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Bei Vollmond Phantastisches und Science Fiction

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Alt 06.06.2014, 10:08   #1
Sidgrani
Von Raben umkreist
 
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Registriert seit: 27.12.2009
Ort: Am Niederrhein
Beiträge: 1.051
Standard Begegnung

Der Bahnsteig döst im Neonlicht,
die Kälte nagt an meinen Beinen,
der Nebel flutet fahl und dicht,
lässt triste Wände Wehmut weinen.

Dann zittert und vibriert die Luft,
erschreckt ein Heer zerfetzter Streifen,
ein Zug erscheint aus dunkler Gruft
mit einem geisterhaften Pfeifen.

Das Licht der Fenster flirrt vorbei,
verwirrt mir meine müden Sinne,
ich lausch der Räder Litanei,
nur noch ein Schritt, doch halt ich inne.

Gesichter fliehen wie im Traum,
es glückt mir nicht, sie zu erkennen,
sie schaun mich an, ein Blinzeln kaum,
als ob sie meinen Namen nennen.

Der Spuk entschwindet in der Nacht,
ein Zeitungsblatt sinkt auf die Gleise;
aus tiefstem Dämmern aufgewacht,
hör ich ein Singen, fern und leise.
__________________
Alle meine Texte: © Sidgrani

"Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch"

»Erich Kästner«
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Alt 06.06.2014, 10:37   #2
Chavali
ADäquat
 
Benutzerbild von Chavali
 
Registriert seit: 07.02.2009
Ort: Mitteldeutschland
Beiträge: 13.001
Standard

Hei Sid,

das ist so eine Szene wie aus einem Kinofilm:
Ein Obdachloser, Heimatloser oder auch Widerständler der Gesellschaft campiert am oder
auf dem Bahnhofsgelände, vielleicht einer Kleinstadt.
Es ist Nacht und kalt und am liebsten würde er sein Leben beenden.
Ganz kurz zuckt dieser Wunsch verstärkt auf, als sich ein Zug nähert, der mit enormer Geschwindigkeit vorbeirast.
Dennoch vermeint er, Gesichter zu erkennen, die ihn vielleicht verstehen könnten.

Dann ist der Spuk vorbei und er hat es (zum Glück?) nicht geschafft, sich unter den Zug zu werfen...

Mit meisterhaft gesetzten Worten verstehst du es wieder, die Leser in Bann zu ziehen.
Der Fünfstropher im Kreuzreim ist genau der passende äußere Aufbau für das Geschehen.
Man könnte auch eine Kurzgeschichte daraus machen...


Sehr gern gelesen!
Lieben Gruß,
Chavali
__________________
.
© auf alle meine Texte
Die Zeit heilt keine Wunden, man gewöhnt sich nur an den Schmerz

*
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Alt 06.06.2014, 13:16   #3
juli
Gast
 
Beiträge: n/a
Standard Hallo Sid

Ich sehe das so, da sitzt ein Reisender am Bahnhof und schläft fast, er nimmt die Geräusche so nebenher wahr.
Die inneren Lebensängste werden wahr.
Der Reisende sieht im Traum einen Geisterzug.

Das Schreckgespenst rast vorüber und die Wirklichkeit wird wieder wahrgenommen.

Du beschreibst die Szene anschaulich gut nachvollziehbar. Deine Worte ziehen in den Bann.

Gerne mitgedöst
sy
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Alt 07.06.2014, 08:08   #4
Sidgrani
Von Raben umkreist
 
Benutzerbild von Sidgrani
 
Registriert seit: 27.12.2009
Ort: Am Niederrhein
Beiträge: 1.051
Standard

Hei Chavali und sy,

ein Gedicht und zwei voneinander abweichende Interpretationen, das finde ich interessant. Wichtig für mich ist, dass ihr euch beide in einen Bann gezogen fühlt, das gefällt mir.

Als Kurzgeschichte könnte ich mir diese Bahnsteigepisode ebenfalls gut vorstellen.

Danke und liebe Grüße
Sid
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»Erich Kästner«
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Alt 09.06.2014, 17:31   #5
Falderwald
Lyrische Emotion
 
Benutzerbild von Falderwald
 
Registriert seit: 07.02.2009
Ort: Inselstadt Ratzeburg
Beiträge: 9.908
Standard

Moin Sid,

zunächst dachte ich an einen Traum, doch beim zweiten Lesen wusste ich, dass es nicht so einfach ist.

Den Schlüssel zum Text glaube ich am Ende der dritten Strophe gefunden zu haben: "nur noch ein Schritt, doch halt ich inne."

In der ersten Strophe steht eine Person des nachts (im Neonlicht) alleine und im Nebel frierend auf dem Bahnsteig.

In S2 kündigt sich der durchfahrende Zug erst an, dann erscheint er aus der Dunkelheit heraus.

In S3 rattert der Zug am Protagonisten vorbei. Während im Flackerschein aus den beleuchteten Abteilen die müden Sinne verwirrt werden und der Protagonist das eintönige Rollen der Räder vernimmt, weiß er, dass ihn nur noch ein Schritt von seinem Ziel trennt, doch irgendetwas lässt ihn innehalten, ihn auszuführen.

Es sind in S4 wohl die Gesichter der Lebenden, die er durch die Fenster des vorbeirasenden Zuges für einen winzigen Moment erblickt, und die ihn beim Namen zu rufen scheinen, was ihn seine geplante Tat nicht ausführen lässt.

In S5 ist der Zug endlich vorüber und verschwindet wieder in der Dunkelheit. Ein loses Zeitungsblatt wurde in seinem Luftstrom erfasst, aufgewirbelt und sinkt nun auf die Gleise nieder.
Der Protagonist wird sich seiner selbst wieder bewusst und hört in der Ferne nur noch ein fernes und leises Singen, vielleicht das Sirren des sich entfernenden Zuges.

Ich sehe hier also jemanden, der mit der Absicht zum Suizid zum Bahnsteig gekommen ist, diese Tat aber letztendlich nicht ausführen konnte und (zumindest vorerst) wieder ins Leben zurückgekehrt ist.


Gerne gelesen und kommentiert...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald
__________________


Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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Alt 12.06.2014, 05:21   #6
Sidgrani
Von Raben umkreist
 
Benutzerbild von Sidgrani
 
Registriert seit: 27.12.2009
Ort: Am Niederrhein
Beiträge: 1.051
Standard

Hei Falderwald,

du hast die Schlüsselstelle erkannt, so ist es gemeint. Einige Wörter wie z.B. trist, Wehmut, Gruft sollen dabei den Gemütszustand des LI aufzeigen.

Danke für deine sehr ausführliche Beschreibung.

Lieben Gruß
Sid
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»Erich Kästner«
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Alt 19.06.2014, 13:13   #7
Narvik
Erfahrener Eiland-Dichter
 
Registriert seit: 21.03.2009
Ort: Im hohen Norden
Beiträge: 431
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Hallo Sidgrani,

ein eindrucksvolles Gedicht ist das, was tief in die Psyche eines potentiellen Selbstmörders schauen lässt. Es ist m.M.n. gar nicht so leicht, ein solches Vorhaben in die Tat umzusetzen, wie auch deine Zeilen bestätigen können. Der letzte Schritt konnte nicht ausgeführt werden, weil hier eine Begegnung stattfand, die den Selbstmörder noch einmal über das Leben nachdenken ließ, denn er erkannte sich wohl in den vorüber huschenden Gesichtern, die seinen Namen zu nennen schienen.
Das ist nicht nur ein phantastisches, sondern auch ein in seiner Art berührendes Gedicht.

Herzliche Inselgrüße

Narvik
__________________
Nur der fröhliche Mensch allein ist fähig, Wohlgefallen am Guten zu finden. (Kant)
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