am Tor?
Wer hieß dich hier zu Gaste gehen, dummer Narr?
Hat er nur einen Tropfen Bluts, erwürgt er dich." -
Eintritt der Edelmann. "Du träumst! Zu Tische, Gast ..."

Da sitzen sie. Die drei in ihrer schwarzen Tracht
Und er. Doch keins der Kinder spricht das Tischgebet.
Ihn starren sie mit aufgerißnen Augen an -
Den Becher füllt und übergießt er, stürzt den Trunk,
Springt auf: "Herr, gebet jetzt mir meine Lagerstatt!
Müd bin ich wie ein Hund!" Ein Diener leuchtet ihm,
Doch auf der Schwelle wirft er einen Blick zurück
Und sieht den Knaben flüstern in des Vaters Ohr ...
Dem Diener folgt er taumelnd in das Turmgemach.
Fest riegelt er die Tür. Er prüft Pistol und Schwert.
Gell pfeift der Sturm. Die Diele bebt. Die Decke stöhnt.
Die Treppe kracht ... Dröhnt hier ein Tritt? Schleicht dort ein Schritt? ...

Ihn täuscht das Ohr. Vorüberwandelt Mitternacht.
Auf seinen Lidern lastet Blei, und schlummernd sinkt
Er auf das Lager. Draußen plätschert Regenflut.
Er träumt. "Gesteh!" Sie schweigt. "Gib ihn heraus!" Sie schweigt.

Er zerrt das Weib. Zwei Füße zucken in der Glut.
Aufsprüht und zischt ein Feuermeer, das ihn verschlingt ...
- "Erwach! Du solltest längst von hinnen sein! Es tagt!"
Durch die Tapetentür in das Gemach gelangt,
Vor seinem Lager steht des Schlosses Herr - ergraut,
Dem gestern dunkelbraun sich noch gekraust das Haar.

Sie reiten durch den Wald. Kein Lüftchen regt sich heut.
Zersplittert liegen Ästetrümmer quer im Pfad.
Die frühsten Vöglein zwitschern, halb im Traume noch.
Friedsel'ge Wolken schimmern durch die klare Luft,
Als kehrten Engel heim von einer nächt'gen Wacht.
Die dunklen Schollen atmen kräft'gen Erdgeruch.
Die Ebne öffnet sich. Im Felde geht ein Pflug.
Der Reiter lauert aus den Augenwinkeln: "Herr,
Ihr seid ein kluger Mann und voll Besonnenheit
Und wißt, daß ich dem größten König eigen bin.
Lebt wohl! Auf Nimmerwiedersehn!" Der andre spricht:
"Du sagst's! Dem größten König eigen! Heute ward
Sein Dienst mir schwer ... Gemordet hast Du teuflisch mir
Mein Weib! Und lebst ... Mein ist die Rache, redet Gott."
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Alt 29.04.2010, 12:46   #2
Chavali
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Hallo zusammen

hier kann jeder sein Lieblingsgedicht einstellen, vielleicht auch mehrere.
Eine kurze Begründung dazu wäre toll!

Achtet bitte darauf, dass der Verfasser schon mindestens 70 Jahre tot ist -
so will es das Urheberrechtsgesetz.

Für mich sind Die Füße im Feuer eines meiner Lieblingsgedichte.
Es ist an Dramatik kaum zu überbieten und das mag ich
Außerdem hat der Text ein schwieriges Versmaß: er ist in Hexametern geschrieben.
Lieben Gruß,
Chavali
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Geändert von Chavali (29.04.2010 um 20:44 Uhr)
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Alt 03.05.2010, 23:30   #3
ginTon
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ach ja schon lange nicht mehr gelesen,, ein Muss
für alle Liebhaber der Nacht..."Hymnen an die Nacht"

von Novalis



Muß immer der Morgen wiederkommen?
Endet nie des Irdischen Gewalt?
Unselige Geschäftigkeit verzehrt den himmlischen
Anflug der Nacht.

Wird nie der Liebe geheimes Opfer ewig brennen?
Zugemessen ward dem Lichte seine Zeit;
aber zeitlos und raumlos ist der Nacht Herrschaft.

- Ewig ist die Dauer des Schlafs. Heiliger Schlaf -

beglücke zu selten nicht der Nacht Geweihte in
diesem irdischen Tagewerk. Nur die Toren verkennen
dich und wissen von keinem Schlafe, als dem Schatten,
den du in jener Dämmerung der wahrhaften Nacht mitleidig auf uns wirfst.

Sie fühlen dich nicht in der goldnen Flut der Trauben -
in des Mandelbaums Wunderöl und dem braunen Safte des Mohns.

Sie wissen nicht, daß du es bist, der des zarten Mädchens Busen umschwebt
und zum Himmel den Schoß macht - ahnden nicht, daß aus alten Geschichten
du himmelöffnend entgegentrittst und den Schlüssel trägst zu den
Wohnungen der Seligen, unendlicher Geheimnisse schweigender
Bote.
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Ich fühle, also bin ich!

Alles, was einmal war, ist immer noch, nur in einer anderen Form. (Hopi)


nichts bleibt, nichts ist abgeschlossen und nichts ist perfekt... (Wabi-Sabi)
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Alt 04.05.2010, 08:39   #4
Chavali
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....und natürlich

Rainer Maria Rilke

1875 - 1926


Abend

Der Abend wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfahrendes und eins, das fällt:

und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt -

und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)
dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so daß es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.




...so melodisch, so poetisch - wunderbar
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Geändert von Chavali (09.09.2011 um 12:50 Uhr)
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Alt 04.05.2010, 21:29   #5
ginTon
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ich schließe mich hier mal chavi an...muss erst einmal nach den übersetzungen schauen...
Der Träumer (R.M. Rilke)

I

Es war ein Traum in meiner Seele tief.
Ich horchte auf den holden Traum:
ich schlief.
Just ging ein Glück vorüber, als ich schlief,
und wie ich träumte, hört ich nicht:
es rief.


II

Träume scheinen mir wie Orchideen. -
So wie jene sind sie bunt und reich.
Aus dem Riesenstamm der Lebenssäfte
ziehn sie just wie jene ihre Kräfte,
brüsten sich mit dem ersaugten Blute,
freuen in der flüchtigen Minute,
in der nächsten sind sie tot und bleich. -
Und wenn Welten oben leise gehen,
fühlst du's dann nicht wie von Düften wehen?
Träume scheinen mir wie Orchideen. -
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Alt 20.05.2010, 18:41   #6
Chavali
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Standard Theodor Storm

Die Stadt

Am grauen Strand, am grauen Meer
und seitab liegt die Stadt;
der Nebel drückt die Dächer schwer,
und durch die Stille braust das Meer
eintönig um die Stadt.

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
kein Vogel ohn' Unterlass;
die Wandergans mit hartem Schrei
nur fliegt in Herbstesnacht vorbei,
am Strande weht das Gras.

Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
du graue Stadt am Meer;
der Jugend Zauber für und für
ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
du graue Stadt am Meer.



Theodor Storm
14.September 1817 in Husum, +4.Juli 1888 in Hademarschen bei Rendsburg/Holstein


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Alt 21.05.2010, 15:15   #7
ginTon
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Theodor Däubler (17.8.1876-13.6.1934)

Purpurschwere, wundervolle Abendruhe

Purpurschwere, wundervolle Abendruhe
Grüßt die Erde, kommt vom Himmel, liebt das Meer.
Tanzgestalten, rotgewandet, ohne Schuhe,
Kamen rasch, doch sie versinken mehr und mehr.

Furchtbar rot ist jetzt die Stunde. Wutentzündet
Drohen Panther. Grausamfunkelnd. Aufgebracht!
Dieser bleibt: ein Knabe reitet ihn und kündet
Holder Wunder tollen Jubel in die Nacht.

Nacht! der Abend, aller Scharlach mag verstrahlen.
Auch der Panther schleicht im Augenblick davon.
Aber folgt dem Knaben! Sacht, in schmalen Glutsandalen
Tanzt er nackt im alten Takt von Babylon.

Alle Flammen abgeschüttelt? Auf der Füße
Blassen Spitzen winkt und fiebert jetzt das Kind:
Weltentschwunden? Sterne sind die sichern Grüße
Stiller Keuschheit überm Meere, vor dem Wind!

[Das Nordlicht. Genfer Ausgabe. Leipzig : Insel Verlag 1921]
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Geändert von ginTon (21.05.2010 um 15:17 Uhr)
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Alt 18.06.2010, 01:22   #8
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Gerrit Engelke (21.10.1890-13.10.1918)

Schöpfung

Nicht Raum, nicht Zeit, nur Nacht und Nacht.
Nur Nacht, von Nacht noch überdacht.
Ein trächtig Sausen wogend schwoll –

Da! plötzlichgroß ein donnernd »Ich«! erscholl –
Da: Er! – Er saß in Nacht,
Und Er – Er war die Nacht.
Der Anfang war erwacht.
Er saß im Anfangsnacht-Getreibe
Mit schwangerem Hirn und Leibe,
Um Seinen Körper rauchte Schweiß.
Ein helles Strahlen ging aus Seinem Kopf –
Und wurde dicht und hell: zum Silber-Mond-Kreis,
Aus Seinen Augen fiel ein Lichtgetropf:
Und irrte wirr im Dunkel:
Sterngefunkel.

Da scholl es wieder fürchterlich:
Das All-Gebär-Gebrüll: »Ich«!
Da riß Er auf mit Händekrallen Seine Stirn:
Und offen lag in Dampf: das rote Feuer-Hirn!
Er riß ein Stück heraus:
Er ballte eine Kugel draus

Und hielt das Glühen in die Nacht,
Er hing es in den Braus:
Die Sonne war erwacht!

Ein Glühgezisch, das Funken sprühte,
Das heiß die schwere Nacht durchglühte,
Daß Mond und jeder Stern verblühte
Und alles Dunkel schwand.
Hochoben hing der Sonne-Brand.

Da riß Er mit den Händekrallen
Aus Seinem Leib das Alles-Herz!
Schrie »Ich«! und »Ich«! in Dampf und Schmerz –
Und ließ es in die Tiefe fallen –

Er ließ es in die Tiefe fallen
Und setzte Seinen Fuß darauf.
Und setzte Seinen Fuß auf diese Welt
Auf Seine, Seine Welt,
Von Sonne überhellt.

Zum Letzten rief er wieder »Ich«:
Gedehnt und väterlich beschließend,
Als erster Wohlklang aus Ihm fließend,
Und ließ ein Teilchen Zeugungs-Hirn aus Seiner Hand
Tief abwärts fallen auf das neue, runde Land:

Und da! und da: der Same quoll;
Ein Wesen, neues Wesen schwoll:
Und stieg – und stand auf dem Geroll: –
Der Mensch! der Mensch! der Mensch!

Der sah den All-Gebärer nicht!
Er sah das Licht, nur Licht und Licht!
Er hob ergriffen seine Hände hoch,
Ein schäumend Stammeln seinem Mund entflog,
Das große Leuchten bog
Seine Knie –

Da brach aus seinem Munde jäh ein Sang:
Voll Rausch, voll niegehörtem Urwelt-Klang:
Vom wilden Leben hochgeschwellt:
Hinauf! Hinauf!
Zum ersten Tag! Zum Ewig-Tag!
Zum Tag der Welt.
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Geändert von ginTon (18.06.2010 um 01:24 Uhr)
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Alt 18.06.2010, 20:43   #9
Chavali
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Standard das darf nicht fehlen

Johann Wolfgang von Goethe

Der Fischer

Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll,
Ein Fischer saß daran,
Sah nach der Angel ruhevoll,
Kühl bis ans Herz hinan.
Und wie er sitzt und wie er lauscht,
Teilt sich die Flut empor:
Aus dem bewegten Wasser rauscht
Ein feuchtes Weib hervor.

Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm:
"Was lockst du meine Brut
Mit Menschenwitz und Menschenlist
Hinauf in Todesglut?
Ach wüßtest du, wie's Fischlein ist
So wohlig auf dem Grund,
Du stiegst herunter, wie du bist,
Und würdest erst gesund.

Labt sich die liebe Sonne nicht,
Der Mond sich nicht im Meer?
Kehrt wellenatmend ihr Gesicht
Nicht doppelt schöner her?
Lockt dich der tiefe Himmel nicht.
Das feuchtverklärte Blau?
Lockt dich dein eigen Angesicht
Nicht her in ew'gen Tau?"

Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll,
Netzt' ihm den nackten Fuß;
Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll
Wie bei der Liebsten Gruß.
Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;
Da war's um ihn geschehn;
Halb zog sie ihn, halb sank er hin
Und ward nicht mehr gesehn.



(1779)
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Alt 20.06.2010, 18:31   #10
Dana
Slawische Seele
 
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Ich dachte, ich hätte es längst gepostet, mein absolutes Lieblingsgedicht.
Es ist von Hermann Hesse und für mich ganz große Lyrik.
Ich kann in jeder Lebensphase auf den Inhalt Bezug nehmen und annehmen.

Das ist es:


Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
__________________
Ich kann meine Träume nicht fristlos entlassen,
ich schulde ihnen noch mein Leben.
(Frederike Frei)
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